Freiheit oder Sicherheit? | Interview mit Ulrike Guérot

Einkaufswagen in TiefgarageFoto: Xavi Cabrera | Unsplash

 

Freiheit oder Sicherheit?

Interview mit Ulrike Guérot

Frau Guérot, Ihr neues Buch heißt „Begräbnis der Aufklärung“. Inwiefern ist die heutige Zeit anti-aufklärerisch?

Die neue Zeit ist „anti-aufklärerisch“, weil sie sich einem eigenartigen „Solutionismus“ verschrieben hat, der im politischen Prozess zumeist „Pragmatismus“ genannt wird. Es geht zumeist darum, schnell Lösungen zu finden, ohne das eigentliche Problem noch einmal kritisch auszuleuchten. Zum Beispiel: Jetzt soll eine App entwickelt werden, die bei Online-Kleiderbestellungen sofort „weiß“, in welcher Größe das gewünschte Produkt geliefert werden muss, damit es passt. Damit soll die Flut an Rücksendungen von Paketen – viele bestellen drei Kleidergrößen zur Anprobe und schicken zwei zurück – eingedämmt werden. Durch „Solutionismus“ in diesem Sinne wird Unvernunft nicht wirklich behoben – also nicht „aufgeklärt“ –, sondern nur bemäntelt. Man könnte ja zum Beispiel im Parlament diskutieren, den Onlinehandel drastisch zu beschränken, dadurch unsere Innenstädte wieder zu beleben und die Verstopfung der Straßen durch Paketlieferanten entgegenzuwirken. Eine „aufgeklärte“ Gesellschaft würde letzteres tun, also bei den Ursachen ansetzen, und die Unvernunft gesellschaftlich verpönen, anstatt ihr durch immer neue Apps zu frönen.

 

Hat sich nach mehr als einem halben Jahrhundert Konsumgesellschaft und in etwa ebenso vielen Jahren neoklassischem Menschenbild (Menschen sind weniger politische Subjekte als vielmehr ökonomische Wesen) ein politisch zu anspruchsloses Verständnis von Freiheit etabliert? Wird Freiheit nur mehr als Konsumfreiheit verstanden: Freiheit ist meine Freiheit, den Flug von Berlin nach New York zu buchen oder mir irgendetwas zu kaufen?

Der stoische Schriftsteller Juvenal schrieb einmal: „Betrachte es als die größte Schandtat, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham; und um des Lebens Willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt, zu verlieren.“ Damit ist eigentlich alles gesagt – und dieser Satz kann natürlich gerade in Zeiten von Corona sehr nachdenklich stimmen. Das beste Buch zum Thema hat der österreichische Philosoph Robert Pfaller geschrieben, der genau dieses Zitat in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat, nämlich die Frage, wofür es sich zu leben lohnt. Setze ich die Freiheit aufs Spiel für das nackte Leben, und überlebe dann, aber in Unfreiheit? Die größten HeldInnen der Geschichte – zum Beispiel Sophie Scholl – sind immer für die Freiheit gestorben, nicht für Sicherheit, und schon gar nicht für Konsum oder Bequemlichkeit.

Wenn „Konsumfreiheit“ (die ja eher ein Konsumzwang ist) als Essenz des Lebens oder Glücklich-Seins betrachtet wird, dann hat man sich von einem politischen Freiheitsbegriff schon weit entfernt, der ja immer den Zweck hat, ein Gemeinwesen zum Wohle aller zu gestalten – und nicht zu machen, was man will. Absurd bzw. das Gegenteil von Freiheit, nämlich Despotismus wird es, wenn man davon ausgeht, dass die Freiheit des Volkes darin besteht, dass es von Gesetzen regiert wird, die ihm Leben und Eigentum garantieren, davon also, dass eine Regierung im Wesentlichen dazu da ist, das Volk zu schützen und ihm bonheur zu garantieren. Wenn alles nur für die Konsumentenfreiheit getan wird, dann erodieren Bürgerrechte – also das Gemeinwohl – schnell, denn als Konsumenten tun wir täglich Dinge, die wir als Bürger nicht wollen können. Bürger sein heißt im Grunde, eine permanente Verzichtsleistung für die Gesellschaft zu erbringen. Denn alleine ist niemand Bürger.

 

Wer demnächst wem was verbieten darf, wie Verbote legitimiert und wie sie kontrolliert werden, dürften drängende Zeitfragen werden, so Ihre Vermutung. Vermeidet man durch die Einführung der CO2-Bepreisung nicht die Diskussion um solche Verbote? Insofern sie de facto nur ein Verbot für jene darstellt, die sich nicht freikaufen können?

Zunächst einmal muss man feststellen, dass das Verbot zutiefst demokratisch ist – aber eben nur, wenn und insofern es für alle gilt. Denn dann und nur dann hat es jene egalitäre Komponente – vor dem Recht sind alle gleich – die die Basis jeder Demokratie ist. Gemeinhin denken wir heute ja schnell, dass Verbote nicht demokratisch sind, dass zum Beispiel der Markt oder steuerliche Anreize die Dinge der Gesellschaft schon regeln. Und wir sind nicht mehr viele rigorose Verbote gewohnt, das Rauchverbot war eines der letzten Verbote, das große gesellschaftliche Folgen bzw. Veränderungen hatte. Aber noch vor rund 100 Jahren waren Verbote große emanzipatorische Errungenschaften der jungen Demokratien, beispielsweise das Verbot von Kinderarbeit und die Einführung des Acht-Stunden-Tags; oder das Korrelativ zum Verbot, die Pflicht, also zum Beispiel die Schulpflicht. Die sozialen Demokratien des 19. und 20. Jahrhunderts sind über diese Kombination aus Verboten und Pflichten entstanden, gerade weil der Markt nicht alles geregelt hat.

