Neustart Schule | Richard David Precht

Bänke und StühleFoto: MChe Lee | Unsplash

 

Neustart Schule

Text: Richard David Precht

Der „Neustart Schule“ hat wenig mit neuen Laptops  zu tun. Für den großen Umbau zu einer kind- und lerngerechten Schule brauchen wir völlig neue Lernstrukturen und müssen den Schüler*innen den Raum bieten, ihre Stärken und Schwächen im Umgang miteinander kennenzulernen.

Die Coronakrise, so heißt es, zeige viel über unsere Schulen. Einerseits offenbare sie, wie rückständig und unbeholfen die Digitalisierung in unseren Bildungseinrichtungen bislang vorangetrieben worden sei. Und andererseits weise sie voraus in eine Zukunft, in der genau dieser Mangel – nicht zuletzt verstärkt durch die Covid19-Pandemie – behoben sei. Schnelles Internet an allen Orten, Lernsoftware, die tatsächlich funktioniert, und folglich eine viel stärker digitalisierte Schule.

Soweit die allgemeine Bilanz – und so oberflächlich. Denn alles Reden über das deutsche Schulsystem, über Lernen im 21. Jahrhundert scheint demnach allein um technische Fragen zu kreisen. Mehr Geld für die Digitalisierung, mehr Hardware, mehr Speed und schon hat Deutschland viel bessere Schulen. Wer so über die deutsche Bildungsmisere redet, verrät vor allem eins: dass er weder die strukturellen Probleme der deutschen Schulen noch die Digitalisierung richtig verstanden hat!

Das Netz an unseren Schulen mag zukünftig schneller, die Ausrüstung mit Tablets vollständiger, die Lernsoftware reichhaltiger und die Lehrer*innen und Schüler*innen besser trainiert sein: Aus all dem folgt noch lange keine gute Schule. Über den „Neustart Schule“ nachzudenken, bedeutet deshalb, die Krise unseres Schulsystems umfassender zu betrachten und es weit tiefer zu ändern, als es einfach nur technisch aufzurüsten. Zwei zentrale Aspekte gilt es dabei stets zu bedenken: Erstens kann man nicht den Unterricht stärker digitalisieren und dabei an allen alten Lernstrukturen festhalten! Und zweitens: Verrät nicht gerade der Wunsch vieler Schüler*innen, möglichst bald nach dem Lockdown wieder in die Schule gehen zu dürfen, dass hier ganz wesentliche Dinge geschehen, die gerade nicht digital möglich sind?

Lernen – aber wie?

Zum ersten Punkt: Schon vor fast zehn Jahren habe ich dafür plädiert, vor allem jenen Unterricht stärker zu digitalisieren, bei dem der Klassenverband, ja, mitunter die Anwesenheit von Mitschüler*innen überhaupt, nicht förderlich ist. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist der Mathematikunterricht in der Mittelstufe des Gymnasiums. Das Leistungsgefälle ist, wie viele aus eigener Erfahrung wissen, enorm. Mathematik ist ein Begabungsfach wie Sport oder Musik und ein einheitliches Leistungsgefüge eine Illusion. Die Schwächeren drücken das Niveau und werden gleichwohl frustriert; die Starken werden unterfordert und nicht gefördert. Der Mathematiklehrer ist dabei in der undankbaren, geradezu fatalen Situation, allen in der Klassenarbeit die gleichen Aufgaben stellen zu müssen und mit seinem „Stoff“ durchzukommen. Eine solche Veranstaltung ist witzlos und Digitalisierung in diesem Fall tatsächlich eine große Hilfe. Lernsoftwareprogramme mit begnadeten Pädagog*innen erlauben es, den Parcours völlig individuell und im eigenen Lerntempo zu durchlaufen, ohne dass ein unterschiedliches Leistungsniveau das Lernen blockiert. Warum schaffen wir nicht die Klassen in der Mittelstufe ab, lassen Schüler*innen nach Interesse Projekte wählen und behelfen uns beim Pflichtprogramm, wie etwa Mathematik, mit Lernsoftware und individualisiertem Lernen?

