Auf den Umwegen entsteht das Leben | Interview mit Hartmut Rosa

BeschleunigungFoto: Chris Dickens | unsplash

 

Auf den Umwegen entsteht das Leben

Interview mit Hartmut Rosa (Auszug)

„Jede*r ist seines Glückes Schmied“, bekommt man einerseits zu hören, wenn es um die Frage nach dem guten Leben geht. Andererseits quellen die Buchladenregale über von Ratgebern für ein erfolgreiches und gelingendes Leben. Warum befasst sich eine kritische Theorie der Gesellschaft mit dem guten Leben?

Ob Kritische Theorie generell über das gute Leben nachdenken muss, da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Es gibt Vertreter*innen der Kritischen Theorie, die sagen: „Nein, das soll sie gerade nicht. Kritische Theorie sollte auf das Falsche hinweisen und mehr nicht“ – in Anlehnung an den Adorno-Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Mir wurde vorgeworfen, ich würde die Kritische Theorie um ihr Wichtigstes bringen, nämlich die reine Negativität. Von einer solchen Position versuche ich mich abzusetzen, denn sonst wird Kritik letzten Endes zum wirkungslosen Nörgeln – „Alles ist schlecht und müsste ganz anders sein und der Kapitalismus ist sowieso ganz böse“. Solche Kritik erzeugt überhaupt keine transformativen Energien. Auf den Umwegen entsteht das Leben | Interview mit Hartmut Rosa weiterlesen

Die soziale Frage neu denken | Jörg Soetebeer

"Shut Happens" – SchriftzugFoto: Jason Mowry | Unsplash

 

Die große Bremse

Die soziale Frage neu denken – in schwierigen Zeiten

Text: Jörg Soetebeer | Gastbeitrag

Die Covid-19-Pandemie trifft uns aktuell als Einzelne und als Gesellschaft wie ein kaum je erlebtes Widerfahrnis: Sie verursacht einen Realitätsschock und konfrontiert uns mit sehr grundsätzlichen Fragen unseres Selbstverständnisses sowie unseres gesellschaftlichen Lebens. Dabei wirkt die Pandemie wie eine große Bremse, welche eine seit zweihundert Jahren scheinbar unaufhaltsame Maschine zum Stoppen gebracht hat: den technisch-industriellen Fortschritt seit dem 18. Jahrhundert der Aufklärung. Zugleich erfährt das persönliche und gesellschaftliche Leben durch die Verordnungen kaum vergleichbare Einschränkungen bezogen auf die jüngere Geschichte Deutschlands. Gesellschaftlich eskaliert unter diesen Vorzeichen eine erhitzte Debatte im öffentlichen Raum und in den sozialen Medien – die zunehmend befeuert wird auch durch Demonstrationen über die Bedeutung der Covid-19-Pandemie und die Verordnungen. Damit ist die soziale Frage aus aktuellem Anlass auf der Tagesordnung. Die soziale Frage neu denken | Jörg Soetebeer weiterlesen

Über Zeitwohlstand und kluge Lust

Über Zeitwohlstand und kluge Lust

von Andrea S. Klahre

Entschleunigen. Fritz Reheis hat das Thema zu einer Zeit aufgegriffen, als dieses Wort noch kaum bekannt war. Heute steht es im Duden. Sein Buch Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung, das rund 50.000 Mal verkauft wurde, hat ganz sicher dazu beigetragen. Der Soziologe und Erziehungswissenschaftler über Mut zu Utopien, einen Lebensstil mit richtig verstandener Langsamkeit und “kluge Lust”, eine neue Form des Genießens.

Nachgefragt bei Fritz Reheis

Lieber Professor Reheis, bereits 1996 haben Sie eines der ersten wissenschaftlichen Bücher über die Notwendigkeit zum Entschleunigen geschrieben. Es ist in mehreren Auflagen erschienen und gilt als Klassiker. Seinerzeit haben Sie Mut zur Utopie bewiesen. Was ist aus den Utopien geworden?

Mit Entschleunigungsangeboten lässt sich offenbar viel Geld verdienen. Entschleunigung wird heute mit allem Möglichen verbunden: mit Ratgebern für Zeitmanagement und Work Life Balance, als Lockmittel beim Verkauf von Polstermöbeln, Wellnesswochen und Urlaubsregionen. Leider dient sie dabei meist dazu, die Menschen möglichst schnell wieder fit zu machen für die nächste Runde – für noch effizienteres Beschleunigen. Über Zeitwohlstand und kluge Lust weiterlesen

Der Berg ruft nicht – von Philippe Merz

Der Berg ruft nicht

Text und Fotos von Philippe Merz

Trotz hoher Besiedlungsdichte können wir in Deutschland und Europa noch immer einen Rest an zusammenhängender Natur mit Wäldern, Flüssen, Stränden und Bergen erleben, auch wenn der Großteil davon längst kultiviert und ökonomisch verwertet wird. Wann immer wir diese Landschaften besuchen, sind wir nur selten allein: Allerorten treffen wir Spaziergänger, Jogger, Radfahrer, Badefreudige, Wanderer oder Bergsteiger, die die Natur zu genießen scheinen. Ist also nicht alles in bester Ordnung? In den Städten arbeiten wir in unseren mehr oder weniger sinnstiftenden Jobs, und in der Freizeit erholen wir uns eben in der Natur – oder?

Mir scheint, dass dieses harmonische Bild zwar noch fleißig von Tourismusbehörden und Reiseveranstaltern genährt wird, es in Wahrheit aber weniger zutrifft denn je. Denn wenn wir unser Verhalten in der Natur aufrichtig und selbstkritisch beobachten, offenbart sich, dass wir fast all unsere Bequemlichkeiten und unser Anspruchsdenken, unsere Erwartungen an maximale Erlebnisse bei minimalem Einsatz sowie unsere Sehnsucht nach sozialer Anerkennung längst auf die Natur übertragen haben. Mehr noch: Die Natur scheint diejenige Bühne zu sein, auf der wir diese Bedürfnisse oft am aggressivsten auszuleben versuchen. Besonders markant zeigt sich diese Entwicklung an unserem Umgang mit dem alpinen Raum. Gerade hier können wir daher viel über unser grundsätzliches Verhältnis zur Natur lernen – und zugleich mehr über unsere Sehnsüchte und Widersprüche, als uns lieb sein kann. Der Berg ruft nicht – von Philippe Merz weiterlesen