Von der Corona-Krise zur nachhaltigen Wirtschaft | Reinhard Loske

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Von der Corona-Krise zur nachhaltigen Wirtschaft

Was zukunftsorientierte Politik jetzt leisten muss

Text: Reinhard Loske | Gastbeitrag

Spricht man dieser Tage mit Menschen, denen Klimaschutz und umfassende Nachhaltigkeit als zentrale Herausforderungen besonders am Herzen liegen, begegnen einem nicht selten sorgenvolle Mienen und düstere Prognosen. Wenn die Corona-Pandemie erst unter Kontrolle sei, werde die Politik wieder alles daransetzen, das ressourcenverschlingende Wirtschaftswachstum auf jede nur erdenkliche Weise anzukurbeln. Dabei drohten ökologische Ziele einmal mehr unter die Räder zu kommen, so wie schon nach der Finanzkrise 2008.

Man kann diese Befürchtung hegen. Sie ist nicht aus der Luft gegriffen. Schon melden sich gegen alle Vernunft wieder Protagonisten, die eine klimapolitische Atempause, das Abschwächen von Regeln für Luftreinhaltung, Natur- und Wasserschutz oder die Aussetzung von Bürgerbeteiligungsrechten bei Umwelteingriffen vorschlagen, damit die Konjunktur nach der Krise schnell wieder „anspringen“ und dann „brummen“ kann. Ganz vorne dabei wie immer Lobbyisten und Populisten.

Dennoch begegnet einem derzeit in ökologisch orientierten Kreisen auch eine andere Haltung, eine eher hoffnungsvolle. Durchaus viele glauben, dass in der Corona-Krise neben all dem menschlichen Leid und den vielfältigen Beschränkungen im Alltag gerade für eine Politik der Zukunftsfähigkeit auch große Chancen liegen.

Die Einschätzung hier: Diese Krise ist eine Zäsur. Sie teilt die Zeit in ein „Davor“ und ein „Danach“. Durch sie wird so viel ökologisch Fragwürdiges offengelegt, dass Konsequenzen folgen müssen und werden. Jeder Wachsame könne doch nun sehen, wohin uns die Missachtung von Naturgrenzen, Hypermobilität und endlos lange Lieferketten geführt haben:  in mehr Verletzbarkeit und weniger Krisenfestigkeit, mehr Abhängigkeit und weniger Robustheit.

Das sind starke Argumente. Wahr ist aber zugleich, dass es keineswegs einen Automatismus gibt, der wie von selbst im Gefolge der Krise nachhaltigere Lebensstile, Wirtschaftspraktiken und Technologien hervorbringt. Viele werden ihre Weltsicht durch die Corona-Erschütterung und den Blick in den Abgrund möglicherweise ändern, aber wir werden deshalb keine „neuen“ Menschen sein. Es wird auch in Zukunft Eigennutz und Gemeinsinn, Wettbewerb und Kooperation geben. Und auch in Zukunft wird die Aufgabe demokratischer Politik darin bestehen, bei der praktischen Gestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens diese verschiedenen Orientierungen in einen Ausgleich zu bringen.

Die Epoche systematischer Entstaatlichung und Deregulierung geht zu Ende

Eines deutet sich schon jetzt an: Die politische Grundausrichtung wird eine andere sein als die bisherige, die vor allem auf die Ökonomisierung immer weiterer Sphären der Gesellschaft gesetzt hat, vom Krankenhauswesen über die Bildung bis zum Klimaschutz. Die Sicht, scharfer Wettbewerb und vertiefte Arbeitsteilung im Weltmaßstab sowie systematische Entstaatlichung und größtmögliche Deregulierung seien die wirtschaftspolitischen Schlüssel zur Wohlstandsmehrung, wird weiter unter Druck geraten, wesentlich stärker als nach der Finanzkrise. Es mag verfrüht sein, von der „Corona-Dämmerung des Neoliberalismus“ (Ulrike Herrmann) zu sprechen, eine Erschütterung in dessen Grundfesten ist die Krise aber in jedem Fall.

