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„Der Wirtschaft und den Geisteswissenschaften geht es im Kern um dieselbe Sache“
Interview mit dem Managementberater und Autor Charles Spinosa
Von Georg Spoo | Veröffentlicht am 23.05.2025
Charles Spinosa ist Managementberater mit über 25 Jahren Erfahrung. Zu seinen Kund:innen zählen sowohl Start-ups als auch Fortune-500-Unternehmen. Vor seiner Zeit als Berater lehrte er an der UC Berkeley und der Miami University. Auch heute betätigt er sich weiterhin als Forscher. Auf Grundlage seines Wissens und seiner Erfahrungen hat er kürzlich das Buch Leadership as Masterpiece Creation mitverfasst, das sich mit den moralischen Dimension von Führung in Organisationen auseinandersetzt. Georg Spoo hat sich mit Charles Spinosa über den Wert der Philosophie für die Wirtschaft unterhalten und darüber, was Unternehmen mit moralischen Normen und einem guten Leben zu tun haben.
Lieber Charles, der Untertitel deines neuen Buches Leadership as Masterpiece Creation. What Business Leaders Can Learn from the Humanities about Moral Risk-Taking behauptet, dass Führungskräfte aus der Wirtschaft etwas von den Geisteswissenschaften lernen können. Wenn man auf die Philosophie blickt, zeigt sich jedoch oft gegenseitige Skepsis: Philosoph:innen halten die kommerzielle Welt der Produktion und des Handels häufig für philosophisch bedeutungslos, unkultiviert oder unmoralisch. Umgekehrt erscheint die Philosophie Vertreter:innen der Wirtschaft als weltfremd, abgeschlossen und praxisfern. Warum meinst Du, dass beide Bereiche trotzdem zusammenfinden sollten?
Du hast Recht: Viele Geisteswissenschaftler:innen halten die Wirtschaft für engstirnig und unmoralisch und viele Wirtschaftsakteure denken Ähnliches über die Geisteswissenschaften. Aus meiner Sicht geht es aber im Kern beiden – Wirtschaft wie Geisteswissenschaft – um dieselbe Sache: um das Verständnis und die Gestaltung eines guten Lebens. Die zentrale Frage für Unternehmen, was der ‚use case‘, d.h. der Anwendungsfall eines Produkts ist oder welches Problem durch ein Produkt gelöst werden soll, ist letztlich eine Frage des guten Lebens. Leider wird diese tiefere Frage nach dem guten Leben viel zu oft auf die Frage nach Komfort, Sicherheit, Flexibilität und Effizienz reduziert. Viele Werber:innen, Marketingstrateg:innen und Produktentwickler:innen wissen es aber besser: Produkte ergeben nur dann Sinn, wenn sie in überzeugende Geschichten über das Leben eingebettet sind. Produkte müssen ein Gefühl des Staunens hervorrufen. Die Geisteswissenschaften können dabei helfen, reichhaltigere Geschichten zu erzählen, wirksamere Produkte zu entwickeln und letztlich ein besseres Leben zu führen. Die Geisteswissenschaften laden uns ein, zu fragen: Welches Menschenbild steht hinter einem Produkt und an wen richtet es sich – an berechnende und verlangende Wesen, an Menschen als Ebenbild Gottes, an Selbstverwirklicher, an Anerkennungssuchende, an solche, die die Welt nach ihrem Bild formen wollen, an Tugendprüfer etc.? Solche philosophischen Fragen helfen, wenn es darum geht, zu fragen, welchen Wert ein Unternehmen seinen Kund:innen anbieten kann.
Philosophie ist eine Wissenschaft des Hinterfragens und In-Frage-Stellens. Kannst du ein paar konkrete Beispiele geben, wie die Philosophie auch in der Wirtschaft dabei helfen kann, verbreitete Annahmen oder Ideen zu hinterfragen?
Im heutigen Führungsdiskurs werden Konzepte wie emotionale Intelligenz, Verlässlichkeit als Grundlage von Vertrauen, empathisches Zuhören, Verletzlichkeit und psychologische Sicherheit gefeiert. Das sind aus meiner Sicht in gewisser Weise ‚Herden-Tugenden‘. Sie dienen dazu, einfach irgendwie miteinander zurechtzukommen. Die Philosophie hilft uns dabei, tiefer zu gehen und anspruchsvollere Tugenden zu adressieren.
