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Das vergiftete Versprechen des Privateigentums
Text: Sabine Nuss | online veröffentlicht am 07.05.2025
Das Privateigentum gewähre im Gegensatz zu gemeinschaftlichen Formen des Eigentums größere Freiheit und mehr Autonomie. Das befördere den Anreiz, aus knappen Ressourcen etwas zu machen. Es sei daher effizienter und führe zu Wachstum und Wohlstand, was der ganzen Gesellschaft zugutekomme. So lautet das Versprechen. Doch es handelt sich um ein vergiftetes Versprechen, denn der erzielte Wohlstand ist höchst ungleich verteilt und das Wachstum bringt den Planeten Erde mittlerweile an für Menschen existenzielle Grenzen.
Als der real existierende Staatssozialismus zusammenbrach, prognostizierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte: Eine auf Privateigentum basierende Marktwirtschaft und Demokratie hätten sich nun endgültig weltweit durchgesetzt. Genauer: Die Überzeugung, dass eine Ordnung, die auf Privateigentum beruht, die beste aller möglichen Welten garantiere, finde fast überall Anerkennung.
Man kann nicht sagen, dass sich damit eine Ideologie durchgesetzt hätte, die in der Realität auf ihr Gegenteil treffen würde. Gerade weil sich einige ihrer Grundannahmen im Alltag und in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung bestätigen, kommt ihr eine gewisse Plausibilität zu. Zu diesen Erfahrungen gehören der Zusammenhang von Eigeninitiative oder größerer Sorge und Eigentum, zum Beispiel bei Eigentumswohnungen oder im Falle von Gewinnbeteiligungen von Mitarbeitern. Das Freiheitsversprechen wird bestätigt durch die Freiheit bei der Wahl von Beruf, Konsum, Reisen etc., wobei Güter und Dienstleistungen in allen Preisklassen im Angebot sind. Dazu passen die Volksweisheiten wie „Ohne Fleiß kein Preis“ und „Jeder ist seines Glückes Schmied“.
Der frühere Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und ehemalige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verteidigt den Kapitalismus mit dem Argument, dass er eine überlegene Form der Anerkennungskultur bereitstelle. Kapitalismus funktioniere so gut, „weil wir damit beweisen können, dass wir was Tolles hinkriegen, wir können uns überbieten, wir können uns messen“. Zwar argumentiert auch der Soziologe Hartmut Rosa ähnlich, wenn er davon spricht, dass Eigentum den Menschen zu Selbstwirksamkeit verhelfe – „Eigentum gibt mir einen Weltausschnitt, über den ich verfügen kann“ –, und gesteht dem Kapitalismus „viel Dynamik und Kraft und Fortschritt“ zu. Gleichwohl könne etwas nicht stimmen. „Also, wenn acht Männer genauso viel besitzen wie 50 Prozent der ärmeren Weltbevölkerung, dann habe ich ein ziemliches Problem mit der Anerkennungskultur.“
Es gibt alles, aber nicht für alle
„Selbstwirksamkeit“ und „Anerkennungskultur“ als positive Effekte des Privateigentums sind also zu hinterfragen, zumal es auch andere Erfahrungen gibt. Man kann beispielsweise keinen zwingenden Zusammenhang zwischen „Fleiß“ und „Preis“ feststellen, auch wenn man sich noch so sehr anstrengt. Der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär bleibt die Ausnahme. Auch die ökonomische Freiheit gilt nicht für alle, es kommt immer darauf an, wie viel Kapital man zur Verfügung hat, um etwas in Bewegung setzen zu können. Hinzu kommen vielfältige Erfahrungen von Diskriminierung und materieller Ungleichheit. Man weiß schon: Es gibt zwar alles zu kaufen, aber nicht für jeden.
