Philosophie sorgt für Orientierung und macht deshalb handlungsfähig
von Frank Augustin
Vernunft und Gefühl, sind das die beiden Pole menschlicher Existenz? Und wenn ja, ist es dann so, dass nun, nach einigen mehr oder minder vernünftigen Jahrzehnten, das Pendel Richtung Unvernunft, Richtung Dominanz des Emotionalen ausschlägt? Dass eine Zeit begonnen hat, die durch Politiker wie Donald Trump, durch immer riskantere Geschäfte in der Wirtschaft sowie durch einen egoistischen und hedonistischen Lebensstil gekennzeichnet ist? Das hängt – und jetzt wird’s philosophisch – davon ab, inwieweit man bereit ist, die sogenannte Normalität infrage zu stellen.
Verrückte Normalität
Hält man die vergangenen Jahrzehnte für normal, dann sieht es so aus, als ob wir den sicheren Boden unter den Füßen verlieren und uns moralisch zurückentwickeln würden. Was hieße dies dann für die Praxis? Nun ja, dass man zurückblickt und auch wieder versucht zurückzugehen – zurück in die Zukunft gewissermaßen, die da irgendwo in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts liegt. Wirtschaft soll wieder real werden, das Klima wieder kalkulierbar und Menschen wieder in Kategorien einteilbar.
Vertritt man jedoch den Standpunkt, dass die letzten vier oder fünf Jahrzehnte ziemlich verrückt waren, würde dies etwas völlig anderes für die Beurteilung der Gegenwart und für die künftige Praxis bedeuten. Und ist es nicht verrückt, dass in dieser Periode kindliche Verhaltensmuster wie Selbstüberschätzung, Grenzenlosigkeit (man denke an ungezügelten Konsum und ungebremste Produktion), fehlende Selbstkritik sowie mangelnde Um- und Voraussicht geradezu Leitbildfunktion für die ganze Gesellschaft bekommen haben? Zeigt sich nicht ganz deutlich, dass sich viele „Erwachsene“ für die drängenden Probleme nicht zuständig fühlen und immer mehr dieser „Erwachsenen“ der Ansicht sind, eh nichts am Lauf der Dinge ändern zu können (Stichworte Klimawandel, Umweltverschmutzung und Ungleichheit)? Entspricht dies nicht genau der kindlichen Haltung, der zufolge (natürlich) die Erwachsenen die wichtigen Dinge zu regeln hätten?
Wenn dies so wäre, dann wäre das in der Tat verrückt. Aber dann – Praxis! – bräuchte man nicht krampfhaft versuchen, das Alte zu stabilisieren (und sich dabei zunehmend zu radikalisieren), sondern dürfte alles begrüßen, was dazu beiträgt, diese Zeit zu beenden. Das wäre auch deshalb eine gesunde Haltung, weil man so dem nächsten großen Crash etwas Gutes abgewinnen könnte (jedenfalls, wenn man es aus erwachsener Perspektive betrachtet).
Erwachsensein
Es ist übrigens in der Redaktion immer mal wieder Thema, was denn „Erwachsensein“ eigentlich bedeutet. Diese Frage stellt sich auch – symptomatisch – bei Wikipedia (siehe dort, Stand 23.11.2018), wo die Nutzer um Hilfe bei der Definition der Begriffe „Erwachsensein“ und „Reife“ in den Kulturen der westlichen Welt gebeten werden.
Meine Antwort: Erwachsen ist, wer sich entscheidet, es zu sein. Erwachsen sein heißt, den Schritt zu wagen, sich als selbstständige Person zu begreifen und sich im Zuge dessen für gewisse Werte zu entscheiden. Werte, für die man dann als Person einsteht. Der Erwachsene weiß, dass er sich auf nichts Übergeordnetes oder scheinbar alternativlos Gegebenes berufen kann und die volle Verantwortung trägt – die Verantwortung für alles, was er tut oder lässt. Kinder müssen und dürfen sich auf etwas berufen, müssen und dürfen Gründe suchen für ihr eigenes Verhalten und das Verhalten anderer. Ein Erwachsener muss nichts begründen, er ist selbst der Grund.
Damit sind wir wieder bei der Philosophie. Diese ist nicht bloß Theorie, denn sonst wäre ja, wie Goethe wusste, jeder Philosoph: „Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.“ Philosophisch im eigentlichen Sinn ist hingegen eine Theorie, die überhaupt erst die Grundlage für sinnvolle Praxis schafft. Philosophie sorgt für Orientierung und macht deshalb handlungsfähig. Sie ist gewissermaßen praktischer als die Praxis, weil Praxis ohne ein philosophisches Denken beziehungsweise Umdenken dauernd fehlschlägt, sinnlos und unbefriedigend bleibt.
Sprechen wir drüber!
Solches Denken, das Klarheit schafft und (neue) Sinnräume eröffnet, zeichnet die im ersten Themenbereich versammelten Persönlichkeiten aus. Etwa wenn Richard David Precht darüber spricht, wie wichtig die „Ernährung“ unseres Selbstbilds für den Sinn unseres Lebens ist; oder wenn Birger P. Priddat sagt: „Nur weil wir eine Wissensgesellschaft werden, glauben alle, dass mehr Wissen besser ist, dass man immer schneller immer mehr wissen muss und viele Zertifikate braucht. Und was ist das Resultat in der Praxis? Dort heißt es dann: ‚Vergessen Sie bitte Ihr Wissen, ich zeige Ihnen jetzt mal, wie es wirklich geht.’“; wenn Reinhold Messner den heutigen Freiheitsbegriff als Ausdruck der Unfreiheit entlarvt: „Die allermeisten Menschen unterliegen im Grunde einer Pseudofreiheit. Sie haben gar nicht so viele Möglichkeiten beziehungsweise keine echten Wahlmöglichkeiten. Der Konsum stellt den äußersten Horizont ihrer Wahlmöglichkeiten dar, weshalb die allermeisten schon an den Konsum verloren gegangen sind. Die Möglichkeiten, sich wirklich zu entfalten, sind oft gleich null.“; oder wenn Julia Friedrichs und die 2012 verstorbene Margarete Mitscherlich die heute wirkende Ideologie unter die Lupe nehmen. Sie bringen die in der „Normalität“ verborgene Verrücktheit zum Vorschein – und leisten so wertvolle Hilfe, um neue Formen der gesellschaftlichen Praxis ausfindig zu machen und zu etablieren.