Wir können das beispielshaft an den erwähnten einzelnen Konzepten durchspielen: Emotionale Intelligenz hilft uns dabei, aufmerksamer zu sein. Wir können aber weiter gehen: Mit William James können wir lernen, unsere eigene Stimmung sowie die Stimmung anderer aktiv zu verändern, indem wir „kaltblütig“ in einer anderen Stimmung handeln. Und weiter: Wir müssen uns nicht darauf beschränken, Vertrauen durch das Einhalten von Versprechen zu gewinnen, sondern können Vertrauen dadurch gewinnen, dass wir unsere Tugenden leben: Vertrauen entsteht, wenn jemand etwa besonderen Mut oder tiefe Weisheit zeigt. Wir können auch weiter gehen als empathisches Zuhören: Anstatt nur zu fragen: „Wie würde ich mich in der Lage dieser Person fühlen?“, könnten wir fragen: „Wie sieht die Welt aus, in der diese Person lebt – und wie macht sie das radikal anders als mich?“ Zum Stichwort Verletzlichkeit: Viele glauben, dass sie sich verletzlich machen, wenn sie sagen, wovon sie überzeugt sind und wie sie zu diesen Überzeugungen gelangt sind. Stattdessen sollten wir es als unsere Grundpflicht ansehen, unsere Überzeugungen mitzuteilen. Unsere Überzeugungen sind keine Schwäche, es sei denn, wir wollen sie zu einer solchen Schwäche machen. Das hängt wiederum mit dem Konzept der psychologischen Sicherheit zusammen: Wir können aufhören, bloße Meinungen in einem geschützten Raum auszutauschen, und stattdessen den Mut haben, zu sagen, was wir für wahr halten. Das bedeutet auch, der Wahrheit gegenüber der Macht Gehör zu verschaffen – wohlwissend, dass neue Wahrheiten bestehende Selbstbilder verletzen können.
Moralische Ordnungen umwerfen
Unternehmen, die einen echten moralischen wie ästhetischen Unterschied machen und damit bewundernswert sind, brechen bestehende moralische Normen – oft auf schockierende Weise – und machen gerade dadurch eine neue Form eines guten Lebens möglich. Das ist das Herzstück unseres Buches. Führung bedeutet, moralische Risiken einzugehen. Nur mit Hilfe von Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Bernard Williams und Thomas Nagel können wir wirklich verstehen, was das heißt.
Worin besteht die Verbindung zwischen dem guten Leben und moralischen Normen?
Danke für diese Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Viele Philosophen sehen moralische Normen als Regeln für das menschliche Miteinander an. Der liberale Philosoph John Rawls ist berühmt für eine solche Norm: das Prinzip der Fairness. Es besagt: Ungleichheiten (z.B. beim Einkommen) sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie auch den am schlechtesten Gestellten zugutekommen. Hier zeigt sich: Für Rawls spielt Gleichheit eine große Rolle. Würde uns hingegen Sicherheit mehr bedeuten, würden wir vielleicht als Norm formulieren, dass wir niemals das Selbstwertgefühl eines anderen gefährden sollten. Wären wir hingegen risikofreudig, hätten wir vielleicht eine gegenteilige Norm: „Identitäten und Sicherheiten immer infrage stellen!“
Was ich mit diesen Beispielen sagen will: Jede moralische Ordnung impliziert eine bestimmte Vorstellung davon, was wir unter einem guten Leben verstehen; und dieses gute Leben soll dann wiederum durch die moralischen Normen ermöglicht werden. Rawls, als der urliberale Philosoph, der er war, meinte ursprünglich, seine Gerechtigkeitsprinzipien seien neutral gegenüber allen Lebensformen. Doch wenn es stimmt, dass jede moralische Ordnung bestimmte Formen des guten Lebens impliziert, können wir diese genauso gut explizit machen. In Anlehnung an Bernard Williams sage ich daher: Die Normen, die ein gutes Leben ermöglichen, sind selbst wiederum moralische Normen. Etwa: Liebe dich selbst, mäßige deine Wünsche, strebe nach Weisheit, mache dein Unternehmen zu einem Meisterwerk und so weiter.
Warum ist es für die Etablierung neuer Formen des guten Lebens erforderlich, dass bestehende moralische Ordnungen zerbrochen werden? Wäre es nicht auch möglich, diese Ordnungen zu reformieren und dadurch schrittweise neue Formen des guten Lebens zu etablieren?
