„Gott, Welt, Seele – und Kapitalismus“ von Birger P. Priddat

Gott, Welt, Seele – und Kapitalismus

von Birger P. Priddat

Mit der Aufklärung ist die Ökonomie von einer „beseelten“ zur seelenlosen geworden. Die in der alten, christlichen Welt vorherrschende Spiritualität, also die Vorstellung einer geistigen Verbindung zu einer höheren, göttlichen Ordnung, löste sich auf. Die Hoffnung, im Himmel entschädigt zu werden für ein mehr oder weniger armseliges Leben, wurde eingetauscht für die Option, im Leben selbst Erlösung zu erreichen: Unbegrenztes Wachstum und eine stetige Steigerung des Lebensstandards sollten das Paradies aus dem Himmel auf die Erde holen. Nun aber ist auch dieser Glaube verloren gegangen …

Wenn Adam Smith von der „unsichtbaren Hand“ spricht, welche die Märkte steuere, so meinte er damit die Hand Gottes. Die Wirtschaftswissenschaftler sind sich zwar uneins, inwieweit das stimmen mag, vornehmlich aber deshalb, weil die Geburt des modernen Kapitalismus, dessen Urvater Adam Smith ist, aus der Religion vielen seltsam erscheint – denn der Kapitalismus sei doch eine rationale, effizienzorientierte Veranstaltung. Letztlich aber vergisst man bei einer solchen Betrachtungsweise, dass die natürliche Ordnung, die Smith für die sich ausgleichenden Märkte unterstellt, ein metaphysischer Rest einer theologischen Welt ist, in der Gott alles geschaffen und wohl geordnet hat. Jede Ordnung ist noch die Ordnung Gottes. Oder, teilaufgeklärt, die der Natur. Aber die Ordnung der Natur wiederum ist die Gottes (selbst noch bei Isaac Newton, mit dem Smith befreundet war).
Die Aufklärung arbeitet ein säkularisiertes Weltbild heraus, in dem die Geschichte (wie die Naturgeschichte) selbstständig – ohne Ordnung und Leitung Gottes – operieren kann. Der Historiker Reinhart Koselleck redet von der Sattelzeit (um 1800), in der sich epochale Änderungen vollziehen. Die Welt wird seitdem als Prozess erklärt, der sich ins Unbestimmte, Offene hinein vollzieht. Sie ist nicht mehr durch einen Schöpfungsplan (oeconomia divina) vorherbestimmt (providentia), also unfertig beziehungsweise steigerbar. Es geht nicht mehr darum, darüber zu sinnen, was Gott vor-gesehen hat, sondern darüber, was Menschen aus der Welt machen. Wir reden dann vom Fortschritt.
Adam Smith hat den Fortschritt ökonomisch definiert: als Wachstum mit dem Ziel, den Lebensstandard zu erhöhen. Das armselige Leben aller soll materiell verbessert werden. Die neue Wirtschaft, die erst im 19. Jahrhundert Kapitalismus genannt wird, zeichnet sich durch steigende Produktivität aus. Der „Reichtum der Nationen“ ist vermehrter Güterreichtum, erreicht durch freie Märkte und Arbeitsteilung. Smith war sich gewiss, dass das abendländische Tugendprogramm diese Entwicklung nicht hätte vorantreiben können:

„Wohlstand vs. Tugend“ lautete seine Formel in den Lectures on Jurisprudence. Um Reichtum zu erlangen, müssten wir (vermehrt) auf Tugenden verzichten.

Doch ändert sich noch mehr: Die neue politische Ökonomie kapriziert sich auf das materielle Wohlergehen, die alte theologische Welt hingegen auf die Seele. Das Leben war eher darauf ausgerichtet, es gottgefällig auszuführen, damit die Seele in den Himmel komme – als höchstes Gut. Alle irdischen Reichtümer nützten dafür nichts: Es war eine „oikonomia psychon“ – eine Seelenökonomie.
Bleiben wir für einen Moment bei diesem Gedanken: Gott, der Herr, erscheint als Hausvater einer oeconomia divina, die Novalis noch die „universale Haushaltung Gottes“ nennen konnte. Hier sind alte abendländische Ressourcen im Einsatz: die Haushaltsführung (oikonomia), die dem Hausvater (pater familias, oikosdepotes) obliegt. Die Theologie hat – geprägt durch die Lehre des Apostels Paulus – dieses Motiv für die Schöpfung übernommen: eine (uns heute fast unbekannte) Ökonomie der Schöpfung, die bis vor die Aufklärung galt. Sich in diese Ökonomie der Schöpfung einzufügen, war die Demutspflicht eines jeden Christenmenschen. Sie war gekoppelt an das Versprechen der Erlösung im Himmel (alternativ: der Verdammnis in der Hölle). Dass in der Tiefe des Christentums noch eine andere, nicht herrschaftsbetonte soma/psyche (Körper/Seele)-Transformation eingewoben ist (der sich in Gestalt Jesu selbst für die Menschen opfernde Gott – kein Herrscher, sondern ein Erbarmer), sei nur erinnert.


Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 1/2016 ÖKONOMIE & SPIRITUALITÄT der agora42:

„All die diffusen Begriffe, die wir für die systemischen Wirren unserer Zeit immer wieder zu finden suchen – Kapitalismus, Neoliberalismus, Konsumismus – verbergen doch nur mäßig geschickt, dass wir in ihren verborgenen Erlösungsversprechen eine tief in uns selbst verankerte, ausgesprochen religiös gefärbte Sehnsucht zu befriedigen suchen. Oder suchten …“

Diese Ausgabe ist im Onlineshop erhältlich.


Kapitalismus als Erlösung

Der Kapitalismus hat die Erlösungsfunktion übernommen, nun aber nicht für die Ökonomie der Seelen, sondern für die Ökonomie des materiellen Lebens. Der Seelenpart wurde aus der Ökonomie eliminiert, nicht aber die Erlösungshoffung. Allerdings musste sich dafür die Zeitvorstellung grundsätzlich ändern. Der Tod wurde nicht mehr als ein Phasenübergang in den Himmel verstanden, der die Seelen ewig leben lässt, sondern als ein eindeutiges Ende. Alles, was früher auf die Position post mortem ausgerichtet war, muss jetzt im (kurzen) Leben vollzogen werden. Die Ewigkeit wurde beendet, dafür die Geschichte mit einer potenziell ewigen Zukunft der Weltzeit geöffnet. Erst in eine solche offene Zukunft hinein kann Wachstum, Progression und Steigerung formuliert werden. Dafür muss man im Leben produktiv sein. Wenn das Leben ein Leben auf den Tod hin ist, ist alles aus ihm herauszuholen, was es bieten kann; fast logisch erfolgt daraus ein Maximierungsgebot.

Ende des 19. Jahrhunderts wird der „rational man“ erfunden, der seinen Grenznutzen optimiert. Grenznutzen heißt: bis zur (physischen) Sättigungsgrenze. Die Seele wird durch dieses (ökonomische) System nicht bedient, sie wurde dem (nun privaten) Glauben überlassen.

Das derart entstandene Vakuum wurde dadurch ausgefüllt, dass dem physisch-weltlichen Part die Psyche hinzugefügt wurde. Im Gegensatz zur Seele stirbt die Psyche mit dem Körper. Auch das Wesen der Psyche unterscheidet sich prinzipiell nicht mehr vom Körper: Letztlich geht es darum, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei wird selbst die Psyche noch auf ihre kognitiven Operationen begrenzt, das Unbewusste wird ausgeschlossen. Doch sind, bei aller Rationalisierung, der Glaube und die Hoffnung nicht verschwunden. Sie übertragen sich in die Geschichtsziele: Wachstum, Steigerung des Lebensstandards der einzelnen Menschen wie der Nationen und Fortschritt seien unbegrenzt möglich. Geht man davon aus, dass die Wirtschaft (potenziell unbegrenzt) wachsen könne, folgt daraus, dass erstens prinzipiell alle aktuellen „Erlösungshindernisse“ aus dem Weg geräumt werden können und zweitens diese Hindernisse sogar willkommene Herausforderungen darstellen, aus deren Bewältigung neues Wachstum resultiert.
Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl spricht von einem System der Oikodizee – Leibniz’ Begriff der Theodizee scheint darin auf. Leibniz wollte nachweisen, dass die Schöpfung gut ist, auch wenn das Leid der Menschen sich vermehrt. Irdisches Leid sei Prüfung – eine Chance, seinen Glauben zu beweisen und entsprechend Erlösung im Himmel zu finden. Vogl überträgt diese Idee auf das kapitalistische System: Armut, Krisen und Verluste seien nur Bestätigung des prinzipiellen Wachstumspotenzials. Man muss nur wirklich wachsen wollen! Wir bewegen uns wieder in einem System des Glaubens, in einer Metaphysik des Kapitalismus, wie Norbert Bolz es nennt.

Grenzen des Glaubens

Birger P. Priddat
Birger P. Priddat ist Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der Wirtschaftsfakultät an der privaten Universität Witten/Herdecke und im Beirat der agora42.