Auch auf globaler Ebene stößt man auf solche Widersprüche. In der Tat haben die Menschen in den letzten Jahrzehnten absolut gesehen mehr materielle Güter und Dienstleistungen produziert als in den Jahrhunderten zuvor, Hunger und Kindersterblichkeit sind in einigen Teilen der Welt zurückgegangen, die Lebenserwartung ist für viele Menschen gestiegen; es gibt also durchaus eine Erfolgsgeschichte zu erzählen, eine, die vor allem auf eine gestiegene Produktivität der Arbeit zurückzuführen ist. Die andere Seite der Medaille: verwüstete Landschaften, Flucht, Vertreibung, Krankheiten und eine drastisch ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Der Bericht über die weltweite Ungleichheit von 2022, herausgegeben unter anderem vom Ungleichheitsforscher Thomas Piketty, stellt fest, dass die „reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung (…) derzeit 52 Prozent des weltweiten Einkommens“ beziehen. Dagegen erhalte die ärmste Hälfte der Bevölkerung nur 8,5 Prozent. Im Durchschnitt verdiene eine Person aus den obersten 10 Prozent der weltweiten Einkommensverteilung 87.200 Euro pro Jahr, während eine Person aus der ärmeren Hälfte der globalen Einkommensverteilung 2.800 Euro pro Jahr verdiene. Die globalen Vermögensungleichheiten seien dabei noch ausgeprägter als die Einkommensungleichheiten: „Die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung besitzt, mit nur 2 Prozent des Gesamtvermögens, kaum Vermögen. Im Gegensatz dazu besitzen die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung 76 Prozent des gesamten Vermögens.“ (Lucas Chancel: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2022, 2021)
Die Auffassung, dass die Ungleichheit zunimmt, wird in fast allen politischen Lagern geteilt, einzig über das Ausmaß und die Ursachen gibt es Meinungsverschiedenheiten. Für die Autorinnen und Autoren des zitierten Ungleichheitsreports ist die wachsende Ungleichheit auf die Umverteilung öffentlichen Vermögens in private Hände zurückzuführen: „In den vergangenen 40 Jahren sind die Volkswirtschaften deutlich reicher geworden, Regierungen aber deutlich ärmer. Der Vermögensanteil öffentlicher Institutionen ist in reichen Ländern nahe null oder negativ. Das bedeutet, dass sich das gesamte Vermögen in privater Hand befindet.“
Dieser Trend sei durch die Covidkrise noch verstärkt worden. Der Anstieg des Privatvermögens sei sowohl innerhalb von Ländern als auch auf globaler Ebene ungleich: „Das Vermögen der reichsten Menschen der Welt ist seit 1995 um 6 bis 9 Prozent pro Jahr gewachsen, während das durchschnittliche Vermögen der gesamten Weltbevölkerung um 3,2 Prozent pro Jahr gewachsen ist. Seit 1995 ist der Anteil, den die reichsten 0,01 Prozent am weltweiten Vermögen halten, von 7 Prozent auf 11 Prozent gestiegen. Auch der Vermögensanteil von Milliardär*innen stieg in diesem Zeitraum stark an (von 1 auf 3 Prozent).“ Tatsächlich verzeichnete 2020, das Jahr der Pandemie, den stärksten Anstieg des weltweiten Vermögensanteils von Milliardärinnen und Milliardären.
Wohnen als Investment
Die Privatisierungsoffensiven der letzten Jahrzehnte sind eine zentrale Ursache für die Umverteilung von öffentlich zu privat. So hat auch der Verkauf ehemals kommunaler Wohnungsbestände Auswirkungen auf soziale Ungleichheit gehabt, etwa durch gestiegene Mieten. Gleichzeitig ist der Einfluss von Kommunen auf stadtpolitische Entwicklungen infolge der Privatisierungen gesunken, die öffentlichen Aufgaben werden vor allem aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive betrachtet, sodass kommunale Unternehmen ganz ähnlich agieren wie private.
Kritiker der Privatisierungspolitik sprechen von „Entstaatlichung“ oder von einem „Staat im Ausverkauf“. Dies ist allerdings nur ein Ausschnitt einer sehr viel umfassenderen Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten zu beobachten ist und unter der Bezeichnung „finanzdominiertes Akkumulationsregime“ in die sozialwissenschaftliche Literatur eingegangen ist.