Wie gesagt: Eine bestehende moralische Ordnung stützt bestimmte Formen des guten Lebens – und schließt andere aus. Wer eine grundlegend neue Form des guten Lebens etablieren will, wird nicht darum herumkommen, bestimmte moralische Normen zu verwerfen. Um ein historisches Beispiel zu geben: Um im Römischen Reich ein gutes Leben nach christlichen Vorstellungen zu etablieren, musste die moralische Grundregel „Wir akzeptieren deine Götter, wenn du unsere akzeptierst“ radikal in Frage gestellt werden. Liberale Philosophen haben lange versucht, eine gerechte Ordnung moralischer Normen zu entwerfen, die allen möglichen Formen des guten Lebens gleichermaßen offensteht. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Bestimmte Ordnungen moralischer Normen werden immer bestimmte Formen des guten Lebens privilegieren. Daraus folgt: Eine wirklich neue Form des guten Lebens verlangt Brüche mit der bestehenden moralischen Ordnung.
Aber zur Frage, ob wir moralische Ordnungen einfach reformieren können: Natürlich gibt es viele Arten, wie sich moralische Ordnungen verändern. Ein Beispiel wäre ein allmählicher gesellschaftlicher Wandel, der sich oft in neuen Gesetzen niederschlägt, so wie es etwa bei der gleichgeschlechtlichen Ehe der Fall war. Ein anderes Beispiel sind wirkmächtige Werke der Imagination, die uns fesseln und unser Selbstverständnis und unsere Art zu leben verändern – wie etwa Shakespeares Tragödien. Unser Buch Leadership as Masterpiece Creation erkennt diese Wege durchaus an. Aber: Innerhalb von Organisationen werden moralische Ordnungen nicht auf diese Weise verändert. Führungskräfte lösen moralische Anomalien in Organisationen durch oftmals schockierende Taten des Bruchs.

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Das Brechen moralischer Ordnungen erinnert ein wenig an das Konzept der „kreativen Zerstörung“. Das Schlagwort der „Disruption“ hat sich inzwischen verselbständigt und scheint oftmals bloßer Selbstzweck. Wie unterscheidet sich deine philosophische Sicht auf das Brechen von moralischen Ordnungen vom üblichen Verständnis von Disruption?
Joseph Schumpeters Konzept der „kreativen Zerstörung“ beschreibt unternehmerisches Handeln, das dazu führt, dass der Wert dessen, was gekauft und verkauft wird, in neuem Licht erscheint. Kreative Zerstörung deckt eine große Breite ökonomischer Veränderungen ab. Ein typisches Beispiel: Digitales Streaming (Netflix) hat in den USA örtliche Videotheken (Blockbuster) völlig ausradiert. Ich glaube, dass das, was bei Schumpeter wie ein rein ökonomischer Prozess erscheint, in Wahrheit die Auflösung einer moralischen Anomalie ist.
Zum Beispiel: Ich glaube Jeff Bezos hatte erkannt, dass das Internet das Vertrauen zwischen Händlern und Kunden untergraben würde, da damals auf den ersten online Marktplätzen alle möglichen dubiosen und unzuverlässigen Angebote emporschossen. In diesem Vertrauensverlust sah er eine moralische Anomalie. Die Antwort war Amazon: ein Laden für alles, mit stabilen Preisen – mit dem nach und nach die neue moralischen Norm der Hyper-Bequemlichkeit Einzug in unser Leben gehalten hat. Anhänger von Schumpeter würden Amazon als kreative Zerstörung des Einzelhandels sehen.
Unternehmen als Meisterwerke
Im Gegensatz dazu ist der von Clayton Christensens popularisierte Begriff der „Disruption“ enger als der der kreativen Zerstörung: Ein Innovator identifiziert an einem komplexen Produkt das, was die Konsumenten als das Wesentliche daran ansehen, reduziert das Produkt auf diesen Kern und kann es damit dann deutlich günstiger anbieten als die Konkurrenz. Christensens berühmtes Beispiel sind kleine Festplatten mit geringer Kapazität. Ein anderes gutes Beispiel sind preiswerte, gut designte Toyotas. Doch solche Disruptionen stehen lediglich im Dienst bestehender Normen, etwa des Komforts oder der Effizienz. Disruptionen im Sinne Christensens sind gerade keine moralische Revolutionen. Man könnte das Wort natürlich verwenden, um radikale organisationale Veränderungen zu beschreiben, aber ich glaube, wir sollten es nicht gegen den Strich seiner eigentlichen Bedeutung verwenden.
Man hört oft, die Wirtschaft ist die Verwaltung des Reichs der Notwendigkeit. Aus dieser Perspektive kann es echte Meisterwerke eigentlich nicht in der Wirtschaft, sondern nur in Kunst, Kultur und in der Wissenschaft geben. Du vertrittst offenbar eine andere Auffassung. Was ist deine Sicht auf Organisationen als „Meisterwerke“? Können wir einen traditionellen Begriff des Meisterwerks – der auf einer Trennung zwischen Wirtschaft und Kunst beruht – einfach in die Wirtschaft übersetzen? Oder müssen wir den Begriff des Meisterwerks neu denken, wenn wir ihn auf ökonomische Organisationen anwenden?
