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„Um welches Ziel es in der Ökonomie geht, ist also bestimmbar“
Fragen an Katrin Hirte
Sie attestieren den Wirtschaftswissenschaften „Reflexionsprobleme“ – wo sind die blinden Flecken? Was wird ausgeblendet?
Hier ist es ratsam, von der grundsätzlichen Beziehung zwischen Wissenschaften und ihren Reflexionsleistungen auszugehen: Wissenschaften reflektieren auf das Bestehende und gleichzeitig entwickelt sich das Bestehende ständig weiter. Die Wissenschaften selbst haben beispielsweise mit ihren Expertisen daran auch einen beträchtlichen Anteil und das ist ja auch so gewollt. Der Einfluss der Wissenschaften auf gesellschaftliche Entwicklungen wird mittlerweile als so groß eingeschätzt, dass man von „Wissensgesellschaften“ spricht.
Um diesen Vorgang wissensbeeinflusster Entwicklung zu fassen, hat Anthony Giddens zwischen Konzepten erster und zweiter Ordnung unterschieden. Konzepte erster Ordnung sind in die Praxis umgesetzte Konzepte. Konzepte zweiter Ordnung sind Vorstellungen, die potentiell umgesetzt werden und so zu Konzepten erster Ordnung werden können. Angewendet auf den Bereich der Wirtschaftswissenschaften bedeutet dies: „Konzepte zweiter Ordnung“ sind die Vorstellungen, welche die Wissenschaftsdisziplin Ökonomik über die Bewirtschaftung der Erde – gemeint ist unser Umgang mit Ressourcen – entwickelt. Sie werden zu „Konzepten erster Ordnung“, wenn sie „innerhalb des gesellschaftlichen Lebens angeeignet werden“ (Giddens). Dann bilden diese Konzepte erster Ordnung die Sphäre der Ökonomie, also den Bereich, in dem Bewirtschaftung in bestimmter sozialer Art und Weise stattfindet.
Ein einfaches und einprägsames Beispiel dazu sind die Finanzmärkte als Konzepte erster Ordnung, die sich entwickeln konnten, weil bestimmte Konzepte zweiter Ordnung vorher von den Wirtschaftswissenschaften entwickelt wurden. Das sind vor allem die Konzepte der Finanzoptionen und deren Bewertung, die durch die Black-Scholes-Merton-Formel ermöglicht wurde, das von den drei namensgebenden Professoren (Fischer Black, Myron Samuel Scholes und Robert Carhart Merton) entwickelte finanzmathematische Modell.
Auch wenn institutionalisierte Konzepte erster Ordnung sehr alt sind und weit in die Vergangenheit zurückreichen, so dass es keine gesicherte personelle Zuschreibung gibt – z.B. bei Geld als einem so wesentlichen Instrument – ändert dies nichts an dem hier vereinfacht dargestelltem Grundprinzip, wie Wissen unsere Art zu Wirtschaften verändert. Über diesen Weg formt Wissenschaft Gesellschaft mit.
Genau hier allerdings zeigt sich in der Ökonomik ein grundsätzliches und zugleich doppeltes Reflexionsproblem. Denn erstens wird nicht reflektiert, dass die Ökonomie eine Sphäre institutionalisierter Konzepte erster Ordnung ist und somit eine soziale Organisations- und Regulationsstruktur für Bewirtschaftung. Und zweitens wird folgelogisch nicht reflektiert, dass Ökonom*innen selbst diese Sphäre miterschaffen. Das geschieht auf vielfältigste Weise – ob es um die Bestimmung dessen geht, was ein Bruttosozialprodukt ist, um die Idee, Luftverschmutzung als messbare Emissionen zu einem handelbaren Produkt zu machen oder um die Entwicklung der schon genannten Berechnungsformeln für Finanzmarktprodukte.
