Solidarität in der postmigrantischen Gesellschaft | Erol Yildiz

Gesellschaft in BewegungFoto: Timon Studler | Unsplash

 

Solidarität in der postmigrantischen Gesellschaft

Text: Erol Yildiz

Eine postmigrantische Perspektive auf die Gesellschaft einzunehmen, bedeutet nicht etwa, eine neue Fachdisziplin einzurichten, sondern eine offene Denkhaltung einzunehmen sowie eine veränderte Praxis der Wissensproduktion auszuüben. Sie ist verbunden mit einer mehrstimmigen Lesart unserer Lebensrealität, wie der Literaturtheoretiker Edward Said sie in seinen Schriften praktiziert hat.

Said hat in seinen Schriften gezeigt, wie sich in einem hegemonialen Gefüge bestimmte historische Kontinuitäten formieren, indem bestimmte Wissensformen privilegiert, andere Geschichten und Erfahrungen dagegen ausgeblendet werden. Eine postmigrantische Sicht der Dinge bedeutet, das Ausgelassene, das Unterdrückte und Verschwiegene in den Blick zu nehmen und somit eine andere Entstehungsgeschichte der Gegenwart zu begründen.

Dieser grundlegende Perspektivwechsel verweist auf einen Bruch mit dem etablierten Migrations- und Integrationsdiskurs und ermöglicht uns, historische Entwicklungen und gesellschaftliche Verhältnisse neu zu deuten, andere Denkhaltungen einzunehmen und auf diese Weise eine neue Topografie des Möglichen zu entwerfen.

In diesem Sinne handelt es sich durchaus um einen radikalen Bruch mit den Grundprämissen des herkömmlichen Migrationsdiskurses und seiner kategorialen Trennung zwischen „Uns“ und „Denen“, „Einheimischen“ und „Ausländern“, „Migration“ und „Sesshaftigkeit“. In der konventionellen Migrationsforschung wird der Fokus gewöhnlich auf spezifische Bevölkerungsgruppen („Migranten“) gerichtet, um sie entlang eines Mehrheitsdiskures zu kategorisieren. Damit wird eine künstliche Differenz geschaffen, die in der Wirklichkeit so nicht existiert. Diese Denkart konstruiert also erst eine Realität, die sie dann beobachtet und analysiert. Eine Migrationsforschung, die sich als Forschung über Migranten versteht, ist nicht in der Lage, über binäre Kategorien und Klassifikationen hinauszugehen und eine zeitgemäße, kritische Gesellschaftsanalyse in der globalisierten Welt voranzubringen.

Die postmigrantische Idee lässt etablierte Differenzauffassungen samt ihrer Ausschlusskriterien fragwürdig erscheinen und fördert neue Kombinationen und solidarische Haltungen zutage. Statt das Trennende hervorzuheben und Menschen nach vermeintlichen Gruppenzugehörigkeiten zu sortieren, geht es vielmehr darum, das Gemeinsame, die geteilten Geschichten in den Fokus des weiteren Denkens zu rücken. Jede Gesellschaft, jede Stadt besteht aus Menschen, die da sind. Das ist der Ausgangspunkt – nicht die wertende Unterscheidung zwischen Einheimischen und Zugewanderten.

Geschichten zusammenzudenken, aus der Perspektive und Erfahrung von Migration zu erzählen und dabei marginalisiertes und weithin ausgelassenes Wissen sichtbar zu machen, ist daher eine widerständige und subversive Praxis, eine solidarische Haltung, die postmigrantisches Denken kennzeichnet.

Die Nachfolgegenerationen der Zugewanderten werden ins Blickfeld gerückt, Kinder und junge Erwachsene aus Familien, deren Eltern oder Großeltern eingewandert waren, die selbst aber in Deutschland oder Österreich geboren und aufgewachsen sind. Diese sogenannte postmigrantische Generation erzählt ihre eigenen Geschichten, entwirft ihre eigenen Biografien und entwickelt gemeinsame, solidarische Haltungen.

