Das Schwein | von Thomas Macho

Ein Schwein am StrandFoto: Antonio Scant | Unsplash

 

Das Schwein

Text: Thomas Macho

Wie sollen Schweine vorgestellt werden? Als Verwandlungskünstler, die uns einerseits Glück bringen, andererseits Schande? Als Verkörperungen erotischer Anziehung oder sprichwörtlicher Trägheit? Als Symbole der Unordnung und des Schmutzes oder als Ikonen der Sparsamkeit und Hygiene? Als populäre oder streng verbotene Nahrungsmittel? Oder als allianzfähige Tiere, die sich zumindest im sprachlichen Alltag nicht scheuen, mit Bären („Saubären“), Hunden („Schweinehunde“) oder Igeln („Schweinigel“) Bündnisse zu schließen, ganz zu schweigen von den Menschen, den „Schweinepriestern“, „Frontschweinen“, oder „Saukerlen“. Nicht zu Unrecht dichtete Gottfried Benn: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“. Wollte er Menschen oder Schweine beleidigen?

Menschen und Schweine sind einander staunenswert ähnlich, in Körperbau, Hautbeschaffenheit – die Tätowierer an Schweinehäuten üben lässt – oder der Größe innerer Organe, die schon die Transplantationsmedizin auf den Plan gerufen hat. „Menschen sind senkrechte Schweine“, soll Edgar Allan Poe einmal gesagt haben. Und Cora Stephan bekannte in ihren Memoiren einer Schweinezüchterin, sie liebe die Schweine: „Sie sind ideale Hausgenossen. Sie durchstöbern die Mischwälder nach Eicheln, Eckern, Kastanien und Pilzen. Sie fressen Würmer, Engerlinge, Insektenlarven und erlegen schon mal Mäuse oder andere Nager. Sie stellen ihre prächtige Nase in den Dienst der Trüffelsuche (teilen wäre allerdings fair!), lassen sich als Rauschgiftspürschwein und sogar als Jagdsau mit Vorstehqualitäten ausbilden. Sie sind klug wie Delphine, zart und ausdauernd in der Liebe und sensibel genug, um es nicht mit jedem oder jeder zu treiben. Sie sind verspielt und genusssüchtig, frech und anhänglich, gute Läufer, ausgezeichnete Schwimmer und wären des Menschen bester Freund, erschräke dieser nicht vor seiner Ähnlichkeit mit dem sprachgewandten Borstentier. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ähnlichkeit zu erbitterter Feindschaft geführt hätte.“

Schweine betreten die Bühne: Samuel Bisset, ein schottischer Schuster, hatte ein schwarzes Ferkel so unermüdlich trainiert, dass es im August 1783 seinen ersten Auftritt absolvieren durfte. Das Tier konnte Rechenaufgaben lösen, die Uhrzeit angeben und bestimmte Wörter an Schautafeln weisen; im Februar 1785 berichtete eine Londoner Zeitung: „Eine so wundersame Kreatur ist uns wahrlich noch nie vor Augen gekommen, und selbst die kritischsten Geister haben offen bekannt, daß weder die Zunge des begabtesten Redners noch die Feder des genialsten Schreibers den wundersamen Auftritt dieses klugen Tiers gebührend beschreiben kann.“ Wenig später bevölkerten zahlreiche Schweine-Stars die Zirkus- und Varieté-Bühnen in Europa und Nordamerika. Zur Jahrhundertwende eroberte das Schwein William Frederick Pinchbecks die Herzen des Publikums in den Städten von New England, während der britische Illusionist Nicholas Hoare mit seinem Schwein Toby ganz London faszinierte. Im Jahr 1817 veröffentlichte Hoare eine Autobiografie Tobys unter dem Titel The Life and Adventures of Toby the Sapient Pig, with his Opinions on Men and Manners, written by himself. Darin gab Toby Auskunft über die möglichen Ursprünge seiner Begabung: Seine Mutter habe einmal die Bibliothek ihres Besitzers betreten und habe dabei die hinter Glasscheiben stehenden Buchreihen aufmerksam betrachtet, als wollte sie die einzelnen Titel studieren.

