Die soziale Frage neu denken | Jörg Soetebeer

"Shut Happens" – SchriftzugFoto: Jason Mowry | Unsplash

 

Die große Bremse

Die soziale Frage neu denken – in schwierigen Zeiten

Text: Jörg Soetebeer | Gastbeitrag

Die Covid-19-Pandemie trifft uns aktuell als Einzelne und als Gesellschaft wie ein kaum je erlebtes Widerfahrnis: Sie verursacht einen Realitätsschock und konfrontiert uns mit sehr grundsätzlichen Fragen unseres Selbstverständnisses sowie unseres gesellschaftlichen Lebens. Dabei wirkt die Pandemie wie eine große Bremse, welche eine seit zweihundert Jahren scheinbar unaufhaltsame Maschine zum Stoppen gebracht hat: den technisch-industriellen Fortschritt seit dem 18. Jahrhundert der Aufklärung. Zugleich erfährt das persönliche und gesellschaftliche Leben durch die Verordnungen kaum vergleichbare Einschränkungen bezogen auf die jüngere Geschichte Deutschlands. Gesellschaftlich eskaliert unter diesen Vorzeichen eine erhitzte Debatte im öffentlichen Raum und in den sozialen Medien – die zunehmend befeuert wird auch durch Demonstrationen über die Bedeutung der Covid-19-Pandemie und die Verordnungen. Damit ist die soziale Frage aus aktuellem Anlass auf der Tagesordnung.

Politische Willensbildung und politisches Handeln jonglieren mit Maßnahmen und Verordnungen, von denen niemand genau weiß, wie erfolgreich sie sein werden. Das Handeln muss sich an geringer Sichtweite ausrichten. Dennoch hat man aufgrund historischer Vorbilder sowie zunehmender Erfahrungen mit der Pandemie ein Praxiswissen, das durchaus wirksam zu sein scheint. Kritiker*innen werfen den politisch Verantwortlichen vor, zu tief in Bürger- und Freiheitsrechte einzugreifen; extreme Kritiker*innen leugnen die Pandemie. Man kann sich fragen, ob es Teilen der Empörten und Demonstrierenden tatsächlich um die Sache geht, um Gesundheit und Freiheitsrechte im Zusammenhang humanen Lebensbedingungen in einem demokratischen Gemeinwesen, oder ob es sich nicht doch vielmehr um eine generell gegen unsere gesellschaftliche Ordnung, vielleicht gegen die parlamentarische Demokratie gerichtete diffuse Subkultur handelt, welche sehenden Auges mit sehr bedenklicher weltanschaulicher Couleur kollaboriert (bspw. das Projekt „Verfassungsgebende Versammlung“ – eine von zwei Rechtsextremisten inszenierte „Volksbewegung“).

Ich halte eine Verständigung im Diskurs der parlamentarischen Demokratie für existentiell. Es gibt keine Alternativlosigkeit in Bezug auf das Handeln der Regierung. Gerade deshalb sollte man, so mein Vorschlag, die abgebremste Lage für eine Art Moratorium in möglichst vielen persönlichen und gesellschaftlichen Räumen nutzen, um über die Dynamik des die Krise verursachenden Fortschritts sowie die Formen unseres Zusammenlebens im gesellschaftlichen Gemeinwesen reflektieren und diskutieren zu können.

Unter diesen Vorzeichen halte ich es für weiterführend, die soziale Frage unter dem Gesichtspunkten der individuellen Selbstwirksamkeit, Souveränität und der gesellschaftlichen Resonanz im Sinne eines Gemeinwohls in ihrer wechselseitigen Beziehung neu zu diskutieren.

Ego-Kapitalismus

Ich möchte zunächst einige Gedanken aus unserer Geschichte heraus entwickeln, welche mir bedeutend genug erscheinen, unsere Gegenwart etwas genauer verstehen zu können, um mögliche zukünftige soziale Perspektiven aufzuzeigen.