Zugleich gilt: Zwar halten sich die politisch einflussreichen Protagonisten des Neoliberalismus momentan mit Ratschlägen zurück, aber es ist nur ein temporäres und taktisches Abtauchen. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass es momentan keine gute Idee wäre, die weitere Schwächung staatlicher Handlungsfähigkeit zu propagieren oder die These zu bekräftigen, der zufolge es so etwas wie „die Gesellschaft gar nicht gibt, sondern nur individuelle Menschen.“ (Margaret Thatcher). Aber hinter den Kulissen wird mit Elan für die Zeit nach der Krise gearbeitet, um vorbereitet zu sein, wenn die Erwartungen der Gesellschaft an den Staat überborden und ihn möglicherweise überfordern werden. Man hofft, dass der Schlachtruf „Der Staat kann es nicht“ dann wieder auf fruchtbaren Boden fällt.

Es ist jedenfalls realistisch, davon auszugehen, dass es schon während der Krise, erst recht aber danach zu einem Kampf um ihre Deutung und die richtigen Wege zu ihrer Überwindung kommen wird. In diese Auseinandersetzung müssen diejenigen, die für Nachhaltigkeit, Ökologie und globale Gerechtigkeit streiten, mit guten Argumenten, guten Gestaltungskonzepten und guten Durchsetzungsstrategien gehen.

Evidenzbasierung und Handlungskonsequenz müssen in Zukunft auch die Nachhaltigkeitspolitik prägen

Schaut man aus einer ökologischen Perspektive auf die anhaltende Corona-Krise und ihre Bekämpfung, sticht vor allem die Schnelligkeit der Reaktionen des Politiksystems und in der Folge auch des Natursystems ins Auge. Die Erreichung des deutschen Klimaziels für 2020 (minus 40 Prozent CO2-Emissionen gegenüber 1990) schien noch im Februar völlig ausgeschlossen, nun wird das Ziel durch die Corona-Krise wahrscheinlich sogar übererfüllt. Laut Umweltbundesamt könnten es Ende des Jahres minus 45 Prozent sein. Über Wuhan, dem Epizentrum der Krise in China, sind die Stickoxidkonzentrationen in der Luft kurzfristig so drastisch gefallen, dass der Effekt in Satellitenbildern der NASA deutlich zu erkennen war. Und im tourismusfreien Venedig ist das Wasser der Kanäle so klar wie lange nicht mehr.

Sicher, all diese Effekte sind nicht das Ergebnis umweltpolitischen Handelns, sondern Nebeneffekte einer Virusbekämpfung mit hoher Eingriffstiefe. Die Maßnahmen sind im eigentlichen Wortsinn nicht nachhaltig. Es wäre auch töricht, im Prinzip „Umweltschutz durch kollektiven Shutdown“ eine echte Lösung zu sehen. Dies würde am Ende nur Wasser auf die Mühlen derer lenken, die uns weismachen wollen, man habe sich eben zwischen Ökologie und Ökonomie, Naturschutz und Wirtschaftsschutz zu entscheiden. Beides gleichzeitig sei nun einmal nicht zu haben.

Dennoch ist die Lehre aus der Begleiterscheinung dieses Shutdowns grundsätzlicher Art.  Die Natur reagiert sehr schnell und generös, wenn übermäßiger Nutzungsdruck durch die Menschen von ihr genommen wird. Auch das kann Hoffnung geben.

Viele ökologisch bewegte Menschen fragen sich deshalb, warum bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie möglich ist, was bei auf Dauer wesentlich bedrohlicheren Problemen wie der Erderwärmung oder der Zerstörung der biologischen Vielfalt bislang nicht geschieht, nämlich konsequentes Handeln. Im Gegenteil, noch die kleinsten Empfehlungen zum Wohle von Klima und Natur werden in Deutschland oft so diskutiert, als ebneten sie den direkten Weg in die Ökodiktatur, vom Tempolimit 120 auf Autobahnen über minimale Ökosteuern bis zum freiwilligen Fleischverzicht an einem Tag in der Woche. Viele dieser Kulturkämpfe wirken mittlerweile nur noch grotesk.

Politischer Mut wird im Ernstfall nicht bestraft, sondern belohnt

Und auch eine weitere Mär fällt dieser Tage, nämlich die Behauptung, Politik werde abgestraft, wenn sie den Menschen harte Fakten zumute und ihr Handeln auf eben diese stütze. Noch im September letzten Jahres fiel bei der Präsentation des bescheidenen Klimapakets der Bundesregierung von Kanzlerin Merkel der denkwürdige Satz, Politik sei nun einmal das, was möglich ist. Kein halbes Jahr später betreibt die gleiche Bundesregierung nun in der Corona-Krise eine wissenschaftsgestützte Politik der schonungslosen Wahrheiten, Einschränkungen und Zumutungen – und 95 Prozent der Bevölkerung finden diese genau richtig oder fordern noch härtere Maßnahmen (ZDF-Politbarometer vom 27. März).