Tatsächlich sind Schweine außerordentlich intelligent; ihre kognitiven Kapazitäten wurden schon mit jenen von Primaten oder Delfinen verglichen. Schweine sind neugierig, kreativ, listig und haben einen hoch entwickelten Sinn für räumliche Orientierung. Der Verhaltensforscher Lyall Watson zitiert in diesem Zusammenhang eine Mitteilung von Gilbert White, der eine Sau aus Hampshire beobachtete: „Wenn sie Gelegenheit suchte, sich mit einem Eber zu treffen, pflegte sie alle hinderlichen Tore zu öffnen, ging allein zu einem entfernten Hof, wo ein Eber gehalten wurde, und sobald der Zweck ihres Besuchs erfüllt war, wanderte sie auf demselben Weg wieder zurück nach Hause.“ Noch erstaunlicher wirkt ein Bericht von Sir Walter Gilbey; der Gentleman-Farmer bezeugte einen Umgang der Schweine nicht nur mit Raum, sondern auch mit Zeit und Kausalität. Er sah einmal „eine intelligente Sau im Alter von rund zwölf Monaten, die in einen Obstgarten rannte, zu einem jungen Apfelbaum, den sie schüttelte, während sie ihre Ohren spitzte, um zu hören, ob die Äpfel herunterfielen. Danach las sie die Äpfel auf, um sie zu fressen. Sobald sie fertig war, schüttelte sie den Baum noch einmal, horchte erneut, und wenn keine Äpfel mehr herunterfielen, ging sie fort.“

Sind Schweine die besseren Menschen?

Im Jahr 1954 erschien ein Roman, der zunächst von mehr als zwanzig Verlagen abgelehnt worden war; 1983, also fast dreißig Jahre später, wurde sein Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet: der ehemalige Lehrer William Golding. Der Roman trug den Titel Lord of the Flies, Herr der Fliegen. Er schildert die Geschichte einer Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Jungen, die aufgrund eines nicht näher charakterisierten Atomkriegs evakuiert werden, aber mit dem Flugzeug über einer unbewohnten Südseeinsel abstürzen. Die Gruppe spaltet sich: Einige Jungen, unter der Führung von Ralph, der das Muschelhorn bläst, bemühen sich um ein Feuer, dessen Rauch zur Entdeckung und möglichen Rettung führen soll; ein anderer, zunehmend anwachsender Teil der Gruppe, unter der Führung von Jack, geht auf die Jagd – und nutzt das Feuer zur Fleischzubereitung. Gejagt werden wilde Schweine, wie sie tatsächlich auf den Inseln der Südsee vorkommen; davon hatte bereits der Ethnologe Bronisław Malinowski in seinen Feldforschungsberichten von den Trobriand-Inseln erzählt.

Als etwa zu Beginn des 16. Jahrhunderts die ersten europäischen Seefahrer auf der Insel Neuguinea landeten, waren die Schweine schon seit Jahrtausenden da. Es ist nicht ganz klar, wie sie dorthin gekommen sind; vielleicht wurden sie von Zuwanderern mitgenommen, vielleicht kamen sie aus Südostasien und eroberten schwimmend in Etappen – denn Schweine sind, wie bereits erwähnt, ausgezeichnete, leidenschaftliche Schwimmer – die pazifische Inselwelt. Sie werden von den Insulanern frei gehalten; tagsüber laufen sie in die Wälder, abends kehren sie freiwillig wieder zurück. Geschlachtet werden sie nur zu größeren Festen und Begräbnissen. Diese Beobachtungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass Schweine nicht von Anfang an als Nutztiere und Nahrungsquellen gehalten wurden, sondern aufgrund ihrer hohen Geselligkeit. Schweine haben sich offenbar zwanglos in die Gruppen der Jäger und Sammlerinnen auf den Südseeinseln eingegliedert; nach der Geburt erhalten Ferkel feierlich einen Namen, die Frauen tragen sie – wie Babys – eng am Körper und säugen sie gelegentlich. Während ihrer Feldforschungen bei den Eipo im zentralen Hochland auf West-Neuguinea haben die Ethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Wulf Schiefenhövel (im Jahr 1975) den alltäglichen Umgang mit Schweinen filmisch dokumentiert. Wir können sehen, wie Schweine an der Leine geführt, im Arm getragen oder in Netzen herumgeschleppt werden; Kinder, Frauen und Männer spielen mit den Tieren. Am Abend betreten sie gemeinsam die Wohnhütte. Die Schweine sind immer dabei; die Stimmung wirkt friedlich.