Dieser Steigerungsoptimismus wird zunehmend skeptisch betrachtet. Die Zweifler weisen darauf hin, dass wir in jeder erdenklichen Hinsicht (Umweltzerstörung in allen Facetten, Erderwärmung etc.) an Grenzen stoßen. Und sie stellen die Frage, wie man mit begrenzten Ressourcen unbegrenztes Wachstum generieren will. Der Glaube an die Oikodizee verflüchtigt sich; viele erwarten vom Kapitalismus keine Steigerung mehr, sondern bestenfalls die Wahrung des bisher Erreichten (steady state economy oder Nachhaltigkeit). Wir merken, dass wir das Wachstum an die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gebunden hatten. Inzwischen wissen wir, dass sie sehr wohl begrenzt sind. Und nicht nur das: Ihre maßlose Nutzung generiert Feed-Back-Prozesse, die kostentreibend auf uns zurückschlagen. Wir setzen auf die Wissenschaften, um ein „Wachstum der Grenzen“ zu bewirken. Aber manche Prozesse wie die Klimaentwicklung sind nun einmal unumkehrbar und insofern limitierend. Die Hoffnung, dass uns die Natur unaufhörlich ihre „Früchte“ schenkt, kehrt sich in die nüchterne Analyse um, dass die Natur ihre eigenen Prozesse vollzieht, in denen unsere Wünsche und unser Begehren keine Rolle spielen.

In der Wirtschaft wird nur von der materiellen Seite der Ökonomie gesprochen, von Energie, Ressourcen und Gütern. Die psychischen Kosten gehen in die Leistungsbilanzen der Steigerungs-Erlösungs-Ökonomie nicht ein (die seelischen sowieso nicht): Arbeit, Organisation, Produktivität, Innovation und Dynamik haben die Gesellschaften so umgestaltet, dass viele Menschen psychisch überfordert sind, ihre individuellen Perspektiven fallen weg.

Hinzu kommt, dass niemand ernsthaft auf ein ökologischeres, nachhaltigeres Wirtschaften hoffen kann. Denn eine solche Transformation müsste im globalen Maßstab passieren. Die Schwellenländer behalten sich jedoch vor, die gleichen Wachstumswege zu beschreiten, die wir historisch gegangen sind. Etwaige ökologische Bedenken teilen sie; aber erst wenn sie unseren Lebensstandard erreicht hätten, würden gleiche Bedingungen herrschen und man könne sich auf eine für alle verbindliche Öko- und Klimapolitik einigen. Wenn sich an diesen Erwartungshaltungen nichts ändert, werden künftige Klimakonferenzen notwendigerweise scheitern. Selbst wenn wir gute Gründe für solch eine globale Neuausrichtung der Wirtschaft anführen, hat uns unsere eigene Geschichte eine entsprechende Neuausrichtung aus der Hand genommen. Denn diese Geschichte ist Modell für andere geworden, die sie wiederholen wollen (gerade weil sie so erfolgreich war).

Eine neue Seelenökonomie?

Gegen diese Einsichten glauben wir dennoch an eine Version der Fortsetzung dieser Geschichte – wenn auch im Rahmen ökologischer Kalibrierungen. Man sieht das ungeheure Glaubenspotenzial, mit dem wir operieren: Erlösung durch Wissen, Wissenschaft und Technologie. Das ist ein weiteres Zeichen, dass wir der Politik nicht mehr vertrauen, sondern allein der Erlösungsmacht unseres Wissens (wobei wir angesichts der unübersichtlichen Lage noch gar nicht wissen, welches Wissen wir eigentlich benötigen). Gleichsam gibt es eine neue „unsichtbare Hand“. Niemand interpretiert dies als „göttlich“ (obschon viele Menschen angesichts der Komplexität der Welt und dem daraus entspringenden Wunsch nach einfachen Lösungen wieder religiös werden). Aber sie ist funktional äquivalent zur „schöpferischen Macht“ zu sehen, nur das wir das heute „menschlich-kreativ“ nennen würden. Aus dem Erlösungs-Schema sind wir noch nicht ausgetreten; eine zweite Aufklärung steht noch aus.

Die Hoffnung, im Himmel entschädigt zu werden für ein armseliges Leben, haben wir eingetauscht für eine Option, im Leben selbst die Erlösungen zu erreichen. Was aber, wenn das nicht gelingt?

Wenn wir keine Himmel-/Seelen-Option mehr haben, müssen wir in die Therapie (die selbst eine Marktleistung geworden ist). Das heißt, wir müssen individuell damit fertig werden, ohne die institutionellen Erlösungsangebote der Kirchen oder des Glaubenssystems. Die Hoffnung, die Wirtschaft so zu ändern, dass wir in ihr unbeschädigt leben können – das eigentliche Versprechen der Religion des Kapitalismus –, ist mit den sozialistischen Utopien untergegangen. Müssen wir uns also ganz von der Hoffnung auf Erlösung verabschieden? Oder gelingt es uns, eine Wirtschaft zu entwerfen, die materielle wie psychische Güter balanciert? Wie sähe eine hypermoderne „oikonomia psychon“ aus?