„Wir müssen alle neu denken“ | Interview mit Franziska Brantner

Demonstration vor dem Brandenburger TorFoto: Nico Roicke | Unsplash

„Wir müssen alle neu denken“

Interview mit Franziska Brantner

Frau Dr. Brantner, Sie bezeichnen die vergangenen zehn Jahre als „verlorenes Jahrzehnt“ für Deutschland – warum?

Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren auf seinen Lorbeeren ausgeruht und ist innerlich blockiert. Mit der GroKo hat sich ein Mehltau auf dieses Land gelegt. Die Bundesregierung verwaltet nur den Status quo, gestaltet aber weder dieses Land noch Europa. Die großen gemeinsamen europäischen Herausforderungen Klimakrise, globale Sicherheit und Digitalisierung bleiben unbeantwortet. Das wirkt sich eben auch auf Europa aus. Präsident Macron wartet bis heute auf Antworten der Bundesregierung.

 

Viele Menschen finden: Ein „Weiter so“ ist keine Option. Trotzdem werden von politischer Seite keine grundsätzlichen Änderungen angestrebt – woran liegt das?

Merkel ist eine gute Krisenmanagerin, hat aber keine inhaltlichen Ambitionen für Europa. Viele haben sich an den müden Politikstil von Merkel gewöhnt und scheuen die Veränderung. Union und SPD klammern sich an die GroKo wie an ein sinkendes Schiff und wollen nichts mehr wagen. Sie drücken sich vor großen Entscheidungen und lagern sie lieber in Kommissionen aus. Es fehlt der Mut, sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten für Europa einzusetzen, auch wenn das nicht sofort bei allen beliebt ist. Das wird wohl leider noch bis zur nächsten Wahl so bleiben.

 

In den Augen der Kritiker*innen laviert Ihre Partei, Bündnis 90/Die Grünen, zwischen einer wachstumskritischen Position und der Haltung, ein grünes Wachstum könne das konventionelle Wirtschaftswachstum ablösen. Müssen wir aufhören zu wachsen oder gibt es ein anderes, ökologisch-nachhaltiges Wachstum?

Franziska Brantner
Dr. Franziska Brantner vertritt den Wahlkreis Heidelberg im Deutschen Bundestag. Sie ist Parlamen­tarische Geschäfts­führerin und Sprecherin für Europapolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Foto © Florian Freundt)

Wachstum muss nachhaltig werden. Wir streben ein Wirtschafts- und Finanzsystem an, das die planetaren Grenzen einhält und gleichzeitig menschliche Entfaltung garantiert – und zwar weltweit, über Grenzen hinweg und für zukünftige Generationen. Ein zentrales Mittel dafür ist die sozial-ökologische Neubegründung der Marktwirtschaft. Unser Anspruch ist, dass Menschen sich entlang ihrer Vorstellungen in Freiheit und Würde entfalten können. Das Bruttoinlandsprodukt ist schon heute ein schlechter Indikator für Wohlstand und Lebensqualität. Wir schlagen deshalb ein neues Wohlstandsmaß und eine neue Form der Wirtschaftsberichterstattung vor, um neben den ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden. Die Kräfte von Märkten und Kapital können zur Lösung der Klimakrise beitragen. Davon können wir alle profitieren: durch neue Jobs und neue Möglichkeiten. Doch der Staat muss dafür die Rahmenbedingungen schaffen und mutig investieren. Der Green Deal ist daher ein wichtiger Impuls, unsere Wirtschaft umzubauen und klimaneutral zu werden.

 

Wie würde die sozial-ökologische Neubegründung der Marktwirtschaft konkret aussehen?

Wir leben in einer Wirtschaft, die nicht auf unsere Kosten geht. Sie funktioniert CO2-frei, mit erneuerbarer Energie dank hoch-innovativer Technologie und einer neuen Gründerzeit, die Forschung und Entwicklung vorantreibt, um Zukunftsmärkte zu erschließen. Wir nutzen dafür 5G und 6G, KI und offene Plattformen. Wir bauen dazu Bürokratie ab und fördern lebenslanges Lernen, fairen Wettbewerb, eine europäische Digitalisierung und nachhaltiges Investment. Arbeit wird flexibler und selbstbestimmter, aber auch sozialer, indem wir die Arbeitsgesetze anpassen. Wir setzen auf Teilen statt Besitzen, auf die Macht von Verbraucher*innen und eine Kreislaufwirtschaft, die Ressourcen schont. Hohe Umwelt- und Sozialstandards gelten nicht nur EU-weit, sondern auch in unseren internationalen Lieferketten, um damit den Wandel in der ganzen Welt anzustoßen.