Was uns in Mathematik gute Dienste leistet, liefert allerdings keine universelle Blaupause künftigen Lernens und künftiger Schulen. Unsere Bildungseinrichtungen bedarfsgerecht zu machen bedeutet, das, was wir unglücklicherweise noch immer „Fächer“ nennen, einzeln danach zu befragen, welche Rolle Klassenunterricht und Mitschüler*innen dabei spielen. Sich über Romane auszutauschen, geschichtliche Zusammenhänge zu verstehen und auszudeuten, zu musizieren oder Mannschafts-Sport zu treiben, lässt sich weder mit Gewinn vollständig individualisieren noch digitalisieren. Und es liegt für die meisten Schüler*innen, bei einigen Ausnahmen, auch wenig Reiz darin, diese Themen zuhause und/oder allein zu studieren oder zu bearbeiten. In vielen Fällen ist digitales Gerät und sind digitale Lernprogramme also nur Hilfsmittel oder Ergänzungsangebote auf dem Weg zu einer besseren Schule. Sie sind, um es ganz klar zu sagen, eben nicht die bessere Schule selbst. Um den „Neustart Schule“ zu leisten, muss die alte traditionelle Bildungsinstitution sich nicht in erster Linie nach technischer Ausstattung befragen lassen. Die wichtigste Frage lautet noch nicht einmal, welche Fächer und Themen dort zur Pflicht gemacht und wie sie gewichtet werden. Die zentrale Frage ist: Wie wird in der Schule gelernt?

Viele Jahrzehnte Entwicklungspsychologie von Heranwachsenden und ebenso viele Jahre universitärer Lernforschung haben uns gelehrt, dass Neugier und Lernenwollen wichtiger sind als alles andere. Im Mittelpunkt künftiger Schulen müsste demnach die Erhaltung der Neugier stehen. Wie verhindere ich, dass die Neugier der meisten Kinder im Laufe ihrer Schullaufbahn vom ersten Schuljahr bis zum Ende der Schulzeit immer stärker erlischt? Wie bewahre ich den Schatz, den jedes Kind von Natur aus mitbringt, statt ihn, wie meist in unserem Schulsystem, zu zerstören? Nachhaltig motivierende Anreize statt starrer Notensysteme, die spielerische Konkurrenz von Gruppen statt des Bemessens von Leistung an zufällig im Klassenverband zwangsvergesellschafteten Mitschüler*innen wären ein guter Schritt in die richtige Richtung. Anonymität im Beziehungsgefüge von Schüler*innen und Lehrer*innen lässt sich durch das Parzellieren in Lernhäuser mit echter Beziehungskultur verringern. Projekte statt Fächer sind spätestens in der Mittelstufe des Gymnasiums oder im 7. Schuljahr von Real- und Hauptschule sinnvoll. Und Praktiker*innen aus der realen Berufswelt in die Schule zu holen – von KFZ-Mechatroniker*innen über Schriftsteller*innen bis zu Quantenphysiker*innen – ist ein durchaus realistischer Traum.