Nun lassen sich sicher Gründe dafür finden, warum fundamentale Restriktionen in der Corona-Krise eher akzeptiert werden als bei der Bekämpfung der Klimakrise: Die Angst vor Viren, die schnell töten können, ist offenbar deutlich größer als die Angst vor Erderwärmung und Artenschwund, deren Folgen schleichender sind. Auch hat der Lobbyismus bei langfristigen Problemen wie dem Klimawandel leichteres Spiel, auf allen Strecken gegen entschiedenes Handeln zu arbeiten: vom Säen naturwissenschaftlicher Zweifel über das Befeuern ökonomischer Niedergangs-Szenarien bis zur Mobilisierung populistischer Gegenkräfte.

Es bleibt dennoch frappierend, dass im Corona-Fall konsequent, im Klima-Fall inkonsequent gehandelt wird, obwohl die wissenschaftliche Evidenz in beiden Fällen sehr hoch ist und sich in Umfragen auch für vorsorgenden Klimaschutz ähnliche Zustimmungswerte ergeben wie für die rigorose Bekämpfung der Pandemie. Daraus kann eigentlich nur der Schluss gezogen werden, dass die Zaghaftigkeit von klimapolitischem Regierungshandeln vor allem das Ergebnis von allzu viel Rücksichtnahme auf mächtige und nicht-nachhaltige Gegenwartsinteressen war und ist, vor allem auf Industrieinteressen.

Als Lehre aus der Corona-Krise folgt deshalb, dass auch die Klimapolitik zukünftig stärker evidenzbasiert handeln muss und gegenüber Partikularinteressen eine vermeintlich altmodische Kategorie reaktivieren sollte, nämlich politischen Mut, der Konfliktfähigkeit und Standfestigkeit in der Sache einschließt. Zumutungen, die nachvollziehbar und gut begründet sind, sind für politische Entscheidungsträger nicht risikofrei, werden aber von viel mehr Menschen akzeptiert als im Hauptstrom der Politik angenommen oder vorgegeben wird.

Pandemiebekämpfung und Nachhaltigkeit erfordern einen neuen Generationenvertrag: Junge und Alte sind aufeinander angewiesen

Eine Politik der Zukunftsfähigkeit braucht also Traute. Dabei kommt ihr die gegenwärtige Diskussion über Generationengerechtigkeit und wechselseitigen Generationenrespekt durchaus zugute. Was wir in der Corona-Krise erleben, ist ja eine interessante Umkehr des öffentlichen Sprechens über intergenerative Rücksichtnahmen: Ist die Klimadebatte davon geprägt, Ältere und besonders die „Babyboomer“ zur Rücksicht auf die Überlebensinteressen junger Menschen und zukünftiger Generationen anzuhalten, geht es in der Corona-Debatte um das gerade Gegenteil: Junge Menschen sollen sich beschränken, um die Älteren nicht durch unkontrollierte Virenausbreitung zu gefährden.

Bislang – Stand Ende März – kann man ohne weiteres sagen, dass die „Generation Greta“ ihre Mission erfüllt. Sie bleibt zuhause, sie hilft, sie hält sich an die Regeln. Abfällige Bemerkungen über „die Alten“ hört man kaum, im Gegenteil, sie sind geächtet. Wo sie dennoch auftreten, werden sie von einer Welle der Hilfsbereitschaft im Kleinen wie im Großen an den Rand gedrängt.

All das muss und wird Folgen für die Politik haben. Sie hat sich, für alternde Gesellschaften nicht untypisch, in der Vergangenheit sehr stark an den vermeintlichen Interessen der Älteren ausgerichtet, die oft um das Thema Sicherheit kreisen, von der Rentensicherheit über die öffentliche Sicherheit bis zur Sicherheit der Grenzen. Diese Interessen sind legitim, aber sie haben in der Vergangenheit wichtige Zukunftsthemen wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Bildung und Digitalisierung doch oft an den Rand gedrängt.

Es ist notwendig, den Generationenvertrag der Gesellschaft nach der Krise neu zu justieren und den Zukunftsthemen das Gewicht einzuräumen, das ihnen gebührt. Von der Energiewende über die Verkehrswende bis zur Agrarwende, von der Digitalstrategie über die Forschungsförderung bis zur Bildungsfinanzierung haben EU, Bundesregierung, Landesregierungen und Kommunen jetzt die Chance, Nachhaltigkeit systematisch und anspruchsvoll in alle Politikfelder zu integrieren.