 

Auf globaler Ebene entsteht zunehmend der Eindruck, dass Europa kein souveräner „Player“ ist, sondern durch ökonomische Abhängigkeiten zum Handlanger herabsinkt. Muss Europa selbstbewusster sein – und wenn ja, was würde das beispielsweise bedeuten?

Europa muss in dieser unsicheren Welt endlich souveräner werden, vom Spielball zum Spieler. Dafür müssen wir in der EU bei Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung in die Pole Position kommen, den Euro stärken und zur internationalen Leitwährung ausbauen, aber auch in der Außen- und Sicherheitspolitik geschlossener auftreten und Kapazitäten in der Verteidigung bündeln. In der Irankrise merken wir, wie die USA den Dollar nutzen, um ihre Sanktionen auch über europäische Unternehmen durchzusetzen. Diese machen alle internationalen Zahlungen in Dollar und sind deswegen vulnerabel. Wenn wir eine eigene Iranpolitik wollen, brauchen wir einen Euro, der internationale Leitwährung ist. Das geht nicht von heute auf morgen, und bräuchte weitreichende Entscheidungen: einen echten Eurozonenhaushalt und auch europäische Anleihen. Wenn wir Deutsche das weiter blockieren, dürfen wir uns auch über Präsident Trump nicht mehr beschweren. Die Bundesregierung hat es mit der anstehenden Ratspräsidentschaft in der Hand, ob dieser Aufbruch gelingt.

 

Viele wollen zwar etwas verändern, fühlen sich aber ohnmächtig, und durch Vorgaben, Abhängigkeiten und Routinen behindert. Wie kann man da den Mut erhalten, für das Neue zu kämpfen?

Wir müssen alle neu denken, Mut belohnen, Neues wagen. Mehr Chancen sehen, als immer nur Hürden und Risiken. Eine Start-up-Mentalität entfachen. Ein Empowerment der Bevölkerung. Auch unser Arbeiten wird flexibler, selbstorganisierter, kooperativer. Ein Schlüssel dabei sind Bildung, Forschung und Qualifizierung, um die großen Potenziale zu heben, die in uns allen stecken. Denn für diesen Wandel unserer Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wir alle guten Ideen und mehr Möglichkeiten, diese in den politischen Prozess einzubringen. Durch mehr Bürgerbeteiligung, wie wir sie in Baden-Württemberg leben, wie sie jetzt auch die EU mit der Konferenz zur Zukunft Europas plant. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Meinung zählt und sie etwas bewegen können, bringen sie sich auch ein. Außerdem ist es herausragend, dass sich so viele junge Menschen für ihre Zukunft, für das Klima engagieren.

 

Sind die Aktivist*innen von „Fridays for Future“ nicht ein gutes Beispiel dafür, dass es vor allem auch der gesellschaftspolitischen Mobilisierung von Interessengruppen bedarf, deren Stimmen im eingespielten Polit-Konzert zu kurz kommen?

Die weltweiten Proteste von „Fridays for Future“ haben eine neue weltweite Bewegung in Gang gesetzt. Sie zeigen gut, was für ein Potenzial politischer Protest hat. Längst sind es nicht nur junge Menschen, die protestieren, es gibt „Parents for Future“ und die „Scientists for Future“. Was anfangs belächelt wurde, ist nun auch durch die Mobilisierung im Netz nicht mehr aufzuhalten. Die Klimakrise ist nun in den Köpfen angekommen, Klimaschutz hat eine starke Stimme, die auch in den Unternehmen und der Politik gehört wird. Denn hier geht es nicht um Partikularinteressen, wie beim Lobbying, sondern um uns alle und unser Überleben als Menschheit. Wir müssen offener für solche Bewegungen sein, auch wenn sie keine klassischen Strukturen haben. Mehr in Dialog treten. Das hält unsere Parteien und unsere Demokratie lebendig.

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