Foto: Kelly Sikkema | Unsplash
Teil der Welt
Re-membering Europa: In der Klimakatastrophe verbinden uns die Reaktionen auf das Hochwasser mit der Welt.
Text: Radwa Khaled-Ibrahim
Nachrichten auf Al-Jazeera am 18. Juli 2021. Vor dem Hintergrund der Stimme des arabischen Nachrichtensprechers sehe ich Bilder der Überschwemmungen in Deutschland. Die Meldung danach: Überschwemmungen in Oman. Danach ein Bericht aus dem syrischen Idlib, wo Bäuer*innen gemeinschaftlich auf ihren Äckern Solaranlagen installiert haben.
Einen Tag später erzählen die Kolleg*innen im medico-Büro, dass sich Partnerorganisationen aus Somalia, Indonesien und den Philippinen, aus Sierra Leone, Mexiko und dem Libanon bei ihnen gemeldet und nach dem Wohlergehen des medico-Teams erkundigt haben. „Wir haben die Bilder gesehen, ist alles ok?“ Auch Angehörige aus Ägypten haben angerufen: „Wir konnten kaum glauben, dass die Bilder in den Nachrichten aus Deutschland kommen“ und „Gut, dass der Himmel diesmal an Euch vorbeischoss“, sagen sie. Auf Twitter: Kirchen in Botsuana, der Demokratischen Republik Kongo, Kamerun, Ruanda, Südafrika und Tansania spenden 20.000 Euro für die Fluthilfe in Deutschland.
Ich schalte um. Rennen der Formel 1 in Silverstone. Haben die eigentlich Elektro-Motoren? „Hybrid“, sagt mein Bruder. Der Afro-Brite Lewis Hamilton gewinnt. Ein Banner hängt zwischen den britischen Zuschauer*innen, die Kamera zoomt: „It´s coming home!“ Sie meinen den Pokal.
Ich scrolle durch Facebook. Auch die „Saudi Gazette“ berichtet. Auf dem Bild zur Meldung sieht man zwei Häuser in den Fluten, beziehungsweise: Man sieht die Dachziegel, daneben einen grünen Fleck, wahrscheinlich Überbleibsel einer Baumkrone und einen gelben Fleck. Ich zoome in das Bild. Der gelbe Fleck gehört zur oberen Hälfte der Werbe-Fahne einer Supermarktkette. Sie weht, nur halb über Wasser. Irgendwo in der WG lag noch ein Prospekt der Kette, in dem Grillfleisch zum Spottpreis beworben wurde. Hat die Saudi Gazette unabsichtlich ein Sinn-Bild der gegenwärtigen Situation geliefert? Das Bild einer implodierenden imperialen Lebensweise, eben halb unter Wasser? Dabei sah es doch so gut aus für den grünen Kapitalismus! Green New Deal in den USA, in der EU und in China.
Aber es sieht aus, als wären wir schon jenseits des Kipppunkts. Es sieht so aus, als würde der Planet schneller altern und sterben als vorhergesehen, schneller als die schlimmsten Befürchtungen. Wirkt gar nicht so, wenn man den Green New Deal der EU-Festung betrachtet, der die Möglichkeit suggeriert, zusammen zu (über)leben. Klimaneutralität + Wirtschaftswachstum + soziale Gerechtigkeit. Auch hybrid. Gemeint ist eine sozial ausgeglichene Transformation der Volkswirtschaften, die es sich leisten können. In den Staaten, die „systemrelevant“ sind. Nicht eingerechnet werden die menschlichen Kosten an „anderen“ Orten, auf denen diese Transformation aufbaut und ohne die sie nicht möglich wäre. Einfach nicht mitgedacht. Sie werden als gegeben angenommen in der Formel der Transformation, die die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems grün anmalt.
Green New Deal oder Grüner Neokolonialismus?
Ein Beispiel, um es plastischer zu machen: Die philippinische Klima-Journalistin und ehemalige Programm-Managerin des Klimagerechtigkeits-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Manila, Alanah Torrabla, beschreibt die anstehenden Folgen des chinesischen, des US-amerikanischen und des europäischen Green New Deals auf die Philippinen. Die damit verbundenen Konjunkturpakete deuten auf eine höhere Nachfrage nach Kupfer hin. Alle Technologien, die als „klimafreundlicher“ gelten, benötigen Kupfer. Unter anderem, weil es die Energiemenge, die zur Stromerzeugung benötigt wird, senkt. Man findet Kupfer in allen „grünen“ Motoren und in „grüner“ High-Tech-Elektronik. Zum ersten Mal stieg der Kupferpreis 2018 auf 7000 US-Dollar pro Tonne.
„Wenn die globale Nachfrage steigt, wird ihr mit einer Politik begegnet, die mehr ausländische Investitionen zulässt. Die Bergbauindustrie der Philippinen dient weder unseren Bedürfnissen noch denen unserer Wirtschaft. […] Wenn es mehr Bergbaukonzessionen gibt, kommt es auch zu mehr Menschenrechtsverletzungen. Das ist unsere Befürchtung, denn das Bergbaugesetz der Philippinen enthält derzeit keine starken Maßnahmen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen“, sagt Lia Alonzo, Geschäftsführerin des philippinischen Center for Environmental Concerns (CEC), einer Organisation, die mit Bergbau-Gemeinden und Umweltschützer*innen zusammenarbeitet, im Gespräch mit Alana Torrabla. Es bleibt aber nicht bei dem Kupfer aus den Philippinen. Ähnlich ist es im Kongo wegen des Kobalts und in Chile, Argentinien und Bolivien wegen des Lithiums. Die Rohstoffe werden verschifft, verarbeitet und sollen dann von den „Entwicklungsländern“ importiert werden, um gemeinsam die Energiewende mit grünen Motoren zu schaffen. Die Green New Deals bauen auf ökonomische Abfederung des Wandels nach innen, Ausbeutung und Abschottung nach außen.