Warum nicht reflektiert wird, dass es Konzepte erster Ordnung gibt, die letztlich als soziale Institutionen darüber entscheiden, wie der Mensch den Planeten bewirtschaftet, hat mehrere Ursachen. Zentral dabei sind die dahinterstehenden erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Hier ist vor allem die Annahme ausschlaggebend, dass – ausgerichtet an dem vermeintlichen Ideal exakter Naturwissenschaften – die Aufgabe der Ökonomik darin bestünde, Bestehendes lediglich festzustellen.
Dies zu vertreten gelingt wiederum durch die unreflektierte Gleichsetzung von Bewirtschaften und Ökonomie. Erkennbar ist dies sehr deutlich an der Geschichtslosigkeit in der Ökonomik: Märkte, Handelsbeziehungen oder Institutionen wie Geld sind einfach da, sind irgendwie in unbestimmbarer Vorzeit entstanden, weil der Mensch wirtschaftet. Aber Wirt-schaften bezeichnet (nur) den Vorgang, dass Menschen mit dem haushalten, was sie in die „Bewirtung“ ihrer selbst und ihrer Umwelt einbeziehen. Ökonomie hingegen ist ein sozialer Vorgang, bei dem Konzepte zweiter Ordnung schon zu Konzepten erster Ordnung umgewandelt und somit institutionalisiert wurden, so dass sie als Regelinstrumente dienen. Der Unterschied zwischen Be-Wirt-Schaften und Ökonomie ist schon an der griechischen Wortherkunft Oikonomia erkennbar, womit das regeln (nemein) des Haushaltes (Oikos) bezeichnet wird. Für dieses Regeln nach sozialen Kriterien (Zugehörigkeit, Verteilung, Teilhabe usw.) hat sich der Mensch ein Instrumentarium geschaffen, mit dem dies erfolgt – z. B. über Geld, über Privateigentum, über Institutionen wie Zentralbanken usw.
In der antiken griechischen Vorstellung waren Ökonomie und Gelderwerb voneinander unterschieden – wie soll man sich das denken?
Wie schon ausgeführt, wurde mit Oikonomia von den Griechen der Vorgang bezeichnet, bei dem es darum ging, Haushalte (Oikoi) zu regeln (nemein). Das griechische nemein steht auch für einteilen und behüten. Erst seit der Zeit von Rousseau erfolgte die Verkürzung des Nomia in Oikonomia auf Nomos (Gesetz) – so, als wären auch Gesetze, mit denen die Haushaltsführung geregelt wurde, einfach aus dem Nichts installiert worden. (Auch hier ist wieder das fehlende Bewusstsein für das historische Entstehen erkennbar.) Was aber bei aller Wortdeutung aus Oikonomia hervorgeht, ist die Grundintention, die damit verbunden ist: Es geht um die Regeln, aufgrund derer Haushalte geführt werden, um die Be-wirt-ung ihrer Mitglieder zu realisieren.
Davon unterschieden wurde die Chrematistik, die Kunst des Gelderwerbs. Hier ist nicht der Erwerb um der Bewirtung willen das Ziel, sondern Ziel ist hier das Erzielen von Reichtum und Vermögen. Das Geld, das innerhalb der Oikonomia noch als Werkzeug diente, um zwischen den verschiedenen Hauswirtschaften Austausch zu vermitteln, ist in der Oikonomia also noch ein Mittel. In der Chrematistik ist es hingegen Ziel bzw. Zweck des Erwerbs. Darin besteht der funktionale Unterschied, den schon Aristoteles herausgearbeitet hatte. Geld als Mittel in der Oikonomia wird in der Chrematistik zum (Selbst-)Zweck.