Wer heute die drängenden Probleme der Klimakrise – zu hoher Fleischkonsum und generell zu hoher Konsum, zu hoher Energieverbrauch, Kreuzfahrten, Fliegen etc. – allein über den Preis regeln will, sorgt im Grunde für eine Refeudalisierung der Gesellschaft durch die Hintertür: Reiche dürfen sich alles leisten. Eine Demokratie, die von einem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit lebt – der französische Philosoph Etienne Balibar nennt es „Gleichfreiheit“ – kann das nicht überleben. Das hat zum Beispiel der Film „Joker“ gerade sehr plastisch deutlich gemacht.

 

In einer Demokratie sollte die demokratisch legitimierte Politik der Wirtschaft die Richtung vorgeben. Heute sind wir allerdings in der Situation, dass die Etablierung bzw. Steigerung des Wirtschaftswachstums den Rahmen für die Politik bildet. Die Lösung der Probleme (sowohl der sozialen als auch der ökologischen) erwartet man sich hingegen vom technischen Fortschritt. Ist das nicht die Bankrotterklärung demokratischer Politik, gepaart mit einem Wunderglauben an die Technik?

Die französische Philosophin Simon Weil hat bereits in den 1940er-Jahren, von Rousseau’s Gemeinwohl-Begriff ausgehend, formuliert: „Das Kriterium des Guten ist die Wahrheit, die Gerechtigkeit, an zweiter Stelle der Gemeinnutzen. (…) Wenn die Demokratie ein solcher Mechanismus ist, dann ist sie gut, sonst nicht.“ Die Demokratie ist für Simone Weil hier ein Mittel zur Erreichung des gesellschaftlichen Guten, nicht zur Steigerung des Wirtschaftswachstums. Das ist ein wichtiger Unterschied. Dieses Denken findet man heute beispielsweise in den Versuchen, das Bruttoinlandsprodukt als Messgröße für den „Erfolg“ eines Landes durch einen „Well-Being-Indikator“ zu ersetzen. Neuseeland, Island und Schottland haben das 2018 angekündigt und die Idee ist, dass sich Glücklich-Sein eben nicht nur in „Haben“, sondern auch in Bildung, Gesundheit, Zeit oder Fröhlich-Sein messen lässt. Ein Unfall zum Beispiel steigert zwar das BIP – es muss ein neues Auto gekauft werden, der KFZ-Gutachter verdient etc. – aber nicht das Wohlergehen. Ein anderer Irrglaube ist in der Tat, dass die Technik alles „revolutioniert“, zumal sie mehr denn je wie ein Gefängnis daherkommt. Konnte man sich früher aus einem verriegelten Auto noch befreien, indem man das Fenster herunterkurbelte, kann man das in einem hochmodernen Auto nicht mehr, wenn die Elektronik ausfällt: man sitzt buchstäblich in der Falle. Von den digitalen Mausefallen à la Alexa ganz zu schweigen.

 

Francis Fukuyama ist noch von einem globalen und endgültigen Sieg der liberal-marktwirtschaftlichen Demokratie ausgegangen. Ihrer Ansicht nach hat sich hingegen die Marktwirtschaft von der Demokratie losgelöst und sich – Stichwort: China – mit der Autokratie eingelassen. Hätte sich die Demokratie ihrerseits nicht längst von der Marktwirtschaft emanzipieren müssen?

Wir haben lange Jahre gedacht, dass freie Marktwirtschaft automatisch mit Demokratie einhergeht und sehen heute, dass das falsch war. Demokratie heißt im Grunde, Dinge für die Gesellschaft auch dann zu machen, wenn sie sich nicht rechnen. Zumindest darf sich die Demokratie nicht dem BIP unterwerfen. Genau diese Diskussion führen wir ja längst, man denke an den fast legendären Satz von Frau Merkel über die „marktkonforme Demokratie“. In Zeiten von Corona – dies nur en passant – erhält diese Diskussion übrigens gerade noch mal einen ganz anderen Schub: Auf einmal sind viele Dinge möglich, die überhaupt nicht marktkonform sind. China ist sehr marktkonform, aber keine Demokratie. Auch wir in Europa lösen zunehmend die Verbindung zwischen Liberalismus (also Marktkonformität) und Demokratie, wie der Politologe Yascha Mounk in seinem Buch Der Zerfall der Demokratie zeigt: Die EU beispielsweise ist absolut marktkonform, hat aber bei der Durchsetzung des Memorandum of Understanding den demokratischen Willen der Griechen 2015 außer Acht gelassen (Liberalismus ohne Demokratie). Ein marktkonformer Liberalismus scheint also zunehmend nur noch durchzusetzen zu sein, wenn man die Demokratie dafür opfert, und genau das macht China vor: Konsum, aber Unfreiheit. Die meisten stört es nicht einmal… Ob Corona jetzt daran etwas ändert, oder ob wir nachher einfach weitermachen, ist die große Frage.

Ulrike GuérotUlrike Guérot ist Professorin und Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Sie hat außerdem das European Democracy Lab gegründet, einen Thinktank, der sich mit der Zukunft europäischer Demokratie befasst. Ulrike Guérot lebt in Krems und Berlin.

Soeben von ihr erschienen: Begräbnis der Aufklärung. Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit (Picus Verlag, 2020)

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