Dafür, dass das wirklich geschieht, steht das Fenster der Möglichkeiten jetzt weit auf. Der „Green Deal“ der EU von Ursula von der Leyen muss schnell in die Tat umgesetzt und finanziell noch besser ausgestattet werden. Die geplanten Konjunkturprogramme müssen zu „Green Stimulus“-Paketen werden, die wirklichen Strukturwandel in Richtung Nachhaltigkeit befördern und nicht Überkommenes künstlich am Leben halten. Absurditäten wie „Abwrackprämien“ für voll funktionsfähige Autos oder sinnlose Straßenbauprogramme, die noch das Konjunkturpaket der Bundesregierung nach der Finanzkrise geprägt haben, darf es nicht mehr geben.

Nachhaltiges Wirtschaften nach der Corona-Krise: Globalisierungsrückbau, Regionalisierung der Wertschöpfung und Resilienz als neue Leitbilder

In großen Teilen der Klimabewegung wird „die Wirtschaft“ bislang als „Blackbox“ gesehen, als das „Andere“, ja Gesellschaftsfeindliche. Vor dem Hintergrund der realen Erfahrungen mit vielen Industriekonzernen und Wirtschaftsverbänden ist eine solche Haltung nachvollziehbar. Aber sie ist nicht sinnvoll. Als Gesellschaft können wir sie uns nicht leisten. Zu wichtig ist die Wirtschaft für unsere Versorgung mit dem Lebensnotwendigen und das Funktionieren des Gemeinwesens. Aber klar ist auch: Die Wirtschaft wird und muss sich ändern. Je mehr Menschen sie als Teil einer Aufgabe begreifen, die mit Gesellschaftsgestaltung gut beschrieben ist und Gemeinsinn erfordert, desto besser ist es für alle, auch für die meisten Unternehmen selbst.

Der Modus, in dem wir künftig über das Wirtschaften und plurale Wirtschaftsstile reden, wird sich ändern müssen. Vor allem die ökonomische Bildung, die heute oft eine realitätsferne und dogmatische Idealisierung des Eigennutzes und des Wettbewerbs ist, wird vom Kopf auf die Füße zu stellen sein.

Viele Annahmen der vorherrschenden Mainstream-Ökonomik werden durch die Corona-Pandemie und die Erderwärmung gleichermaßen fundamental in Frage gestellt. Dazu gehören nicht nur die weitgehende Ignoranz gegenüber planetaren Grenzen und das Beschwören von individueller Nutzenmaximierung als höchster Form rationalen Handelns, sondern auch die Annahme, eine immer weitere Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung mit immer größeren Unternehmen sowie immer längeren und komplexeren Lieferketten sei gut für alle.

Dass es nicht nur „economies of scale“ gibt, also ökonomische Größen-, Spezialisierungs- und Globalisierungsvorteile, sondern auch „diseconomies of scale“, also entsprechende Nachteile, ist in der sozial-ökologischen Diskussion schon lange ein fest etabliertes Thema. So werden ungerechte und ökologisch schädliche Weltwirtschaftsstrukturen zum Nachteil der Südhemisphäre ebenso intensiv kritisiert wie ausufernde Verkehrsströme am Himmel und auf den Weltmeeren.

Die Corona-Krise macht nun auf ihre Weise deutlich, wie verletzbar Staaten sind, wenn Notwendiges einseitig aus fernen Quellen oder gar von Monopolen bezogen werden muss oder im Krisenfall ganz wegfällt. In den USA hat der Präsident bereits kriegswirtschaftliche Instrumente aktiviert, um Automobilkonzerne zur Produktion von fehlenden Beatmungsgeräten zu zwingen.

Selektive De-Globalisierung und gezielte Re-Regionalisierung werden in Zukunft wichtige Bausteine einer Ökonomie der Nachhaltigkeit sein, um Verletzbarkeit und abrupte Störungen der Lieferketten zu reduzieren und so die Robustheit („Resilienz“) des Gesamtsystems zu erhöhen. Dabei wird es nicht um reines Autarkiestreben gehen können, sondern um mehr Autonomie, also um eine Verschiebung der Gewichte von Fremdversorgung zu Eigenversorgung. Auch dies hat praktische Konsequenzen für viele Politikfelder: Die regionale Landwirtschaft ist zu stärken, die Stadt-Land-Kooperation zu verbessern, die Nutzung der Autobahnen als rollende Warenlager für die Just-in-Time-Produktion der Fabriken zurückzudrängen, die Wirtschaftsförderung auf eine Erhöhung innerregionaler Produktionsverfechtungen und Kreislaufwirtschaft auszurichten und das Bankwesen auf die Unterstützung dezentraler Wertschöpfungsstrategien zu orientieren.