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Marx hat die wohl grundsätzlichste Analyse der kapitalistischen Produktionsweise vorgelegt. Er beschreibt diese allerdings nur in ihrer allgemeinen Strukturlogik. Empirisch kann sie höchst unterschiedliche Gesichter annehmen. Je nach Land und Zeit, nach politischen Kräfteverhältnissen, staatlichen Regulationsweisen, ökonomischen Koordinaten, nach Kulturen und nach dem Stand der Produktivkräfte gibt es unzählige Erscheinungsformen einer kapitalistischen Marktwirtschaft. „Finanzdominiertes Akkumulationsregime“ bezeichnet eine spezielle Spielart des Kapitalismus, die sich in den letzten 30 bis 40 Jahren entwickelt hat. Wie der Name schon sagt, ist ihr wesentliches Kennzeichen eine drastische Verschiebung der Vermehrung des Kapitals weg vom Sachkapital hin zum Finanzkapital.
Die Stadtforscherin Susanne Heeg hat in einem Artikel über Wohnen als Finanzanlage die Kennzeichen einer solchen Entwicklung anhand charakteristischer Stichpunkte skizziert: „Die Liberalisierung der Finanzmärkte begünstigte in vielen Ländern eine Reorientierung in den Denkweisen bezüglich der Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates (Stichwort Staatsverschuldung), industrieller Beziehungen und neuer Verwertungsanforderungen (Stichworte Flexibilisierung und Mindestkapitalrendite), der Herausbildung eines wirklich globalen Finanzmarktes (Stichwort Derivatehandel und Investmentbanking), der Veränderung von Finanzierungslogiken (von der Banken- zur Finanzmarktfinanzierung) und der finanzwirtschaftlichen Selbstregierung der Individuen (Stichwort Responsibilisierung).“ (Susanne Heeg: Wohnungen als Finanzanlage. Auswirkungen von Responsibilisierung und Finanzialisierung im Bereich des Wohnens, sub\urban 1/2013)
Heeg hat gezeigt, dass und wie der Immobilienmarkt von diesen Veränderungen betroffen war. Öffentliche Wohnungsunternehmen seien in vielen Ländern als Bestandteil des sozialen Kompromisses unter Beschuss geraten: „Sie wurden als ineffizient und zum Teil korrupt gebrandmarkt, ihre Tätigkeit wurde als eine Verzerrung des freien Wohnungsmarktes gesehen und/oder die Finanzierbarkeit eines öffentlichen Wohnungsbaus wurde infrage gestellt.“ In vielen Ländern Europas habe sich in der Folge eine „stärker marktgeregelte anstelle einer sozial abgefederten Wohnraumversorgung“ etabliert. Wohnungen wurden, wie Daseinsvorsorge allgemein, zum „potenziellen Investment“, Entscheidungen über Investitionen orientierten sich an Renditekennzahlen, der Gebrauchswert sei zunehmend aus dem Blick geraten. Mieten unterliegen bei und nach diesem Regimewechsel immer höheren Renditeansprüchen seitens der Eigentümer der jeweiligen Immobilien.
Wenn Mieten steigen, und dies tun sie, dann ist das für Mieterinnen und Mieter bei stagnierendem oder gar sinkendem Einkommen ein spürbarer Einschnitt in ihre Lebensverhältnisse. Sie werden ärmer, relativ zum steigenden gesellschaftlichen Reichtum, der zwar absolut wächst, sich aber immer ungleicher verteilt. Es zeigt sich daher auch bei den Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt, was global sichtbar wird: Das Versprechen des Privateigentums ist insofern vergiftet, als die ihm innewohnende Dynamik einen relevanten Teil der Bevölkerung systematisch vom Wachstum des gesellschaftlich geschaffenen Reichtums ausschließt – relativ (der Anteil an diesem wachsenden Reichtum geht zurück) und zuweilen auch absolut.
Kapitalozän und Klimakrise
Die spezifisch kapitalistische Wachstumsdynamik, deren Voraussetzung die Sicherung privater Eigentumsrechte ist, bringt ein weiteres und im Grunde das größte Problem zum Vorschein. Indem die vielfältige, üppige, bunte Warenwelt aus den Fabriken des globalen Kapitalismus die Welt überschwemmt, wird in einer Weise der Boden ausgebeutet, die Luft verschmutzt, das Klima erwärmt, dass mittlerweile die für die Menschen notwendigen Lebensbedingungen auf dem Planeten gefährdet sind.