Die jagende Jungengruppe in Herr der Fliegen, ursprünglich ein Schülerchor, ist freilich nicht erfahren im Handwerk der Erlegung von Wildtieren. Sie kämpfen mit zugespitzten Stöcken und Messern, mit wachsender Brutalität. Ein erster Versuch scheitert: „‚Man sticht ein Schwein ab’, erklärte Ralph hitzig. ‚So sagt man doch, ein Schwein abstechen.’ ‚Man schneidet ihm die Kehle durch, damit das Blut rauskommt’, sagte Jack, ‚sonst kann man das Fleisch nicht essen.’ ‚Warum hast du nicht …?’ Sie wussten nur zu genau, warum Jack nicht zugestochen hatte: Wegen der Ungeheuerlichkeit, das Messer zu senken und in lebendiges Fleisch zu schneiden, wegen des unerträglichen Blutes.“ Doch die Hemmungen schwinden bald, wie Jack einige Tage danach erzählt: „‚Wir haben uns verteilt. Ich bin auf Händen und Knien rangekrochen. Die Speere sind wieder rausgefallen, weil da keine Haken dran sind. Das Schwein ist weggerannt und hat fürchterlichen Krach gemacht …’ ‚Es hat sich umgedreht und ist voller Blut in den Kreis gerannt –’ Jetzt redeten alle Jungs erleichtert und aufgeregt durcheinander. ‚Wir sind immer näher ran –’ Der erste Treffer hatte die Hinterläufe gelähmt, deshalb konnte sich der Kreis schließen und immer wieder zuschlagen. ‚Ich hab ihm die Kehle durchgeschnitten –’ Die Zwillinge, die noch immer grinsten, sprangen auf und rannten umeinander. Dann schloss sich ihnen der Rest an, und alle machten die Todesschreie des Schweins nach und tobten. ‚Einen auf die Rübe!’ ‚Und einen voll in die Fresse!’ Dann tat Maurice so, als sei er das Schwein und rannte quiekend in die Mitte, und die Jäger, die ihn umringten, taten so, als würden sie ihn schlagen. Sie tanzten und sangen: ‚Stecht das Schwein. Schlitzt es auf. Schlagt es tot.’“

Aus dem Tanz entwickelt sich bald ein Ritual; die Regression wird beschleunigt durch Alpträume und die Entdeckung eines „Monsters“, in Wirklichkeit des toten Piloten, der mit dem Fallschirm – der sich rhythmisch im Wind bläht – abgesprungen ist. Die Jäger wollen das „Monster“ mit einer Art von Opfergabe besänftigen; so spießen sie den Kopf einer Muttersau, die sie getötet haben, auf einen Stock. „Jack hielt den Schweinskopf hoch und drückte die weiche Kehle auf das spitze Ende, das sich bis ins Maul bohrte. Er machte einen Schritt zurück, der Kopf hing da, und etwas Blut lief an dem Stock herunter. Ganz instinktiv wichen auch die Jungs zurück; es war ganz still im Wald. Sie lauschten, das Lauteste waren die Fliegen, die um die Eingeweide summten. (…) Jack sagte laut: ‚Dieser Kopf ist für das Monster. Eine Gabe.’ Die Stille nahm die Gabe an und schüchterte sie ein. Der Kopf mit den matten Augen blieb zurück, grinste leicht, und das Blut zwischen den Zähnen färbte sich schwarz.“ Später wird der verfaulende Schweineschädel auch zu einem Jungen namens Simon sprechen; und der Kopf – inzwischen ein Totemgott, der Herr der Fliegen – wird ihm spöttisch versichern: „Ich bin ein Teil von dir? Warum, ganz warm, ganz, ganz warm! Ich bin der Grund, warum das Ganze keinen Erfolg hat? Warum die Dinge so sind, wie sie sind?“ Wahnsinn greift um sich; die Gruppe der von Ralph geführten Jungen, die sich um Unterkünfte und ein Rettungsfeuer bemühen, wird immer kleiner. Zum Ende wird der klügste Junge – ein dicker Bub mit einer Brille, der wie ein erfolgloser Aufklärer im Dschungel zu wirken versucht – in einem pervertierten Opferritual umgebracht. Von Anfang an wird dieser Junge mit einem bösen Spitznamen gerufen: Piggy, das Schweinchen. Die Schweine – so lehrt Golding, der seinen Roman zur Zeit der US-amerikanischen Atombombentests in der Südsee, auf den Bikini-Atollen, verfasst hatte –, die Schweine sind die besseren Menschen.