Was gestern noch fern schien, kann morgen schon hier sein: Globale Verantwortung in der Post-Corona-Weltordnung

Aus einer Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsperspektive verbietet es sich zugleich, aus der Zunahme globaler Probleme wie Pandemien und Klimaextremen dauerhafte Abschottungsstrategien herzuleiten. Die gegenwärtige Renaissance des Nationalen, die zur Bekämpfung der Corona-Krise vielleicht temporär ihren Sinn haben mag, sollte nicht zum neuen Standard werden. Im Gegenteil, die Staatenwelt brauch mehr Kooperation und bessere internationale Verträge.

Abgesehen davon, dass die Bearbeitung globaler Probleme multilaterale Kooperation nachgerade erzwingt, wäre es besonders für die Länder der Südhemisphäre eine düstere Perspektive, würden die Industriestaaten nun auf Abschottung, Autarkie und Ausgrenzung setzen. In den sogenannten Entwicklungsländern ist der Anteil derer, die gegenüber Klimawandel, Pandemien und anderen Katastrophen besonders sensibel sind, sehr hoch. Die Armen leiden am stärksten.

Die Probleme der Welt, die die Industriestaaten zu einem guten Teil über kolonialistische Spätfolgen, ungerechte Weltwirtschaftsbeziehungen oder geopolitischen Egoismus mitverursacht haben, können sie sich nicht durch hohe Grenzzäune vom Leibe halten, jedenfalls nicht auf Dauer. Die momentan im medialen Windschatten liegende Flüchtlingskrise an der EU-Außengrenze in Griechenland zeigt das sehr deutlich. Sie wird durch Wegschauen nicht einfach verschwinden.

So ökologisch sinnvoll es also ist, die an vielen Stellen übertriebene Vertiefung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung zurückzuschrauben, so notwendig ist es zugleich, am Ziel einer Schaffung fairer und nachhaltiger Welthandelsstrukturen festzuhalten. Auch hier hat die Politik nach hoffentlich baldiger Überwindung der Corona-Krise ein übervolles Aufgabenheft, von einem wirksamen Lieferkettengesetz bis zum „Marshallplan mit Afrika“, von fairen Handelsverträgen bis zum Schutz nachhaltiger Binnenwirtschaften vor billigen Importprodukten, die auf Ökodumping fußen.

Eine wichtige Krisenlehre für die Nachhaltigkeit: Sorgearbeit und Erwerbsstreben gut ausbalancieren!

Als größte Quelle für eine nachhaltige Zukunftsgestaltung könnten sich aber die unmittelbaren Krisenerfahrungen selbst erweisen, die Menschen weltweit momentan machen, negative wie positive. Dazu gehört sicher die Erfahrung von Angst um die Lieben und das eigene Leben, um den Arbeitsplatz oder den eigenen Betrieb, denn Angst ist bekanntlich ein sehr starker Antrieb. Dazu gehören aber auch und vielleicht sogar vor allem das Erleben von Zusammengehörigkeit, Gemeinsinn und Zuwendung sowie die unfreiwillige Erfahrung von plötzlichem Zeitreichtum sowie Konsum- und Reichweitenbeschränkungen.

Es gehört zu den positiven Seiten der letzten Tage und Wochen, wie sehr die Wertschätzung für diejenigen gewachsen ist, die durch ihre Arbeit die Gesellschaft am Laufen halten, ob in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Supermärkten, im öffentlichen Nahverkehr, im Wasserwerk oder bei der Müllabfuhr. Wurde ihre Tätigkeit bis vor kurzem kaum wahrgenommen, so ist nun allerorten von „Helden des Alltags“ die Rede. Vor allem die Rolle der überwiegend von Frauen geleisteten Sorgearbeit rückt nun in den Mittelpunkt. Man kann nur hoffen, dass sich die warmen Worte bald auch in den Gehältern der „Heldinnen“ niederschlagen und im Gegenzug die Bezüge in den Managementetagen auf ein gesundes Maß schrumpfen.