Die Bezeichnung „Jugendliche mit Migrationshintergrund“, die seit einiger Zeit verwendet wird, sehe ich dagegen problematisch, weil dieses Label, obgleich als politisch korrekt empfunden und für manche positiv konnotiert sein mag, jedoch wieder eine Sondergruppe konstruiert und damit auch eine Sonderforschung legitimiert. Mit dem Begriff „Postmigrantische Generation(en)“ wird der Fokus dagegen auf bestimmte Praktiken und Haltungen gerichtet, die von den betreffenden Menschen unter restriktiven Lebensbedingungen entwickelt wurden.

Miteinander leben lernen statt integrieren

Der Begriff postmigrantische Generation impliziert also auch eine politische Haltung. Es geht um Menschen, die beispielsweise in Deutschland oder Österreich aufgewachsen sind, die jedoch, weil ihre Eltern oder Großeltern eingewandert waren, auf unterschiedliche Art und Weise Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren. Sie versuchen, sich damit auseinanderzusetzen und sich in diesem Spannungsfeld zu positionieren. Aus dieser Spannung geht eine konviviale Kultur hervor, ein Miteinander, das sowohl für solidarische Haltungen als auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt relevant ist bzw. sein kann.

Vor einiger Zeit hörte ich ein Radiointerview, in dem ein Jugendlicher der postmigrantischen Generation wieder einmal gefragt wurde, ob er sich integriert fühle. „Nein danke! Ich war schon integriert“, entgegnete er schlagfertig. Diese Situation steht sinnbildlich für die Paradoxie des Integrationsdiskurses. Geradezu reflexartig wird in Politik und Medien davon ausgegangen, dass Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, bestimmte Integrationsleistungen erbringen müssten. „Woher kommst du eigentlich“, ist die floskelhafte Frage, die sie immer wieder zu hören bekommen. Der Titel des aktuellen Buches der Journalistin Ferda Ataman aus Berlin „Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!“ (2019) spielt ebenfalls auf solche alltäglichen Befragungssituationen und Herkunftsdialoge an.

Postmigrantische Generationen entwickeln unter restriktiven Bedingungen gemeinsame Lebensstrategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Aus dieser Auseinandersetzung gehen neue biografische Konstruktionen hervor, die einerseits individuell lebensnotwendig erscheinen und andererseits gemeinsames Handeln hervorbringen. Solche solidarischen Handlungen gewinnen aus dem jeweiligen Lebenszusammenhang der Betreffenden an Plausibilität. Diese jungen Menschen nehmen keine defensive Haltung mehr ein, wie zumeist noch ihre Eltern oder Großeltern, sondern eine offen solidarische und emanzipative. Sie beanspruchen gesellschaftliche Zugehörigkeit und scheinen oftmals paradoxerweise in ihren Selbstbildern genau jene negativen Zuschreibungen zu übernehmen, die in der Gesellschaft als Ausschlussmechanismen fungieren. Diese werden jedoch – auf provokative Weise oder in ironischer Umkehrung – positiv besetzt und als gemeinsame Basis für ihren Widerstand gegen Diskriminierung benutzt, wie etwa durch das Bündnis „Kanak Attak“, das „Migrantenstadl“ in München oder die „Unmündigen“ in Mannheim. Negative Zuschreibungen werden durch diese Gruppen übernommen und positiv umgedeutet. Diese Selbstbenennungen wirken irritierend, indem sie hegemoniale Kategorien und Differenzauffassungen unterlaufen und produktiv verändern.

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Staatsbürgerin mit Kopftuch

In den letzten Jahren beobachten wir, dass auch die religiösen Orientierungen unter postmigrantischen Frauen eine widerständige und provozierende Form annehmen können. Wenn etwa ein Kopftuch nicht in erster Linie aus religiösen Motiven heraus getragen wird, sondern demonstrativ als Protest gegen eine Gesellschaft, in der sie nicht als gleichberechtigte Bürgerinnen mit ihren spezifischen Orientierungen anerkannt werden. Auf diese Weise wird gezielt mit offiziellen Grenzziehungen und Differenzsetzungen gespielt und diese verschoben. Vermeintliche Differenzen werden einerseits bewusst markiert, andererseits zugleich infrage gestellt und aufgelöst. Es handelt sich um einen Protest gegen diktierte Eindeutigkeit und Bekenntniszwänge. Die betreffenden Frauen demonstrieren damit auch, dass verschiedene biografische und geografische Bezüge gleichzeitig möglich sind, dass kulturelle und religiöse Praktiken sich permanent im Fluss befinden.