Der 2018 verstorbene Ökonom Elmar Altvater plädierte deshalb dafür, das gegenwärtige Erdzeitalter nicht Anthropozän zu nennen, wie das im August 2016 die Internationale Geologische Vereinigung vorgeschlagen hatte, um damit das Ende der seit etwa 12 000 Jahren andauernden Warmzeit des Holozäns und den Eintritt der Menschheit in ein neues Erdzeitalter zu markieren, eines, das im Gegensatz zum vorherigen ein von Menschen gestaltetes Erdzeitalter ist. Altvater war der Meinung, dass der Begriff des Kapitalozän – das Zeitalter des Kapitals – wesentlich treffender wäre.
Seit dem 18. Jahrhundert würden in der kapitalistischen Wirtschaft fossile Energieträger systematisch genutzt: „Die mithilfe geeigneter Maschinen in Arbeitsenergie umgewandelte Primärenergie stammt nicht mehr von der Sonne, sondern aus terrestrischen ‚Bordmitteln‘, die aus der Erdkruste extrahiert werden müssen. Kohle und später Öl und Gas ermöglichen die Vervielfachung der Kräfte infolge des hohen Rückflusses investierter Energie (…) fossiler Energieträger.“ Und weiter: „Erst jetzt kann sich die kapitalistische Produktionsweise der systematischen Produktion einer ungeheuren Warensammlung durchsetzen. Mehrwert zu produzieren und dessen Produktion maximal zu steigern, wird zum vorrangigen Ziel.“
Da jedes ökonomische Handeln in der kapitalistischen Produktionsweise auf Wertbildung und Verwertung des Kapitals abzielt und zu diesem Zweck Stoffe und Energien transformiert werden müssen, muss sie, so Altvater, die Erdformation ebenso wie die Gesellschaftsformation umbilden, aber, und das ist der hier relevante Punkt: „Mit dem Höhenflug des ‚Wohlstands der Nationen‘ seit mehr als zwei Jahrhunderten geschieht dies in so großem Stil, dass der Kreislauf des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur gebrochen, zerrissen ist, mehr als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.“ (Elmar Altvater: Kapitalozän. Der Kapitalismus schreibt Erdgeschichte, Zeitschrift LuXemburg 2–3/2017)
Soziale Ungleichheit und die von Menschen verursachten Schäden an der Natur verdichten sich wie unter einem Brennglas, wenn die am schlimmsten betroffenen Menschen flüchten und ihre Zufluchtsorte, die reicheren Industriestaaten, sich abschotten, genau jene Industriestaaten, die die Hauptverursacher der Klimakrise sind. Die Eskalation dieses gesellschaftlichen Großkonflikts findet nicht zufällig in jener Epoche statt, in der sich das Privateigentum als dominierender Modus der Zuteilung von Verfügungsmacht über Ressourcen durchgesetzt hat. ■
Dieser Text entspricht im Wesentlichen dem Abschnitt „Das vergiftete Versprechen“ aus Sabine Nuss: Wessen Freiheit, welche Gleichheit? Das Versprechen einer anderen Vergesellschaftung (Dietz, 2024). Der Text ist zuvor in agora42 04/2024 zum Thema ZEITENWENDE erschienen. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung auf unserem Blog.

Sabine Nuss ist Politologin und Publizistin. Sie ist Herausgeberin und Autorin verschiedener Bücher zur Analyse und Ideologie des Privateigentums sowie zur Digitalisierung im Kapitalismus. Sie war Leiterin der Politischen Kommunikation bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und zuletzt Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlags. Heute lebt sie als freie Autorin, Speakerin und Podcasterin in Berlin. Mehr unter: sabinenuss.de.
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ROMAN
Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte (Suhrkamp, 2023)
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Die Welt und ihr Eigentum. Dokumentation in vier Teilen (arte, 2022)
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