Foto: Paul Blenkhorn | unsplash.com
Wer den Kreis tanzt: Die ewige Wiederkehr als Feuerprobe des Übermenschen
Text: Tillmann Luther | Veröffentlicht am 6. Juni 2025
Im Herbst 1881, während eines einsamen Spaziergangs am Silvaplanersee, überkam Friedrich Nietzsche eine Vision, die sein Denken radikal veränderte: die ewige Wiederkehr des Gleichen. Kein theoretisches Konstrukt, sondern ein existenzieller Schlag, ein Gedanke, der, wie Nietzsche schreibt, durch Mark und Bein fährt. In Also sprach Zarathustra kehrt dieser Gedanke dramatisch wieder: als psychische, ja physische Erschütterung. Zarathustra ringt nicht mit einer Idee, sondern mit einem Schicksal, das den ganzen Menschen fordert und zwar den Leib nicht minder als den Geist.
Die Prüfung
Oft wird die Wiederkehr als metaphysische Lehre gelesen, als Versuch, die Zeit in einen Kreis zu zwingen. Doch das greift zu kurz. Der „schwerste Gedanke“ ist keine kosmologische Spekulation, sondern eine existentielle Prüfung. Was Zarathustra erfährt, ist kein abstrakter Zwang zur Wiederholung, sondern ein Feuer, das entweder verbrennt oder läutert.
Und genau hier, so meine These, beginnt die Geburt des Übermenschen: nicht als lineare Überwindung des Menschen, sondern als Durchgang durch den Kreis. Die ewige Wiederkehr widerspricht dabei dem Übermenschen nicht, sie ist vielmehr seine Voraussetzung. Sie ist der Initiationsritus, der trennt, was vergeht, von dem, was bleibt.
Zarathustras Wandlung: Vom Würgen zum schöpferischen Tanz
Nietzsches Schilderung von Zarathustras Transformation ist ein psychologisches Meisterwerk, das die Geburt des Übermenschen als leiblichen und seelischen Prozess von einzigartiger Dramatik inszeniert. Die Szene beginnt mit einem brutalen physischen Zusammenbruch: Zarathustra, der sonst so wortmächtige Prediger des Übermenschen, wird von der Vision der ewigen Wiederkehr derart erschüttert, dass sein Körper mit Würgereiz reagiert. Dies ist eine elementare Abwehrreaktion, die Nietzsche mit fast klinischer Präzision beschreibt. Dieser Würgereiz ist mehr als ein metaphorisches Bild; er markiert den Moment, in dem die erschreckende Erkenntnis buchstäblich nicht zu verdauen ist, eine Wahrheit, die sich zunächst nur als körperliche Reaktion zeigt.
Dann folgt die lähmende Starre: Zarathustra versteinert wie vom Blitz getroffen. In dieser Phase der völligen Bewegungslosigkeit zeigt Nietzsche ein tiefes Verständnis für psychologische Abwehrmechanismen, die erst die moderne Traumaforschung systematisch beschreiben wird. Der Körper reagiert auf die überwältigende Erkenntnis mit Erstarrung, ein Zustand zwischen Leben und Tod, in dem Zarathustra buchstäblich am Abgrund hängt.
Doch dann der geniale Umschlag: Aus der tiefsten Verzweiflung bricht plötzlich Lachen hervor – nicht als leichtfertige Heiterkeit, sondern als vulkanischer Ausbruch neuer schöpferischer Energie. Dieses Lachen markiert den Durchbruch zum dionysischen Bewusstsein, in dem der vermeintliche Fluch der ewigen Wiederkehr sich plötzlich als Segen offenbart. Es ist der Augenblick, in dem Zarathustra erkennt, dass die unendliche Wiederholung kein Gefängnis ist, sondern der Nährboden wahrer Schöpfung.
Der anschließende Tanz wird zur vollendeten Choreographie dieser Transformation. Nietzsche entfaltet hier eine ganze Philosophie der Bewegung, die den Kreis nicht als Grenze, sondern als Grundform aller natürlichen Rhythmen begreift, von Planetenbahnen über Jahreszeiten bis zum Herzschlag. In der Drehung löst sich die Konstruktion der linearen Zeit auf, während der Sprung den Kreis zur schöpferischen Spirale öffnet. Das Tanzlied, das dieser Szene folgt, ist kein zufälliger Stimmungswechsel, sondern die logische Konsequenz: Seine wiederkehrenden, doch stets variierten Strophen spiegeln die Wiederkehr als künstlerisches Prinzip.
Historisch betrachtet, steht Zarathustras Wandlung in einer langen Tradition initiatischer Rituale, von den Eleusischen Mysterien bis zu schamanischen Trancetechniken. Doch Nietzsche radikalisiert dieses Schema: Während traditionelle Einweihungen stets in die Gemeinschaft zurückführen, führt Zarathustras Initiation hinein in eine neue Existenzebene.