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Ich und die anderen

An dieser Stelle wird es Zeit, auf den zweiten Punkt einzugehen. Was in der Schule geschieht, ist mehr als von der Bildungsreinrichtung intendiertes Lernen, vorgestanzt neuerdings als „Kompetenzen“. In den Lehrplänen taucht dabei ausschließlich Fachwissen auf (von dem nach Expertenschätzungen zwei bis fünf Prozent dauerhaft memoriert, also gelernt wird) und unterrichtsbezogene Lern-Kompetenzen. Tatsächlich aber lernen Schüler*innen nicht nur den Satz des Pythagoras, die Verfassung der Weimarer Republik und erhöhen ihre Fremdsprachkompetenz – sie lernen vor allem mit sich und anderen umzugehen. Was sind meine Stärken und Schwächen im Umgang mit anderen? Wie ist es um meine Empathie, meinen Gemeinschaftssinn und meine Kooperationsfähigkeit bestellt? Was ist mit meinem Sinn für Fairness? Was mit meiner Selbstreflexion und Fehlerkorrektur? Bin ich charmant oder muss ich lernen es zu werden? Bin ich verlässlich, mitfühlend und rücksichtsvoll? Die größte Herausforderung jedes Menschen, nicht nur als Heranwachsende*r in der Schule, ist das soziale Schach. Schule ist jeden Tag voll von ungeplanten Ereignissen, die ihren Hauptreiz für die allermeisten Schüler*innen ausmacht. Was hier geschieht, ist ein Emergenz-Phänomen: Die Summe der Erfahrungen in der Schule bildet etwas, das mehr ist als die einzelnen offiziell intendierten Lernziele.

Der große Umbau

Zu den größten Stärken von Schule, ja, von Bildungserlebnissen überhaupt, gehört ihre Unberechenbarkeit. Genau das sperrt sie gegen eine zu umfangreiche und durchdringende Optimierung durch Digitalisierung. In einer Schule, in der jeder Schritt geplant und überwacht wird, gedeiht kein Lernen und keine Persönlichkeitsentwicklung. Dieses Wissen im Hinterkopf, lässt sich digitales Lernen behutsam und angemessen einsetzen. Vorausgesetzt wir arbeiten zugleich an dem skizzierten Totalumbau hin zu einer kind- und lerngerechten Schule.

Ist ein solcher Totalumbau nicht nur an wenigen (oft privaten) Vorzeige-Schulen, sondern flächendeckend möglich? Sicher nicht durch einen Umbau von oben durch das Kultus- oder Schulministerium. Anweisungen von oben werden oft genug mit Skepsis und Widerstand aufgenommen, in der Schulpolitik stets begleitet durch den Seufzer „schon wieder eine Reform“! Der Zukunftsweg für den Neustart ist deshalb die Selbstermächtigung der Schulen. Unsere Bildungseinrichtungen brauchen mehr Autonomie und viel mehr Möglichkeiten, sich nach eigenem Gusto zum Besseren verändern zu dürfen.

Für einen solchen Change-Prozess braucht es Mut, Freude, Abenteuergeist und sicher auch professionelle Begleitung. Die Kultusministerien müssen also nicht nur die Leine lockern, an der sie die Schulen gängeln, sondern sie müssen Transformations-Scouts oder Change- Manager*innen bereitstellen, die unseren Schulen zeigen, welche Möglichkeiten zur Veränderung es überhaupt gibt. An guten Ideen und vorbildhaftem Unterricht besteht ja kein Mangel. Doch solche Prozesse der Umgestaltung müssen begleitet werden, um die passenden Lösungen zu finden, sich realistische Ziele zu setzen und große Fehler oder Frustration auf dem Weg zu verringern. Dass es solche Transformations-Scouts gegenwärtig nicht zur Genüge gibt, ist richtig. Der große Umbau zu kind- und lerngerechten Schulen fängt deshalb nicht zuletzt an den Universitäten an mit dem Ziel Change-Manager*innen in der Pädagogik und den Erziehungswissenschaften auszubilden und zu einem Berufsprofil zu machen. Gemeinsam mit erfahrenen Pädagog*innen, die ihre Erfahrungen bei zukunftsweisendem Unterricht einspeisen, könnten sie unseren Schulen helfen, Motivation und Know-how für den Umbau zu gewinnen.

Ist das machbar? Es ist machbar! Fangen wir heute damit an! ■

Dieser Beitrag ist in Ausgabe 2/2021 von agora42 zum Thema STOPP! NEUSTART erschienen.
Richard David Precht ist Philosoph, Publizist, Autor und Moderator. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Zum Thema von ihm erschienen: Anna, die Schule und der liebe Gott (Goldmann Verlag, 2013).
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