Der European Council for Foreign Relations hat es auf dem Punkt gebracht: Der Green New Deal der EU ist vor allem eine außenpolitische Agenda, die die europäische Geopolitik prägen wird. Ziel sei es, „bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen und die Transition in eine wirtschaftliche und industrielle Chance für Europa zu verwandeln.“
Wenn man die Architektur der Konjunkturpakete anschaut, erinnert sie an die Häuser der Kolonialzeit in Kairo oder Kolkata – in Ägypten wurde ihr Stil euphemistisch „Belle Époque“ genannt. Diese Häuser wurden so gebaut, dass die Kolonialherr*innen sowie die zu Diener*innen gemachten Menschen zusammen in einem Haus wohnen konnten. Allerdings lebten sie in Parallelwelten. Räume, Treppen und Gänge waren geschickt voneinander getrennt, so dass die Kolonialherr*innen nur die Ergebnisse der Arbeit zu Gesicht bekamen, der Prozess der Arbeit und die Arbeiter* selbst aber unsichtbar gemacht wurden. Dann kam der Wasserschaden.
Mitteleuropa ist Teil der Welt
Der Wasserschaden wurde nicht jetzt erwartet und nicht so. Mit Warnungen wurde offenbar grob fahrlässig umgegangen. Diese Ignoranz bringt die imperiale Arroganz zum Vorschein. Der Mythos der europäischen Moderne löst sich im Flutwasser. „Die deutsche Sprache kennt kaum Worte für die Verwüstung, die hier angerichtet ist“, sagte Merkel bei einem Besuch des Überschwemmungsgebiets im rheinland-pfälzischen Schuld. Zumindest für einen Moment ist Europa plötzlich und unfreiwillig ein Teil der Welt geworden. Die Logik der Klimakatastrophe unterscheidet nicht zwischen vermeintlich systemrelevanten und irrelevanten Ländern. Und außerdem ist die Lage der Welt den Deals längst voraus.
Dieser Moment, so flüchtig und brüchig er ist, birgt etwas in sich. Er war ein Blick in eine mögliche Zukunft. Die Zukunft einer Welt, die dringend eine (Re-)Konstruktion braucht. Dafür muss Zentraleuropa „re-member-n“. Eine Mischung aus remembering, erinnern, sich kritisch mit der eigenen Geschichte in der Welt beschäftigen, und re-membering, also wieder Mitglied werden.
Re-member-ing Central Europe
Sich erinnern heißt sich ins Labyrinth der eigenen Geschichte zu wagen, sie noch einmal anders zu erzählen, lernend und mit Demut. „Großbritannien hat zwischen 1765 und 1938 umgerechnet rund 45 Billionen Dollar aus Indien abgeschöpft. 45 Billionen Dollar, das entspräche in heutigen britischen Pfund dem 17-fachen des BIP des heutigen Großbritannien“, wie die indische Wirtschaftswissenschaftlerin Utsa Patnaik ausgerechnet hat. Diese Summe floss nicht nur nach Großbritannien selbst, sondern verteilte sich mit dem Beginn der Industrialisierung über Europa, Nordamerika und andere Siedlerkolonien. So kann man darin eine der Wurzeln der heutigen ökonomischen Dominanz „des Westens“ sehen, wie es die internationale Finanzarchitektin Bhumika Muchhala tut. Aus solchen historischen Fakten sollte ein Gefühl der Verantwortlichkeit entstehen. Nicht in schlecht kaschierter, fortgesetzter imperialer Form einer von Europa ausgehenden Rettung der Welt, sondern als Mitglied der Welt.
Wieder Mitglied der Welt zu werden, würde bedeuten sich auf eine Art in die Welt zu fügen, die für alle und alles ein gutes Leben ermöglichen kann. Es würde heißen, die Katastrophe eben nicht zu einer „wirtschaftlichen und industriellen Gelegenheit für Europa“ zu machen, wie der European Council for Foreign Relations vorschlägt. Mitglied der Welt zu werden würde bedeuten, die Geschichten der Menschen fortzuschreiben, die sich gegenseitig unterstützten, die Essen verteilten, die gemeinsam ihre Keller auspumpten, die halfen, Schutt beiseite zu räumen. Ob in Ahrweiler, in Lagos oder in Zhengzhou.
Schon heute gibt es diese Verbundenheit der Welt, verkörpert in indigenen Widerstandsbewegungen gegen Öl-Pipelines oder Bergbauprojekte, in den weltweit demonstrierenden Schüler*innen von Fridays for Future, transnationalen Öko-Feminist*innen, in den Besetzer*innen des Dannenröder Forsts oder den Wächter*innen des Lake Poso, um nur einige zu nennen. Sie verkörpern die Möglichkeit einer nicht allzu dystopischen Zukunft.
Dieser Text ist am 22. Juli 2021 im Blog von medico international erschienen.
Radwa Khaled-Ibrahim ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Politik im Maghreb, Mashreq und Golf sowie transnationale Feministin zwischen Deutschland und Ägypten. Zur Zeit ist sie Referentin für kritische Nothilfe bei medico international und Lehrbeauftragte an der Philipps-Universität Marburg.
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