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Sind Menschen Schweine?

In gewisser Hinsicht bildet Der Herr der Fliegen auch die Antwort auf einen anderen Roman, der bereits zum Kriegsende 1945 – dem Jahr der ersten Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki – veröffentlicht wurde: George Orwells Animal Farm. Die Fabel erzählt vom Aufstand der Tiere auf einer Farm, die den stets betrunkenen Bauern Jones vertreiben und die Macht ergreifen. Sie erlassen sieben Gebote des Animalismus: Diese „Gebote wurden in großen, weißen Buchstaben an die geteerte Wand geschrieben, so daß man sie aus dreißig Metern Entfernung lesen konnte. Sie lauteten wie folgt: (…) 1. Alles was auf zwei Beinen geht, ist ein Feind. 2. Alles was auf vier Beinen geht oder Flügel hat, ist ein Freund. 3. Kein Tier soll Kleider tragen. 4. Kein Tier soll in einem Bett schlafen. 5. Kein Tier soll Alkohol trinken. 6. Kein Tier soll ein anderes Tier töten. 7. Alle Tiere sind gleich.“ Aber auch die Gruppe der Tiere bleibt nicht homogen; am Ende übernehmen die Schweine die Macht; und an der Wand steht nur noch ein einziges Gebot, das lautet: „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher. Danach erschien es nicht weiter befremdlich, als am nächsten Tag die Schweine, die die Farmarbeit beaufsichtigten, Peitschen in den Haxen trugen. Es erschien auch nicht weiter befremdlich zu erfahren, daß sich die Schweine einen Rundfunkempfänger gekauft hatten, Schritte zum Anschluß eines Telefons unternahmen und auf die Zeitschriften John Bull, Tit-Bits und den Daily Mirror abonniert waren. Es erschien nicht weiter befremdlich, als man Napoleon mit einer Pfeife im Maul im Farmhausgarten schlendern sah – nein, nicht einmal, als die Schweine Mr. Jones Garderobe aus dem Kleiderschrank holten und sie anlegten; Napoleon präsentierte sich in einer schwarzen Joppe, gelbbraunen Breeches und Ledergamaschen, wohingegen sich seine Lieblingssau in einem moirierten Seidenkleid sehen ließ, das Mrs. Jones an Sonntagen zu tragen gepflegt hatte.“

Orwells Roman wurde zumeist als Parabel für die Geschichte der Sowjetunion gelesen. Old Major, der alte weiße Eber, der nach einem Traum die Revolte predigt, aber bald danach stirbt, repräsentiere Karl Marx und Lenin in Personalunion; der Berkshire-Eber Napoleon symbolisiere Stalin, und der weiße Eber Snowball Leo Trotzki. Das kleine, dicke, rhetorisch begabte Schwein Squealer – in der deutschen Fassung „Schwatzwutz genannt, mit kugelrunden Backen, Zwinkeräuglein, flinken Bewegungen und einer schrillen Stimme“ – sollte Molotow verkörpern, während Hitler mit Mr. Frederick, dem raffinierten Besitzer der Knickerfeld-Farm, einem zähen und gerissenen Mann, „der andauernd in Prozesse verwickelt war und in dem Ruf stand, bei Geschäften rücksichtslos seinen Vorteil zu wahren“, assoziiert wurde. Frederick macht anfangs Geschäfte mit der Farm der Tiere; danach greift er sie an und versucht sie zu vernichten. Der Esel Benjamin vertrete den skeptischen Intellektuellen, der Rabe Moses die russisch-orthodoxe Kirche. Ob diese Lesarten alle stimmen, ist vermutlich unwichtig; immerhin kaufte die CIA nach dem Tod Orwells (am 21. Januar 1950) die Filmrechte, um den Stoff für antikommunistische Propaganda nutzen zu können. 1954, im selben Jahr, in dem Lord of the Flies gedruckt wurde, kam Animal Farm als Zeichentrickfilm von John Halas und Joy Batchelor in die Kinos. Nur der Schluss wurde geändert: Im Film propagieren die Schweine eine „animalische Weltrevolution“, die auf jedem Bauernhof die Schweine an die Macht bringen soll, während die anderen Tiere immer mehr hungern und arbeiten müssen. Zuletzt beginnen daher die unterdrückten Tiere eine neue Revolution gegen die Herrschaft der Schweine. Orwell hatte dagegen seine Fabel mit pessimistischen Tönen abgeschlossen; Schweine sind nicht die besseren Menschen, sondern Menschen lassen sich vielmehr von Schweinen gar nicht unterscheiden. Der letzte Satz von Animal Farm lautet: „Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch war es bereits unmöglich zu sagen, wer was war.“