Heute scheint diese Unterscheidung nur in Situationen auf, in denen das mittlerweile institutionalisierte Selbstverständnis des Gelderwerbs erschüttert wird, wie z.B. in der Corona-Krise. Denn genau dann erinnert man sich, dass eine Oikonomia ursprünglich dazu diente, das Bewirtschaften sozial zu regeln und nicht den Gelderwerb. Krankenhäuser z.B. wurden also für den Menschen errichtet und nicht zum Ziel des maximalen Gelderwerbs. Um welches Ziel es in der Ökonomie geht, ist also bestimmbar, während die heute geltende Ökonomik vermittelt, dass man auf diese Unterscheidung verzichten könne, da es in der Ökonomie (nur) um Erwerb an sich gehe.
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Sie attestieren der modernen Ökonomik eine Beharrungstendenz, die sie weder in den Sozialwissenschaften noch in den Naturwissenschaften beobachten. Woher rührt diese Beharrung?
Auch hier geht es wiederum um das erkenntnistheoretische Selbstverständnis in der Ökonomik, dass vor allem in den 1930er Jahren verfestigt wurde. Zu dieser Zeit hatte sich in den Naturwissenschaften mit der Relativitätstheorie Albert Einsteins das Bewusstsein durchgesetzt, dass es gravierende Änderungen zu grundsätzlichen Auffassungen geben kann, die vorher als undenkbar schienen. Mit dem Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn werden solch gravierende Änderungen in unserem grundsätzlichen Weltverständnis auch als Paradigmenwechsel diskutiert.
Damit einher ging in der Physik die Einsicht, dass es bei Gesetzen auf deren Bezüglichkeit ankommt. Der Übergang von den newtonschen Physik (Bewegung von festen, flüssigen und gasförmiger Körper unter dem Einfluss von Kräften, Anm. der Red.) zur einsteinschen Physik (Struktur von Raum und Zeit, Anm. der Red.) zeigte dies deutlich: Die einsteinsche Physik hat die newtonsche zwar „verbessert“, aber innerhalb des newtonschen Bezugsystems wirken die entsprechenden Gesetze weiter, werden entsprechend genutzt und genügen bei entsprechenden Bedingungen auch in ihrer Anwendung. Anders formuliert: Dass Wissen entwickelt wird, heißt eben nicht, dass neues Wissen das alte einfach als „falsch“ ersetzt. Gleichzeitig werden in den Naturwissenschaften gerade grundsätzliche Bezüglichkeiten immer weiter hinterfragt und so gelingt eine Erweiterung unserer Bezugswelten. Einstein verglich den Wissensaufbau in der Physik daher einmal mit übereinander liegenden Schichtungen von Wissen und jede Schicht hat ein entsprechend geändertes und dabei erweitertes Verständnis von Grundbezügen wie z. B. das zu Zeit und Raum.
In den Sozialwissenschaften gilt die Einsicht in diese paradigmatische Veränderbarkeit des Wissens ebenso. Da es hier aber um soziale Tatbestände geht, besteht hier die Herausforderung darin, dass sich die Auffassungen mit den gesellschaftlichen Prozessen mitentwickeln müssen. Gleichzeitig sind die Sozialwissenschaften selbst gestalterisch darin involviert. Wissensentwicklung ähnelt hier also – bildlich gesprochen – mehr einem Aufbauen als einem Vordringen wie in den Naturwissenschaften (auch wenn natürlich wiederum naturwissenschaftliche Wissensschichten aufeinander aufbauen und in den Sozialwissenschaften der Anspruch besteht, Bestehendes verstehend zu durchdringen).
Die heute vorherrschende Ökonomik, die in ihrer Grundausrichtung ebenso in den 1930er Jahren etabliert wurde, als die Physik als sogenannte exakte Wissenschaft ihre größten Erfolge hatte, erkennt diesen Unterschied nicht. So wurden in einseitiger Anlehnung an die Naturwissenschaften gleichzeitig auch Verkürzungen vorgenommen, welche bis heute nachwirken. Sie führten dazu, dass weder das Verständnis für Wissensentwicklung wie in den Naturwissenschaften noch für den Wissensaufbau wie in den Sozialwissenschaften in der Ökonomik zu finden ist. So entstand eine zeit- und damit geschichtslose Ökonomik, die sich als paradigmenfrei und sukzessive fortschrittlich begreift.
