Lowtech statt Hightech? | Edgar Göll

Lowtech: FahrradanhängerFoto: Markus Spiske | Unsplash

 

Lowtech statt Hightech?

Zukunftsfähige Transformation und frugale Innovation

Text: Edgar Göll

Angesichts einer sich dramatisch verändernden Welt mit zunehmenden ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Risiken bedarf es eines neuen Verständnisses von Innovation. So wird künftig die Entwicklung von robusten, benutzerfreundlichen und wartungsarmen Produkten, die mit geringen Anschaffungs- und Nutzungskosten verbunden sind und leicht recycelt oder in Wirtschaftskreisläufe integriert werden können, eine immer wichtigere Rolle spielen.

Eine zentrale Erkenntnis der jahrzehntelangen Forschungen über den American Way of Life auf der der einen und das Konzept der nachhaltigen Entwicklung auf der anderen Seite lautet, dass der westlich-kapitalistische Lebensstil nicht verallgemeinerbar ist. Dass unsere Lebensweise sich global ausbreitet, ist unmöglich, weil die dafür benötigten Rohstoffe, die Böden, Wasserreserven und Energiequellen nicht ausreichen. Auch die Verschmutzung und das Müllaufkommen würden katastrophale Ausmaße annehmen. Vor diesem Hintergrund sind angemessene Lösungen gefragt und Innovationen sowie neue Technologien spielen dabei eine wichtige Rolle.

Innovationen – aber nachhaltig

Über nachhaltige Innovationen wird seit vielen Jahren geforscht, wenngleich mit unterschiedlichen Bezeichnungen. So wurde im Bereich der „Entwicklungshilfe“ der 1970er-Jahre über „angepasste Technologien“ diskutiert, also Technologien, die in den südlichen „Empfängerländern“ auch unter den lokalen Bedingungen (Klima, Infrastruktur, Kultur, Qualifikation) tatsächlich ihre Aufgaben erfüllen können. Und auch in westlichen Ländern wurde immer umweltbewusster über Produktgestaltung nachgedacht („Ökodesign“).

Edgar Göll
Edgar Göll ist als Forschungsleiter am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in den Bereichen Zukunftsforschung und Nachhaltige Entwicklung tätig. Er ist zudem Lehrbeauftragter für den Masterstudiengang Zukunftsforschung am Institut Futur der FU Berlin.

Einen spürbaren Schub erhielt dieses alternative Denken durch wegweisen- de Publikationen aus den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Darin wurde bereits der Grundgedanke beschrieben, der eine Dekade später zu einer der wesentlichen Fragen für industrialisierte wie auch für schnell wachsende Schwellenländer wurde: Wie können insbesondere die Bedürfnisse der rasant wachsenden neuen Mittelschicht in Schwellenländern (hier vor allem in den BRICS-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) angemessen befriedigt werden – und dies sowohl unter Berücksichtigung der von westlichen Unternehmen in sogenannten Lead-Märkten vorgegebenen Innovations- und damit auch Produktions- und Konsummuster als auch unter Berücksichtigung der ökologischen Grenzen sowie sozialer und ökonomischer Qualitätsstandards?

Aus dieser Fragestellung heraus entwickelte sich das Konzept der frugal technology (auch: frugal engineering oder frugal innovation), das aufgrund seiner Bedeutung in Indien auch als „Gandhian engineering“ bezeichnet wird. „Frugal“ wird dabei im Sinn von „genügsam“ verstanden. Als grobe Definition lässt sich dies als Konzept und Prozess der Reduzierung der Komplexität und der Kosten eines Produkts und seiner Produktion umschreiben. Rajnish Tiwari und Cornelius Herstatt haben frugale Innovationen als innovative Produkte und Dienstleistungen definiert, „die den Einsatz von materiellen und finanziellen Ressourcen im kompletten Produktlebenszyklus von der Entwicklung und Produktion bis hin zur Nutzung und Entsorgung zu minimieren versuchen, um die ganzheitlichen Besitz- beziehungsweise Nutzungskosten bei gleichzeitiger Gewährleistung akzeptabler Sicherheits- und Qualitätsstandards substantiell zu reduzieren“. Frugale Innovationen stehen nach diesem Verständnis für robuste, benutzerfreundliche und wartungsarme Produkte, die möglichst geringe Anschaffungs- und Nutzungskosten zum Ziel haben und leicht recycelbar oder in Wirtschaftskreisläufen integrierbar sind. In zahlreichen Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen gibt es Programme, Abteilungen und Teams, die solche genügsamen Lösungen entwickeln.