Porcophobie und Porcophilie

Orwells Schlusspointe könnte verallgemeinert werden. Christopher Hitchens, neben Richard Dawkins bis zu seinem Tod am 15. Dezember 2011 einer der wichtigsten Wortführer des Atheismus, hat die traditionellen Schweinefleischverbote im Nahen Osten auf die Bekämpfung von Menschenopfern zurückgeführt. Er bemerkte: „Kinder, die nicht von Rabbis und Imamen negativ beeinflusst wurden, fühlen sich zu Schweinen hingezogen, vor allem zu Ferkeln, und Feuerwehrleute essen für gewöhnlich nicht gerne Schweine- oder Krustenbraten. In der Landessprache Neuguineas und andernorts war der barbarische Ausdruck für gegrilltes Menschenfleisch ‚langes Schwein’: Ich selbst habe dieses Geschmackserlebnis nie gehabt, doch offenbar schmecken wir, als Gericht, ganz ähnlich wie Schweine. (…) Dass der Mensch sich zum Schwein hingezogen und von ihm abgestoßen fühlte, hatte einen anthropomorphen Ursprung: Das Aussehen des Schweins, der Geschmack des Schweins, die Todesschreie des Schweins und die offensichtliche Intelligenz des Schweins erinnerten allzu unangenehm an den Menschen. Die Porcophobie – und die Porcophilie – hat demnach wahrscheinlich ihren Ursprung in der düsteren Zeit der Menschenopfer und sogar des Kannibalismus, auf den die ‚heiligen’ Texte verschiedentlich recht deutlich hinweisen.“ Eine erschreckende These! Denn in globaler Perspektive ist Schweinefleisch nach wie vor das beliebteste Fleisch. Weltweit werden jährlich mehr als hundertzehn Millionen Tonnen produziert; und im Laufe ihres Lebens verzehren etwa die Deutschen durchschnittlich vier Rinder und vier Schafe, aber immerhin 46 Schweine. Vielleicht hat auch darum die Silikon-Skulptur The Young Family, die Patricia Piccinini, eine in Sierra Leone geborene australische Künstlerin, im Jahr 2002 präsentierte, soviel Aufsehen und Entsetzen erregt. Auf ihrer Webseite erklärte die Künstlerin: „Wenn wir The Young Family betrachten, sehen wir eine mütterliche Kreatur mit ihren Babys. Ihr Gesichtsausdruck ist sehr nachdenklich. Ich stelle mir vor, dass diese Kreatur für Organtransplantationen gezüchtet wurde. Gegenwärtig versuchen wir solche Dinge mit Schweinen, darum verlieh ich ihr eine schweineähnliche Erscheinung.“ Wie nah und fern zugleich sind uns die Schweine! ■

Thomas Macho
Thomas Macho war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2016 Leiter des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Zum Thema von ihm erschienen: Schweine. Ein Portrait (Matthes & Seitz, 2015). Zuletzt von ihm erschienen: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne (Suhrkamp, 2017).
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Sylvain Estibal: Das Schwein von Gaza (2011)

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Ein Gedanke zu „Das Schwein | von Thomas Macho

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