Die erste entscheidende Verkürzung in Anlehnung an die Naturwissenschaften bestand in der Annahme, dass in der Ökonomie ebenso wie in der Natur immer geltende Gesetze bestünden, die als „dauerhafte Wahrheiten“ bestehen, wie es z. B. von Samuelson und Nordhaus in ihrem Standardlehrbuch „Volkswirtschaftslehre“ (2016) heißt. Dies seien „Knappheit, Effizienz, der Nutzen der Spezialisierung und das Prinzip der komparativen Kostenvorteile“ und sie werden „Bestand haben, solange die Knappheit von Gütern selbst bestehen bleibt“ (ebenda). Und an letzterer sei ebenso nicht zu rütteln, da ja die Ressourcen des Planeten begrenzt sind – auch hier wird dabei wieder die schon angesprochene Vermengung von Bewirtschaftung und Ökonomie praktiziert. Ein Denken von nicht knappen Gütern (z. B. immaterielle) ist hier ebenso verunmöglicht wie das Bewusstsein fehlt, dass Knappheit ökonomisch hergestellt wird (z. B. über Zugriffsrechte oder Privateigentum), um eine bestimmte Ökonomie (des maximalen Erwerbs) durchzusetzen.
Gleichzeitig übernahm man zweitens die erkenntnistheoretische Vorstellung der Veränderlichkeit von Wissen und dies in der Tradition des Philosophen Karl Popper: Wissen gilt als ewig unsicher und somit ständig als widerlegbar. Hier fehlt nicht nur die oben thematisierte Einsicht in die Bezüglichkeit von Gesetzeszusammenhängen. Sondern zusammen mit der gleichzeitigen Annahme von (im Widerspruch dazu) ewig bestehenden Wahrheiten in Form von Gesetzen, die ebenso gelten sollen, wurden diese zum „Fundament“ erklärt. So verkürzt sich die Entwicklung des ökonomischen Denkens auf eine ständige sukzessive „Verbesserung“ der „modernen“ Ökonomik, die auf ökonomische Gesetze als „dauerhaften Wahrheiten“ fußen soll und deren Geburtsstunde mit Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ schlägt. Die „unsichtbare Hand“ steht stellvertretend für die Selbstregulierung in der Ökonomie, welche man sich in Anlehnung an die Naturwissenschaften denkt – ob als Mechanik, Hydraulik, biologische Auslese usw.
Drittens übernahm man zwar von der Physik das Grundverständnis des empirischen Herangehens, wiederum jedoch verkürzt. An die Stelle der Experimente trat der Einsatz von „Modellen“. Damit wurde nicht nur das ökonomische Modelldenken begründet, sondern diese Modelle wurden selbst wiederum verkürzt und mit Vereinfachung, Reduzierung auf das Wesentliche usw. gleichgesetzt. Damit entzog man sich einerseits der empirischen Feststellungspraxis, die nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern gerade auch in den Sozialwissenschaften notwendig ist. Sondern gleichzeitig ging damit auch das schon oben angesprochene Bewusstsein der Entwicklungen unseres Wirtschaftens verloren, einschließlich der gestalterischen Rolle der Wissenschaften. Deutlich erkennbar war dies z.B., als man im Zuge der Finanzkrise feststellte, dass die Geldsphäre in den Modellen fehlte. Die seit den 1970er Jahren erfolgten Entwicklungen in diesem Bereich kamen in der modernen Modellökonomie schlicht nicht vor. Anders formuliert: Neben den Methoden, mit denen Bestehendes untersucht wird, gehört in den Wissenschaften ebenso imaginäres bzw. konstruktives Wissen, mit dem nicht nur ein neues Verständnis bis hin zu neuen Weltverständnissen in die Welt kommt, sondern auch Neues selbst, wenn dieses zu Konzepten erster Ordnungen wird, also institutionalisiert wird.