2013 veröffentlichte Frank Schirrmacher seinen Bestseller Ego. Spiel des Lebens. Er warnte darin vor einer ungezügelten Ökonomie, welche Freiheit und Demokratie bedrohe. Damals war die sogenannte Finanzkrise wenige Jahre alt, die Polarisierungen des Kalten Krieges seit 20 Jahren Geschichte, die dunklen Schattenseiten einer weltweit dominierenden neoliberalen Ökonomie traten immer deutlicher zutage. Schirrmacher beschrieb den homo oeconomicus als das vorherrschende Menschenbild der westlichen Moderne – einen radikalen Egoisten, dessen Verhalten zunehmend von Markt-, Wettbewerbs- und Wachstumsideologie getrieben sei: die Maximierung des Eigennutzes, der kalkulierte Vorteil. Gesellschaftlichen Wandel beschrieb er als durch einen Ego-Kapitalismus manipulierten Prozess, welcher den Fortschritt ganz allgemein und besonders auch die Veränderung der sozialen Gegebenheiten in Gemeinschaften weltweit nach seinem Bilde forme.

Nun hat die zumindest latent verschwörungstheoretische Tendenz und Einseitigkeit in Schirrmachers Erzählung unserer historisch-gesellschaftlichen Lage – berechtigte – Kritik erfahren. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich auch heute vielfach ein Unbehagen artikuliert, welches einer global scheinbar alle Lebensbereiche beherrschenden Ökonomie kritisch begegnet. Die Welt der Moderne und Spätmoderne wird im Zusammenhang dieser Sichtweise als hyperkomplex und unübersichtlich beschrieben. Die Lebensbereiche erscheinen demnach in der Erfahrung des einzelnen Menschen als fragmentiert und ohne erkennbaren Sinn- und Handlungszusammenhang. Fortschritt wird als Beschleunigung erlebt, demgegenüber der einzelne Mensch den Anschluss verliert, weil ihm keine hinreichenden emotionalen und rationalen Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen.

Diesem Verlust an Orientierung und Eingebundenheit korrespondiert im Kontext dieser Lesart spätmoderner Verhältnisse eine egoistische Selbstoptimierung. Eine Ausprägung dieser Haltung kann sein, dass die sich als singulär stilisierende Person die zwischenmenschlichen Resonanzräume egozentrisch formt. Endsolidarisierung, schwindender Zusammenhalt sind die Folgen. Man kann – mit guten Gründen – darüber streiten, ob mit der genannten Motivation die Triebfeder spätmoderner Gesellschaften hinreichend bestimmt sei. Ich denke, es ist jedoch unbestritten, dass damit ein sehr prägnant wirkendes Motiv beschrieben ist.

Das Versprechen der Aufklärung

Ein Blick in die weitere Geschichte lehrt, dass die angedeutete Entwicklung ihre Ursprünge im Zeitalter der Aufklärung unter ganz anderen Vorzeichen hat. Der vernunftbegabte Mensch in seiner individuellen Freiheit und Autonomie (Immanuel Kant), als sozial-gesellschaftliches Wesen, das einem Gemeinwohl verpflichtet ist, das einen wie auch immer gearteten Naturzustand durch eine kulturelle Entwicklung hinter sich gelassen hat (Gesellschaftsvertrag, Jean-Jaques Rousseau) sowie der mögliche ökonomische Wohlstand der Nationen (Adam Smith) wurden in philosophischen Theoriekonzepten begründet und traten ihren historischen Siegeszug in der gesellschaftlichen Praxis an; sie formten die gesamte Moderne. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die großen Ideale der Französischen Revolution! Für die Aufklärung waren diese Ideen und Konzeptionen ein großes Versprechen für die Zukunft. Sollten sich doch durch sie Gesellschaften aus ihren alten politisch-feudalen Zwängen emanzipieren. Der freie Bürger sollte sich eine soziale Eingebundenheit in demokratischen Gesellschaften organisieren, um als Individuum gemäß seiner Möglichkeiten ein selbstbestimmtes, gelingendes Leben entfalten zu können.

Was historisch betrachtet als Optimismus eines besseren Lebens begann, verkehrte sich jedoch zunehmend in sein Gegenteil und wird aktuell nun in der vorher angedeuteten Weise als scheinbar unaufhaltsame bedrohlich-zerstörerische Dynamik des wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Fortschritts erlebt, welche sich zunehmend beschleunigt und dabei den einzelnen Menschen überwältigt, Natur und Umwelt sowie soziale und wirtschaftliche Verhältnisse überformt und beherrscht. Vergessen sind ursprüngliches Menschenbild und soziale Ideen, diese sind in unserer Spätmoderne immer mehr ersetzt durch oben genannte Konkurrenzstrukturen, welche Egoist*innen begünstigen, Gewinner*innen und Verlierer*innen produzieren, aber keine Individualität und Solidarität.