Entscheidend ist jedenfalls, dass diese Frauen die Deutungsmacht selbst übernehmen und sich vehement gegen religiöse wie kulturelle Fremdzuschreibungen wehren.

Studien belegen, dass postmigrantische Generationen aus der ihnen zugewiesenen Sonderrolle heraus versuchen, Möglichkeitsräume zu schaffen, tragfähige Biografien zu entwerfen, eigene Nischen und neue Solidaritätsformen zu finden, die außerhalb nationalstaatlicher Logik zu lokalisieren sind.

Solidarität als Ethik der Konvivialität

Was die Alltagspraktiken und Lebenskonstruktionen der Nachfolgegenerationen vor dem Hintergrund hegemonialer Diskurse und Strukturen betrifft, spreche ich von einer „Ethik der Konvivialität“. Mit der Idee der Konvivialität, die das gemeinsame Denken und Handeln umfasst, werden im Anschluss an Ivan Illich neoliberale Diskurse und ökonomische Strukturen sowie das damit einhergehende Menschenbild des „Homo oeconomicus“ kritisiert. Konkret beziehe ich mich auf Paul Gilroy (2014), der die Idee der Konvivialität auf Migrationserfahrungen übertragen hat. Die konviviale Kultur ist in emanzipatorischen und widerständigen Haltungen des Alltags zu finden. Konviviale Fähigkeiten und Praktiken, die unter einschränkenden Lebensbedingungen entwickelt werden, bleiben im öffentlichen Diskurs meist außen vor. Dabei handelt es sich um wichtige Fähigkeiten und Ressourcen, die Menschen in die Lage versetzen, in einer von Rassismus und Ausgrenzung geprägten Gesellschaft zu leben bzw. zu überleben. Die Sichtbarmachung und Privilegierung konvivialer Ressourcen im alltäglichen Leben kann daher nicht bedeuten, dass diskriminierende und rassistische Strukturen ignoriert werden. Vielmehr gilt es, beide Phänomene zusammenzudenken und neu zu kontextualisieren.

Dennoch sollten postmigrantische Generationen nicht pauschal als widerständige Subjekte stilisiert und damit romantisiert werden. Inwiefern die Einzelnen – trotz widriger Umstände – Wege, Umwege oder Sonderwege finden, um sich angemessen zu verorten und eine Kultur der Konvivialität entwickeln, hängt immer auch von den individuellen und familiären Ressourcen und Netzwerken ab, die sie nutzen können. Es gilt daher, die komplexen gesellschaftlichen Strukturen, in denen sich widerständige Haltungen entwickeln, ernst zu nehmen: Wie Menschen durch und trotz Ausgrenzungserfahrungen emanzipative Praktiken entwickeln und eine Kultur der Konvivialität etablieren, die für das Zusammenleben in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, darauf sollten wir unseren Blick richten. ■

Dieser Beitrag ist in unserer Ausgabe 4/2020 SOLIDARITÄT IN PREKÄROTOPIA im HORIZONT-Teil erschienen. Darin besprechen wir, wie sich andere gesellschaftliche Wirklichkeiten denken und konkrete Veränderungen herbeiführen lassen.
Erol Yildiz
Erol Yildiz ist Soziologe und seit Sommer 2014 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Migration und Bildung“ an der Universität Innsbruck. Er ist Mitglied von Rat für Migration e. V. sowie Vorsitzender der Jury „Preis der Vielfalt“ der Landeshauptstadt Innsbruck. Von ihm zum Thema erschienen: (mit Marc Hill) Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen (transcript, 2018) und (mit Wolfgang Meixner) Nach der Heimat. Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft (Reclam, erscheint 2021).
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHTEXT
Les Back und Shamser Sinha: Multikulturelles Zusammenleben in den Ruinen des Rassismus (Das Argument 318, Heft 4/2016, S. 522-533)
Richard Sennett: Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens (Hanser, 2018)
Erol Yildiz, Florian Ohnmacht: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft: Von der Hegemonie zur Kultur der Konvivialität (Zeitschrift Migration und Soziale Arbeit, 42. Jg. 2020, H. 2, S. 153-160)
ROMAN
Teju Cole: Open City (Suhrkamp, 2012)
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Aus dem Nichts von Fatih Akin (2017)