Die Ökonomie sei strukturell verantwortungslos – inwiefern?
Wenn man Strukturen als immer schon gegeben ansieht, fehlt generell ein Verständnis für strukturelle Entwicklungen. Hinzu kommt hier eine strukturelle Verantwortungslosigkeit, weil auch die Folgen ökonomischer Entscheidungen in der heute bestehenden Ökonomik nicht inbegriffen sind. Auch diese Auffassung wurde in den 1930er Jahren etabliert, hier in Form der bis heute gelehrten Grunddefinition, Ökonomik sei (nach Lionel Robbins) die Wissenschaft vom menschlichen Wahlhandeln als Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln. Und nur die ökonomischen Folgen dieses Wahlhandelns werden „festgestellt“ bzw. modelliert. Nichtökonomische Folgen wie z.B. Umweltschäden werden hingegen nur inbegriffen, wenn sie in ökonomische „rückübersetzt“ werden, wenn also z.B. Luftverschmutzung als „externe Kosten“ wieder zu internen ökonomischen Kosten werden, ermöglicht durch die Einrichtung von Emissionsmärkten.
Dadurch wiederum entstehen neue Strukturen, was vor allem von denen vorangetrieben wird, die ein ökonomisches Interesse daran haben. Dadurch entstehen ständig weitergetriebene Strukturen einschließlich des dazu erforderlichen institutionalisierten Fundaments ökonomischen Handelns. Dieses Fundament ist daher auch kein „Rahmen“, wie in der ordoliberalen Ökonomik argumentiert, sondern die Voraussetzung für ökonomische Praxis.
Als einen eklatanten Reflexionsmangel der Ökonomik machen Sie die Rolle des Staates aus – wird seine tatsächliche Bedeutung durch die ökonomische Theoriebildung kleingerechnet? Warum?
Das Verständnis von „Rahmenbedingungen“, innerhalb derer ein Markt selbstregelnd „agieren“ würde – wie vor allem von ordoliberaler Seite vertreten wird – hat nicht nur die Frage befördert, wie weit oder eng solche Rahmen gestaltet werden sollten. Sondern ebenso wurde damit der Dualismus Markt-Staat verfestigt – mit der Grundintention, ein Staat habe sich nur begrenzt und möglichst wenig in die ökonomische Sphäre „einzumischen“.
Dieses etablierte Denken hat zwei Konsequenzen: Erstens wird verkannt, dass der moderne Staat weiterhin einer der größten Wirtschaftsakteure ist. Dies ist eindringlich nachvollziehbar schon allein durch den Umstand, dass jeder, der in solch einer Gesellschaft ein Einkommen hat, knapp die Hälfte davon an den Staat abführt.
Zweitens aber wurde der Staat einseitig als Kontrapunkt zum so genannten Markt etabliert und somit suggeriert, der Staat stelle die Rahmenbedingungen für das Handeln auf dem Markt. Institutionen, die Märkte erst ermöglichen und somit deren Reglement bestimmen, werden aber nicht nur seitens des Staates geschaffen, sondern daran sind viele Akteure beteiligt – von etablierten Interessensvertreter*innen über Lobbyorganisationen bis hin zu Unternehmen selbst als global player. Ebenso wird mit der konträren Sicht „Markt versus Staat“ verkannt, dass sich die Interessen staatlicher Institutionen und die von Unternehmen durchaus auch überlappen können. Dies gilt insbesondere bei nationalen ökonomischen Interessen gegenüber anderen Nationalökonomien.
Inwiefern unterscheidet sich die von ihnen geforderte „realistische Ökonomik“ von der realexistierenden? Wie kann sie die nachhaltige Transformation unseres Wirtschaftens voranbringen?