Existentieller Stillstand

Aktuell nun greift die Covid-19-Pandemie in dieses Räderwerk ein und bringt die scheinbar unaufhaltsam beschleunigte Entwicklung zum Stillstand. Auch wenn dieser Stillstand sich bei genauerem Hinsehen in sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten zu bewegen scheint. Nach aktuellen Prognosen (wenn die Statistik denn diesmal zutreffen sollte) schrumpft die Wirtschaftsleistung in Deutschland wohl nur um erstaunlich geringe fünf bis sieben Prozent. Andere viel gravierendere Auswirkungen sind in weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens zu verzeichnen. Kulturelles Leben, Freizeitaktivitäten, privates Leben, berufliche Existenzen sind massiv eingeschränkt, gleichzeitig drohen die pandemischen Herausforderungen, das Gesundheitswesen zu überfordern.

Die ausgelöste Erschütterung unseres Selbstverständnisses kann man genauer verstehen, wenn man sich die von Hartmut Rosa beschriebenen Antriebe unseres ökonomischen und gesellschaftlichen Handels vergegenwärtigt: „vier Momente des Verfügbarmachens – das Sichtbar-, Erreichbar-, Beherrschbar- und Nutzbarmachen von Welt – sind in den Basisinstitutionen der modernen Gesellschaft auf überaus solide Weise institutionalisiert: Die Wissenschaft zielt konstitutiv, ihrer unmittelbaren Definition nach, auf die Vergrößerung der Reichweite des Gewussten; der wissenschaftliche Betrieb beruht nach der Formel W-F-W (vorhandenes Wissen – Forschung – mehr Wissen) auf dem stetig erneuerten Versprechen der Steigerung dieses Horizontes. In der Technikentwicklung geht es dann darum, die wissenschaftlich erschlossenen Weltausschnitte und Möglichkeiten beherrschbar zu machen und auf diese Weise Welt in allen ihren Dimensionen unter Kontrolle zu bringen. Die ökonomische Entwicklung, die ihrerseits dem kapitalgetriebenen Steigerungsprogramm von G-W-G folgt (Geld – Ware – mehr Geld) oder besser: ihm unterliegt, stellt dazu ihrerseits die Ressourcen bereit – nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene, sondern auch für die einzelnen Individuen, die sich die Welt dann konsumtiv durch den Erwerb von Gütern, aber auch von Wissen und Instrumenten privat verfügbar machen. Rechtliche Regelungen und politisch- administrative Apparate schließlich haben die Aufgabe, die sozialen und kulturellen Voraussetzungen und Folgen des Reichweitenvergrößerungsprogramms unter Kontrolle zu bringen, oder genauer: die sozialen Prozesse berechenbar und steuerbar zu machen.“ (Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2020)

Der Einbruch der Pandemie-Realität in vermeintlich beherrschbare ökonomische Verhältnisse wirkt demnach wie eine Kluft, die uns von den im historisch-gesellschaftlichen Fortschritt entwickelten Wissens-, Handlungs- und Sozialisationsmustern abschneidet. Die Covid-19-Pademie bedeutet – zumindest für einen gewissen Zeitraum – die Überwältigung unserer kulturell sowie gesellschaftlich-politisch eingeübten und „erfolgreich“ praktizierten Denk- und Handlungsmuster durch das unverfügbare Widerfahrnis. Es gibt bisher keine erfolgversprechenden Instrumente der Bewältigung, denn im Augenblick versteht noch niemand die biologischen, psychologischen, politisch-ökonomischen und vielfältigen anderen Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Politische Verantwortung muss dennoch in dieser Lage Entscheidungen treffen und handeln; demokratisches Bürgertum muss die grundlegenden Qualitäten humaner Lebensbedingungen eines Gemeinwohls pflegen.

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Üben und über sich hinauswachsen

Die Resonanz-Theorie Hartmut Rosas stellt den Imperativen ökonomischer Funktionalität partizipative Welterfahrungen gegenüber, eine persönliche Beziehungen zu den Dingen der Erfahrung. Ich denke, dass mit solchen Resonanzerfahrungen ein Ansatz verbunden sein kann, individuell bedeutsame Transformationsräume zu entwickeln, welche widerständig zu egoistisch-funktionalen Rollenmustern unserer Ökonomie stehen und gerade in ihrer individuellen Bedeutung neue Formen sozialer Gemeinschaft möglich machen. Um sich aus hoch spezialisierten Produktions- und Arbeitsverhältnissen zu befreien, bedarf es Möglichkeiten der persönlichen Expansion. Solche Überschreitungen ökonomischer Rahmung gelingen in tätigen Selbstbildungsvorgängen, welche nicht unbedingt die erforderlichen Kompetenzen gesellschaftlichen Handelns entwickeln, sondern eine spezifisch individuelle Performance modellieren. Diese Selbstbildung kann man am Beispiel handwerklicher Arbeit veranschaulichen.