Offenkundig wird in der Corona-Krise zugleich, dass Eigenarbeit, Familienarbeit und ehrenamtliches Engagement von vielen als positiv erlebt werden, weil sie der Entfremdung der Einzelnen von sich selbst und von ihrer Mitwelt entgegenwirken und soziale Resonanzbeziehungen stärken. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass manche mit gewonnener Zeit, erzwungener Sesshaftigkeit und unfreiwilligem Konsumverzicht so ihre Probleme haben, worauf die Zunahme von häuslicher Gewalt auf traurige Weise hindeutet.

Insgesamt lässt sich aber mit hoher Plausibilität sagen, dass beide Formen der Sorgearbeit, die entgeltliche und die finanziell nicht entgoltene, in hohem Maße auch für Strategien der Nachhaltigkeit von Bedeutung sind. Vor allem nehmen sie kommerziellen Wachstumsdruck aus dem Wirtschaftssystem. Verkürzte Erwerbsarbeitszeiten und Grundeinkommenselemente können helfen, die Zeitsouveränität der Bevölkerung zu erhöhen und so die Voraussetzungen für eine gesunde Ausbalancierung von Erwerbszeiten und Eigenzeiten zu schaffen. Gut erkennbar wird in der Krise auch: Sinnstiftende und befriedigende Arbeit kann Kräfte freisetzen, wenn es darauf ankommt.

Die Zukunft ist offen: Lasst uns über sie reden!

Grundsätzlich ist es in diesen hochvolatilen Zeiten nicht möglich, sichere Prognosen über die Zukunft abzugeben. Das gilt auch für die sozial-ökologische Transformation, vor der wir als Gesellschaft auch nach der Corona-Krise stehen. Sehr viele Fragen sind offen: Niemand kann sicher wissen, ob die Erfahrung der erzwungenen Suffizienz bei den Menschen in Zukunft eher zu einem Abwerfen von überflüssigem Wohlstandsballast führt oder eher zu einer neuen Welle des Konsumismus, ob die neue Vertrautheit mit der digitalen Welt, die nun immer mehr Menschen im Home Office und auf Videokonferenzen gewinnen, zu weniger Verkehr führt oder zu einer neuen Hypermobilität, ob der in der Corona-Krise reaktivierte Gemeinsinn ein dauerhaftes oder ein vorübergehendes Phänomen sein wird.

Gerade weil so vieles offen ist, braucht es zur Förderung der Nachhaltigkeit nicht nur eine handlungswillige Politik und eine transformationsbereite Wirtschaft, sondern auch und gerade eine wache Zivilgesellschaft. Benötigt werden Diskursräume und Reallabore in Schulen und Hochschulen, Unternehmen und Behörden, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, in denen gemeinsam Formate einer zukunftsfähigen und gerechten Gesellschaftsgestaltung entwickelt und vor allem eingeübt werden.

Es gilt, in Zukunft wieder verstärkt nach „Dritten Wegen“ jenseits von Staat und Markt Ausschau zu halten. Denn so sehr es den neoliberalen Zeitgeist einer allumfassenden Ökonomisierung zurückzudrängen gilt, so wenig angemessen wäre es, nun alles auf die Karte „starker Staat“ zu setzen. Auch dieser hat, das lehrt die Geschichte, einen Hang zur Übergriffigkeit, wofür das aktuelle Niederreißen von Schranken beim Datenschutz beispielhaft steht.

Wenn die Corona-Krise mit ihren zwingenden Herausforderungen überwunden ist, sollten weder blinder Marktglaube noch übertriebener Steuerungsoptimismus zum Hauptwesenszug der sozial-ökologischen Transformation werden, sondern die Fähigkeit zur reflektierten, verantwortungsbewussten und gemeinsamen Gesellschaftsgestaltung. Wir müssen reden!

Reinhard LoskeReinhard Loske ist Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues und dort Professor für Nachhaltigkeit sowie Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin und im Vorstand der entwicklungs- und umwelt-NGO Germanwatch in Bonn.

Der langjährige grüne Bundestagsabgeordnete und bremische Senator für Umwelt und Europa hat zahlreiche Bücher zur Nachhaltigkeitsfrage vorgelegt. Sein jüngstes Buch Politik der Zukunftsfähigkeit (S. Fischer, 2016) ist von der Deutschen Umweltstiftung 2016 zum „Umweltbuch des Jahres“ gewählt worden. Zur Homepage des Autors.

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4 Gedanken zu „Von der Corona-Krise zur nachhaltigen Wirtschaft | Reinhard Loske

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