Die Vorstellung, dass auch politische Ordnungen Meisterwerke sein können, geht zurück auf Jacob Burckhardt. In Die Kultur der Renaissance in Italien beschreibt er, wie Fürsten ihre Stadtstaaten wie Kunstwerke gestalteten. Burckhardt hatte das antike Griechenland im Sinn. Man denke nur an den Unterschied zwischen dem militaristischen Sparta und dem demokratisch-künstlerischen Athen. In der Tradition dieses Denkens ist es kein großer Sprung, heutige Unternehmensgründer als Schöpfer normativer Ordnungen zu begreifen. Man könnte sagen: Google mit den Normen von psychologischer Sicherheit und kreativen Freiräumen einerseits und Amazon mit Normen der Kompromisslosigkeit und ständiger Leistungssteigerung sind in gewissem Sinne unsere heutigen Versionen von „Athen“ und „Sparta“.
Der Unterschied zwischen unternehmerischen und künstlerischen Meisterwerken ist gering. Heidegger, der darin Burckhardt folgte, argumentiert, dass sowohl Staatsgründer:innen als auch Künstler:innen auf verwandte Weise Wahrheit begründen. Beide erzeugen Schock und Faszination, im einen Fall durch Handeln, im anderen durch Werke der Imagination. Der Punkt, um den es geht, ist der Schock, den unser moralisches Urteilen jeweils erfährt und wie wir damit umgehen. Man denke an den moralischen Schock, den Bezos’ Umgang mit seinem Gründungsmitarbeiter ausgelöst hat, oder an den Schock, den wir erfahren, wenn Hamlet Polonius tötet. In beiden Fällen beginnt unser Nachdenken mit der Frage: „Musste das wirklich sein?“ Und mit dieser Frage öffnen sich Perspektiven auf eine neue Art zu leben.
Welche Widerstände gibt es, den Begriff des „Meisterwerks“ auf die Wirtschaft auszudehnen?
Zunächst einmal kommt der Widerstand von Unternehmen, die dem Bild entsprechen, das uns die Geisteswissenschaften überliefert haben: Organisationen, die alles daran setzen, Menschen zum Kauf ihrer Produkte zu bewegen, die gnadenlos sparen und mit Chefs, die ihre Mitarbeitenden unter Druck setzen, damit sie hart arbeiten. Das ist die Welt der Notwendigkeit.
Strateg:innen lieben diese Welt; und Strateg:innen samt ihrer Berater:innen bilden die zweite Linie des Widerstands gegen Organisationen als Meisterwerke: Die konventionellen Unternehmensstrategien drehen sich ganz darum, das Bedürfnis der Kundschaft nach dem eigenen Produkt zu steigern und zugleich zu verhindern, dass jemand anderes sie damit oder mit einem Ersatzprodukt versorgt. Auch das ist eine Welt der Notwendigkeit.
Die dritte Linie des Widerstands kommt aus den Reihen der Geschäftswelt selbst, genauer von denjenigen, die sich gern als Kämpfer gegen die Notwendigkeit sehen, die sie für uns lösen. Das entbindet sie nämlich von der Last, eine moralische Vorstellungskraft entwickeln zu müssen. Es entbindet sie davon, neue gute Lebensweisen zu schaffen. Und vor allem entbindet es sie von der Sorge, dass sie etwas Falsches tun könnten, wenn es ihnen nicht gelingt, solche Lebensweisen zu schaffen.
Doch ich sehe einen Wandel. Selbst die härtesten Gegner:innen moralischer Kreativität in der Wirtschaft werden ergriffen, wenn sie Zeugen echter moralischer Neuerungen werden. So wie der Dichter Percy Bysshe Shelley im Jahr 1820 erklärte: „Dichter sind die unerkannten Gesetzgeber der Welt“, so behaupte ich heute: Die heutigen Führungskräfte in Organisationen schreiben Gesetze wie Dichter:innen, indem sie ihre moralische Vorstellungskraft nutzen, mit der sie uns erschüttern und dazu bringen, neue gute Leben zu führen. ■

Charles Spinosa promovierte in englischer Literatur an der University of California, Berkeley. Heute arbeitet er als Managementberater. In seinen wissenschaftlichen Beiträgen zeigt er, wie sein philosophischer Hintergrund in der Praxis zur Anwendung kommt. Mehr über ihn: https://www.linkedin.com/in/charles-spinosa/
Mehr über das Buch: Leadership as Masterpiece Creation. What Business Leaders Can Learn from the Humanities about Moral Risk-Taking