Richard Sennett geht in seinem Buch Handwerk der Frage nach, ob und wie bei immer weiter fortschreitender Arbeitsteilung Formen einer individuell und gesellschaftlich sinnstiftenden Tätigkeit möglich sind. Betrachtet man die Hand als ein besonderes menschliches Werkzeug, so greift und begreift sie ihre Objekte zugleich, denn in der sinnlichen Erfahrung erweisen sich diese durchaus als widerspenstig. Die Hand muss ihnen für eine gelingende Tätigkeit die nötige Achtung entgegenbringen. Der Weg der Hand zu einem solchen Können ist Übung als individuelle Praxis. Mit Übung arbeitet man sich am Widerstand der Dinge ebenso ab, wie man am Unvermögen erwacht, wächst und reift, es in Fähigkeiten transformiert. Der lange Atem in der Tätigkeit bildet zugleich Widerstandskraft, Belastbarkeit, Verantwortung, Mut und Stärke. Übung ist damit der Weg einer Selbstbildung, die eigenen Fähigkeiten zu kultivieren; Übung ermöglicht eine Reifung zur Routine, zu Können als Meisterschaft. Man denke bspw. daran, dass die Beherrschung eines besonderen Rhythmus, wie er sich bei der Hammerführung eines Schmiedes finden lässt, erst einen effektiven Arbeitsprozess garantiert. Ein solches souveränes Können verleiht Selbstwert und Würde. Es ist nicht unbedingt an funktionale Notwendigkeiten gebunden, sondern weist Züge eines Spiels im Sinne Friedrich Schillers auf: Man will nicht bloß produzieren, nicht nur gute Dinge machen, sondern – man will die Dinge gut machen.

Produktive Irritationen

Es sind demnach die widerständigen Irritationserfahrungen einer Unverfügbarkeit der Dinge der Welt, welche Resonanz gelingen lassen, denn besonders an solchen Erfahrungen, die uns persönlich wichtig sind, die uns zu schaffen machen, an denen wir uns abarbeiten, entfalten wir unsere Tätigkeit als Individuum. Sie sind uns wichtig, an ihnen entwickeln wir Können, Selbstwert und Empathie zur Welt, zu unserer sozialen Gemeinschaft. Wenn wir gegenüber Unverfügbarkeit nicht in egoistischer Selbstbezogenheit und deren alten Strukturen verharren, bewirkt Selbstwirksamkeit auch resonante Weltbeziehungen. Form und Bedeutung dieser Wechselwirkung von persönlicher und zwischenmenschlicher Erfahrung und Handlung bezeichne ich als Souveränität: Souveränität als aktiv gestalteter Wirkungszusammenhang (Soetebeer, Zwischen Resonanz und Autonomie, 2020).

Die Krisensituation macht uns den Vorschlag, uns aus den stereotypen Rollenmustern unseres Egoismus zu emanzipieren und neue Lebensbedingungen zu gestalten. Souveränität in diesem Sinne ist die Bedingung der Möglichkeit, unser Zusammenleben solidarisch zu gestalten. ■

Dr. Jörg Soetebeer war Schüler der Hiberniaschule in Wanne-Eickel, danach Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhruniversität Bochum. Er war 19 Jahre Oberstufenlehrer an der FWS Eckernförde. Seit 2003 ist er Dozent für bildungstheoretische und pädagogische Grundlagen der Waldorfpädagogik am Waldorflehrerseminar Kiel, Seminarleitung ab 2012. Veröffentlichungen zu Bildung, Philosophie, Germanistik und Pädagogik.
Vom Autor empfohlen:
Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit (Residenz Verlag, 2020).
Richard Sennett: Handwerk (Berlin-Verlag, 2008)
Jörg Soetebeer: Zwischen Resonanz und Autonomie – Überlegungen zu Souveränität aus anthropologischer Sicht im Anschluss an Ernst Cassirer, in: Edwin Hübner, Leonhard Weiss (Hg.): Resonanz und Lebensqualität. Weltbeziehungen in Zeiten der Digitalisierung. Pädagogische Perspektiven (Barbara Budrich, 2020), S. 73-106.

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