Psychoanalytisch gesehen, vollzieht Zarathustra hier die exemplarische Durcharbeitung der Wiederholung. Was beim Neurotiker als quälende Symptomatik erscheint, wird beim Übermenschen zur schöpferischen Methode. Indem Zarathustra den Schrecken der ewigen Wiederkehr nicht passiv erleidet, sondern aktiv durchlebt, gewinnt er die Macht über sie.
Der philosophische Kern dieser Wandlung liegt in der genialen Umdeutung von Notwendigkeit in Freiheit. Als Zarathustra begreift, dass jeder Augenblick unendlich wiederkehren wird, durchbricht er die Fessel des „Es war“. Die vermeintliche Last des Unabänderlichen wird zum Sprungbrett schöpferischer Freiheit. Dies geschieht nicht trotz, sondern wegen ihrer Unausweichlichkeit. Diese Dialektik findet ihre Entsprechung in modernen systemtheoretischen Ansätzen, die zeigen, wie deterministische Systeme unter bestimmten Bedingungen spontan neue Ordnungen hervorbringen können.
Zarathustras Wandlung ist dabei kein abgeschlossener Prozess, sondern ein permanentes Geschehen. Der Tanz hört nie auf, denn die ewige Wiederkehr ist kein einmalig zu bewältigendes Schicksal, sondern eine beständige Herausforderung. In diesem Sinn ist der Übermensch kein Endzustand, sondern eine fortwährende Praxis, eine tägliche Entscheidung, den Kreis nicht zu fliehen, sondern ihn in immer neuen, schöpferischen Variationen zu durchtanzen.
Jenseits von Fortschritt und Nostalgie: Die ewige Wiederkehr als Antwort auf die Moderne
Unsere Gegenwart schwankt zwischen zwei gleich letztlich unbefriedigenden Einstellungen: Auf der einen Seite steht der Fortschrittsglaube der Tech-Utopist:innen, die in künstlicher Intelligenz, genetischer Optimierung und virtuellem Raum die Erlösung von der conditio humana suchen. Ihr Credo ist linear: Immer schneller, immer weiter. Doch die Frage ist: Wohin? Auf der anderen Seite die lähmende Endzeitstimmung der Kulturpessimist:innen, die in jedem technologischen Entwicklungsschritt den Untergang des Echten, Authentischen beschwören. Beide Positionen teilen eine Grundhaltung: die Verachtung des Augenblicks zugunsten eines imaginären Dort, sei es in der Zukunft oder der Vergangenheit.
Nietzsches ewige Wiederkehr sprengt diese falsche Alternative. Sie fordert nicht weniger als eine Revolution unserer Zeiterfahrung: Nicht vorwärtsstürmen um jeden Preis, nicht rückwärtsgewandt klagen, sondern in der Tiefe des gegenwärtigen Augenblicks wurzeln und ihn so intensivieren, dass seine ewige Wiederholung kein Albtraum, sondern Verheißung wird. Der Übermensch ist weder Fortschrittsapostel noch Traditionalist – er ist der Tänzer auf dem Vulkan (Za III), der die Flüchtigkeit des Moments in eine dauerhafte Form gießt.
Die moderne Selbstoptimierungsindustrie mit ihren endlosen To-Do-Listen, Produktivitäts-Apps und Lebenshacks verrät dabei ein zutiefst anti-nietzscheanisches Menschenbild. Ihr Ideal ist der perfektionierte Mensch, der durch bessere Routinen und effizientere Methoden letztlich immer mehr vom Gleichen produziert.

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Dies zeigt sich besonders in unserer ökologischen Krise. Der Fortschrittsgläubige setzt auf technologische Lösungen (Geoengineering, CO2-Sequestrierung), der Nostalgiker auf Rückkehr zur Natur, doch beide Richtungen verfehlen Nietzsches Einsicht: Erst wenn wir jede Handlung, jeden Ressourcenverbrauch, jeden Eingriff ins Ökosystem so setzen, dass wir ihn unendlich wiederholen könnten, finden wir zu wahrer Verantwortung. Die ewige Wiederkehr ist der radikalste ökologische Imperativ und zwar nicht allein aus Pflichtgefühl, sondern aus echter schöpferischer Lust und Überzeugung.
Übrigens auch in der Kunst wird dieser Unterschied deutlich. Die postmodernen Remix-Kulturen bewegen sich im Kreis des Immergleichen – Samples, Reboots, Reenactments ohne transformative Kraft. Der Übermensch-Künstler hingegen, wie Nietzsche ihn in der Geburt der Tragödie beschreibt, schafft im Bewusstsein der Wiederkehr das schlechthin Neue. Sein Werk ist nicht original im romantischen Sinn, sondern im vollen Bewusstsein der Tradition erschaffen, und gerade deshalb revolutionär.