Eine realistische Ökonomik bedeutet letztlich ein grundsätzliches Umdenken. Dieses bezieht sich auf das Beenden des oben beschriebenen Reflexionsdefizits und daher auch auf ein geändertes Grundverständnis in der Ökonomik.
Dazu gehört erstens, dass ein realistisches Verständnis zu ökonomischen Prozessen entwickelt wird und hier vor allem zu deren institutionellem Fundament, welches ebenso seine jeweilige Geschichte hat. Geld, Märkte, Privateigentum usw. sind nicht einfach gegeben.
Zweitens geht es darum, die eigene Gestaltungskraft zu reflektieren und somit die performative Rolle der Ökonomik, anstatt einem vermeintlich „objektiv“ gegebenem und damit bezugslosem Ideal anzuhängen. Hier ist gerade von der modernen Physik zu lernen, dass beständige Konstellationen – in Gesetze gefasst – ihre jeweilige Bezugswelt haben und ältere Gesetze daher nicht „falsch“ und damit irrelevant sind, wie dies in der Ökonomie in der Geringschätzung des historischen ökonomischen Denkens zum Ausdruck kommt, zugespitzt zu der Frage: „Warum soll man sich um die falschen Auffassungen von Toten kümmern?“ (laut Kenneth E. Boulding (1971) hatte ihm ein Ökonom so sein Desinteresse an der Geschichte des ökonomischen Denkens begründet).
Drittens ist das ökonomische Grundverständnis von einer vermeintlich genügenden Feststellpraxis des Bestehenden aufzugeben und die Ökonomik auch bezüglich seiner Folgen zu erweitern, insbesondere hinsichtlich der Folgen in der Umwelt und der Gesellschaft. Hier sind Verursachende in der Verantwortung, anstatt Folgen als „externe“ Wirkungen als außerhalb der Ökonomik liegende Gegenstände zu erklären. Anders formuliert: Wie würde man reagieren, wenn Politikwissenschaftler*innen ankündigen würden, zwar politische Entscheidungsprozesse zu analysieren, aber die Folgen als „extern“ ausklammern zu wollen mit der Begründung, dies sei kein Thema mehr der Politikwissenschaften?
Eine nachhaltige Transformation der Wirtschaftswissenschaften bedeutet daher, das bestehende Fundament der derzeitigen Ökonomik infrage zu stellen – einschließlich der damit einhergehenden erkenntnistheoretischen Verkürzungen, wie oben dargelegt. ■
Von der Interviewpartnerin zitierte Literatur:
Samuelson, Paul A.; Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre (FinanzBuch Verlag, 2016)
Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (Campus Verlag, 1997).
Boulding, Kenneth Ewart: Collected papers: Political Economy (Colorado Associated University Press, 1971).
Robbins, Lionel: An Essay on the Nature and Significance of Economic Science (Macmillan, 1932).
Die Fragen beziehen sich auf den Text Das doppelte Reflexionsproblem: Wie die Ökonomik ihren Gegenstand verfehlt und sich ihrer Wirkung auf ihn entzieht, erschienen in Lars Hochmann (Hg.): economists4future: Verantwortung übernehmen für eine bessere Welt (Murmann, 2020).
Dr. Katrin Hirte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft (ICAE) der Universität Linz. Ihre Forschungsinteressen gelten neben agrarwissenschaftlichen Themen vor allem Fragen der Wissensentwicklung und Erkenntnistheorie. Zu den aktuelleren Publikationen gehören: Die deutsche Agrarpolitik und Agrarökonomik. Entstehung und Wandel zweier ambivalenter Disziplinen (Springer Fachmedien, 2018) und Das dritte gossensche Gesetz, in: Lars Hochmann, et al. (Hg): Möglichkeitswissenschaften. Ökonomie mit Möglichkeitssinn (Metropolis Verlag, 2019, S. 133-176).
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