Es gibt zahlreiche Beispiele solcher frugalen Produkte. Hierzu gehören langlebige Güter wie der als das „preiswerteste Auto der Welt“ bekannt gewordene und vom indischen Konzern Tata Group entwickelte Tata Nano, der GE 800 EKG-Automat von General Electrics oder auch besondere Laptops für 100 US-Dollar für Schulkinder. Auch Dienstleistungen gehören dazu, wie Ein-Cent-pro-Minute-Telefonate, netzferne Stromversorgung, Mikrofinanzierung oder auch Mobile- Banking-Lösungen in Afrika (zum Bei- spiel das System M-Pesa der kenianischen Mobilfunkfirma Safaricom). Nokia entwickelte für Entwicklungsländer das Nokia 1100 mit einigen wenigen Funktionen und verkaufte davon mehr als 200 Millionen Stück in nur vier Jahren nach seiner Einführung 2003.

Chancen und Risiken

Die zentrale Herausforderung für das Wirtschaften in unseren Gesellschaften besteht darin, mittels einer umfassenden Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung und in Richtung einer wirklichen Green Economy zu kommen. Wie bei allen geplanten Innovationen gilt es auch bei frugalen Technologien, die Chancen und Risiken möglichst genau abzuschätzen. Und speziell die Frage, ob frugale Innovationen einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in Schwellen- wie auch in industrialisierten westlichen Ländern leisten können, wird kontrovers diskutiert und lässt sich nur durch empirische Forschung klären.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass frugale Produkte nicht per se umweltfreundlich sind, jedoch das Potenzial besitzen, zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Dabei ist zu berück- sichtigen, dass nicht nur einzelne Produkte, sondern ganze Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle neu konzipiert werden müssen, damit auch Skaleneffekte zur Kostensenkung sowie Ressourceneinsparungen über die gesamte Wertschöpfungskette erzielt werden können. Dem steht die These gegenüber, dass frugale Innovationen gerade aufgrund von Skaleneffekten und schlechten Emissionswerten eher zu steigenden Belastungen für die Umwelt führen würden. Denn nachhaltige Produkt- und Prozessstandards sind in Schwellenländern nicht in hinreichendem Maße vorhanden und die absehbare Zunahme des Massenkonsums trägt dann entsprechend zu weiteren massiven Umweltschäden bei. Hier stellt sich die Frage, wie dieser Konsum und die damit verbundene Produktentwicklung und Produktion so gestaltet werden können, dass der mit wachsendem Wohlstand zunehmende Ressourcenverbrauch und die damit steigenden Emissionen dennoch innerhalb der planetaren Grenzen gehalten werden können – und ob beziehungsweise inwiefern frugale Innovationen eine Lösung darstellen.