In kaum einem Bereich wird derzeit so intensiv an der Überwindung des Menschen gearbeitet wie in der Technologie, insbesondere in der Entwicklung künstlicher Intelligenz. Die Visionen reichen vom „Transhumanismus“ bis zum Upload des Bewusstseins. Der Mensch erscheint dabei zunehmend als etwas, das optimiert, verbessert, letztlich ersetzt werden kann. Doch Nietzsches Übermensch ist kein Algorithmus auf zwei Beinen. Er ist nicht das Resultat technologischer Potenz, sondern existenzieller Tiefe.
Gerade die ewige Wiederkehr stellt hier eine radikale Gegenfrage: Würden wir die Welt, die wir mittels Technologie erschaffen, auch dann wollen, wenn sie unendlich wiederkäme? Wollen wir das Denken, das wir Maschinen lehren, wirklich in endlosen Wiederholungen zum Maß aller Dinge machen?
In einer zunehmend polarisierten politischen Welt, in der alte Nationalismen, autoritäre Reflexe und ideologische Automatismen wiederkehren, wird Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr zum Prüfstein kollektiver Erinnerung: Wollen wir wirklich, dass sich diese Geschichte wiederholt? Wenn jede politische Entscheidung vor der Frage stünde: „Würdest du sie erneut wollen – unendlich oft?“, verlöre mancher Slogan, mancher Machtrausch, mancher blinder Reflex würden entzaubert.
Zwei Grundpfeiler für die Zukunft
Denn politische Wiederkehr bedeutet nicht nur das zyklische Aufkommen vertrauter Parolen. Sie ist vielmehr die Enthüllung ihres moralischen Gewichts. Wer das, was geschieht, ewig wiederkehren lassen müsste, wäre gezwungen, über kurzfristige Erfolge hinauszudenken. Populismus lebt von Sofortwirkung, nicht von Dauer. Die ewige Wiederkehr stellt diese Logik auf den Prüfstand.
Hier beginnt der Raum des Übermenschen; nicht als elitärer Herrschertyp, sondern als politische Figur der Umwertung. Er beugt sich nicht dem weder dem Populären noch dem Gewohnten, sondern fragt radikal: Welche Werte, welche Ordnungen, welche Entscheidungen wären es wert, wirklich ewig wiederzukehren?
Nietzsches Übermensch steht für eine Politik, die sich nicht im Reagieren erschöpft, sondern schöpferisch entwirft. Eine Politik, die das Gewordene nicht beschwört, sondern neu deutet. Er ist kein Systembauer, kein Dogmatiker, sondern ein Gestalter im Angesicht der Wiederholung. Seine Loyalität gilt nicht dem Parteibuch, sondern dem Leben, das sich selbst rechtfertigen soll: immer wieder, von Neuem.
Der politische Nietzsche der 1930er und 40er Jahre ist darum heute ebenso überholt wie der esoterische Nietzsche der Kalendersprüche. Was bleibt, ist sein radikaler Neuentwurf: Gegen die Beschleunigung setzt er Intensität, gegen die Nostalgie schöpferische Erinnerung. In einer Welt, die zwischen Klimakatastrophe und KI-Hysterie, zwischen Pandemieangst und Metaversum-Euphorie hin- und hergerissen ist, bietet die ewige Wiederkehr den einzig tragfähigen Kompass: Nur was die Probe der unendlichen Wiederholung besteht, ist wahrhaft erstrebenswert.
Der Übermensch von heute wäre weder Tech-Milliardär noch Aussteiger, sondern jemand, der mitten in der Moderne steht und doch jeden Moment so gestaltet, als hinge die Ewigkeit davon ab: nicht weil er muss, sondern weil er es zutiefst will. In diesem „So wollte ich es!“ liegt die ungebrochene Provokation von Nietzsches Gedanken. Sie ist und bleibt eine Herausforderung, vor der alle unsere Fortschritts- und Krisennarrative nur blass erscheinen.
Inmitten eines kulturellen Klimas, das zwischen verabsolutierendem Fortschrittsglauben und lähmender Resignation pendelt, gewinnen die beiden zentralen Pfeiler von Nietzsches Denken neue, brennende Aktualität: die Idee der ewigen Wiederkehr als existenzielle Prüfung und ethische Selbstvergewisserung und die Gestalt des Übermenschen als schöpferische Antwort auf diese Prüfung.
Nietzsches Übermensch ist nicht der Getriebene des Fortschritts, sondern der, der tanzen gelernt hat, im Angesicht der Wiederkehr, nicht trotz, sondern mit ihr. Der Tanz wird zum Sinnbild eines Dritten Weges: einer Haltung, die das Wiederkehrende nicht bloß erträgt, sondern in Rhythmus, Form und Schönheit verwandelt. In diesem Tanz liegt wahre Zukunft. ■

Tillmann Luther studierte Philosophie und Theologie an den Universitäten in Heidelberg und Erlangen. Seit 2001 ist er evangelischer Pfarrer in Visp (Schweiz). Neben seinen Studienfächern ist seine grosse Leidenschaft die Rhetorik.
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