Perspektiven

Die Weltbank forderte 2013 „green base-of-the-pyramid innovations“ zu fördern, also Innovationen, die dem untersten Teil der Welteinkommenspyramide – und mithin auch einem großen Teil der Bevölkerung der Schwellenländer – zugute kommen und die einen Beitrag zu einem umweltverträglichen Wachstum in diesen Ländern leisten. Solche Innovationen sollten der Weltbank zufolge durch zunehmenden Süd-Süd-Handel Ausbreitung erfahren. Allerdings wider- spricht diese Vorstellung der bisherigen Ausbreitung von umweltschonenden Techniken und Produkten, die in der Vergangenheit vor allem von den westlichen „Lead-Märkten“ ausgegangen ist. Dabei spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. So verfügen westliche Staaten über staatliche Förderinstrumente wie beispielsweise die Einspeisevergütung bei Strom, die die Entwicklung von alternativen Energiegewinnungstechniken massiv befördert haben. Darüber hinaus ist die Kaufkraft in diesen Ländern wesentlich höher, wodurch Unternehmen ihre teuer entwickelte Technik zu Preisen anbieten können, die die Investition in Forschung und Entwicklung rechtfertigt. Auch können Öko-Design oder Konzepte wie cradle-to-cradle einen Beitrag zu einem verbesserten Umweltschutz mittels frugaler Innovationen leisten. Dazu kommt, dass die Vermarktungs- und Vertriebsstrukturen in westlichen Ländern hoch entwickelt sind. Diese Voraussetzungen erfüllen viele Schwellenländer nicht.

Auf der anderen Seite zeichnen sich frugale Produkte und Dienstleistungen durch zahlreiche Vorteile aus. Sinnvoll eingesetzt, werden bei Herstellung, Gebrauch und Verbrauch frugaler Produkte sowie der Erbringung beziehungsweise Nutzung frugaler Dienstleistungen deutlich weniger Ressourcen verbraucht als bei ihren Hightech-Counterparts. Des Weiteren ist aufgrund der weitaus geringeren Komplexität der Produkte oftmals die Entsorgung weniger umweltschädlich, denn moderne Verbundmaterialien lassen sich nur schwer und mit hohem Aufwand und entsprechenden Kosten recyceln. Darüber hinaus kommen Unternehmen, die in den nächsten Jahren auf dem globalen Markt bestehen wollen, nicht umhin, Produkte für die neue Mittelschicht in Schwellenländern zu entwerfen, die von zwei bis 13 US-Dollar am Tag leben. Schließlich müssen Unternehmen künftig mit einem beschleunigten und zunehmend turbulenten Umfeld sowie zunehmenden Risiken rechnen, sei es in ökonomischer, politischer, ökologischer, kultureller oder technologischer Hinsicht. Frugale Innovationen und Dienstleistungen können hier dabei helfen, ein Mindestmaß an Krisensicherheit zu gewährleisten, weil sie weniger kompliziert und weniger voraussetzungsvoll sind. Sie können demnach einen Beitrag zu mehr Resilienz von Unternehmen und ganzen Wirtschaftssystemen leisten. Daher sollte sich die Innovationslandschaft auch in Deutschland für eine bewusste und gezielte Förderung derjenigen Produkte und Dienstleistungen öffnen, die zukunftsfähig und robust sind; sie sollte sich künftig intensiv der Entwicklung nachhaltiger frugaler Innovationen widmen. ■

Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHARTIKEL
Martin Jänicke: Entwicklungsländer als Vorreiter der Nachhaltigkeit? Frugale Technik (In: Ökologisches Wirtschaften, 1/2014)
Walter Kahlenborn, Jens Clausen, Siegfried Behrendt, Edgar Göll, (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer Green Economy. Wie die sozialökologische Transformation gelingen kann (transcript Verlag, 2019)
Coimbatore K. Prahalad: Bottom of the Pyramid as a Source of Breakthrough Innovations (In: Journal of Product Innovation Management, 1/2012)
Rajnish Tiwari, Cornelius Herstatt: Frugale Innovationen: Analogieeinsatz als Erfolgsfaktor in Schwellenländern. In: Innovationen durch Wissenstransfer (Verlag Springer Gabler, 2014)
Dieser Beitrag ist in Ausgabe 01/2020 zum Thema INNOVATION in der Rubrik HORIZONT erschienen. In dieser Rubrik denken wir über neue gesellschaftliche Wirklichkeiten und über konkrete Veränderungsmöglichkeiten nach.
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