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Der Staat
Macht Zwang Ordnung?
Text: Michael Nerurkar
Es scheint uns selbstverständlich, dass wir in Staaten leben. Doch was ist überhaupt ein Staat? Welche politische Form sollte ein Gemeinwesen haben? Wie soll Macht verteilt und beschränkt werden? Dies sind zentrale Fragen der politischen Philosophie. Der Sinn, sich mit dieser Denktradition zu beschäftigen, liegt jedoch weniger darin, dank ihr die richtigen Antworten zu finden. Vielmehr schafft sie ein Verständnis für die Selbstverständlichkeiten der eigenen Zeit und versetzt uns in die Lage, hinsichtlich der großen Fragen einen eigenen Standpunkt zu finden.
Einer der Gründe für die der Philosophie nachgesagte Lebensweltferne liegt darin, dass philosophisches Denken gerade dasjenige in Frage stellt, was in der alltäglichen Lebenswelt als selbstverständlich gilt und gelten muss. Zu diesen alltäglichen Selbstverständlichkeiten gehört auch die Tatsache, dass Menschen in Staaten leben und dass diese Staaten eine ganz bestimmte (demokratische) Staatsform aufweisen müssen. Neuerdings ist jedoch immer häufiger die Rede davon, dass wir uns in einer Orientierungskrise des Politischen oder auf dem Weg in eine solche befinden. Ein wesentliches Merkmal einer Orientierungskrise ist aber gerade, dass die bisherigen Selbstverständlichkeiten fragwürdig werden. In diesem Moment zeigt sich die Bedeutung der Philosophie auch fürs Lebensweltliche. Um nachzuvollziehen, was mit einer Krise des Politischen in Frage steht, ist zunächst auf die in diesem Feld wirkmächtigsten Denker des 17. und 18. Jahrhunderts zurückzugehen, die hier die philosophischen Grundlagen gelegt haben und unser Denken bis heute bestimmen.
Thomas Hobbes: Leviathan
Mit seinem Werk Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil läutet der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) eine neue Epoche in der politischen Philosophie ein. Das Neuartige seines Ansatzes liegt dabei nicht im Gegenstand seiner Untersuchungen, sondern in der Perspektive und den Voraussetzungen, die seine Theorie bestimmen. Über Fragen des Politischen haben Philosophen seit jeher nachgedacht und Theorien entworfen. Hobbes aber tut dies unter Gesichtspunkten, die weder bloß historisch oder anthropologisch, noch ethisch oder theologisch sind, und er macht auch nur wenige diesbezügliche Voraussetzungen. Er fragt nicht, warum Menschen irgendwann begonnen haben, Staaten zu bilden, oder welche Staatsform menschliche oder höhere Zwecke am besten verwirklicht (wie etwa Platon oder Aristoteles dies tun) oder wie Macht sich erwerben und sichern lässt (wie Machiavelli). Hobbes’ Interesse gilt der Legitimität von Staat und Macht: Warum sollte es überhaupt Staaten geben? Warum sollten Menschen durch andere Menschen beherrscht werden dürfen? Lässt sich dies rechtfertigen oder handelt es sich dabei immer um illegitime Unterdrückung? Um Hobbes’ Überlegungen nachzuvollziehen, ist zunächst der begriffliche Rahmen zu klären, in dem er sich bewegt: Was also ist für ihn ein Staat und wie begreift er den Menschen?
Alle Staaten zwingen ihre Bürger zu bestimmten Verhaltensweisen und halten sie von anderen ab. Lässt sich dergleichen aber rechtfertigen?
Hobbes’ Begriff von Staatlichkeit dürfte weitgehend konsensfähig sein: Ein Staat existiert dort, wo Menschen auf einem Gebiet unter Gesetzen stehen, die ihr Verhalten regeln und Institutionen etablieren. Gesetze fallen allerdings nicht einfach vom Himmel, sondern sind Setzungen eines Gesetzgebers. Da dieser auch in der Lage sein muss, seine Gesetze durchzusetzen (durch Androhung und Zufügung von Strafen), gehen mit staatlicher Ordnung immer auch Zwänge einher, die den Bürgern als Beschränkung ihrer individuellen Freiheit erscheinen.
Was das seiner Philosophie zugrunde gelegte Menschenbild angeht, ist Hobbes ein echter Vertreter der frühen Neuzeit, in der bekanntlich das Subjekt ins Zentrum aller Kontexte rückt: Er begreift den Menschen als freies Individuum, das rational denken kann, zugleich aber auch Interessen und Bedürfnisse hat, zu deren Erfüllung es handelt. Freiheit ist hier zunächst in dem ganz einfachen und elementaren Sinne zu verstehen als die Möglichkeit und das Recht, zu tun und zu lassen, was man will. Es ist der große, emanzipatorische Gedanke, dass der Mensch „frei geboren“ ist: Sprich, da er nicht in irgendwelche Pflichten hineingeboren ist, gehört er niemandem außer sich selbst. Die Kehrseite ist, dass individuelle Freiheit schädlich für andere werden kann – die Freiheit des einen bedroht bekanntlich die Freiheit des anderen.
Dies gilt auch für staatliches Handeln, sodass sich mit dem Gedanken eines Freiheitsrechts die Frage aufwirft, was Menschen – mögen sie auch unter der Bezeichnung „Staat“ oder „Regierung“ auftreten – dazu berechtigen könnte, andere zu etwas zu zwingen. Man mag hier zunächst nur an Sklaverei denken, doch hat überhaupt jedes Gesetz einen Zwangscharakter: Alle Staaten zwingen ihre Bürger zu bestimmten Verhaltensweisen und halten sie von anderen ab. Lässt sich dergleichen aber rechtfertigen? Denn ohne Rechtfertigung handelt es sich im Kern doch nur um die Unterdrückung Schwächerer durch Stärkere, sei das Leben in einer solchen Situation auch noch so angenehm. Und ob angenehm oder nicht, die auf solche Weise Beherrschten befinden sich in einer Lage, die Hobbes als Naturzustand bezeichnet.
Der Naturzustand
Als Naturzustand stellt Hobbes sich die Situation von Menschen unter besonderen Bedingungen vor, nämlich unter Abwesenheit jeglicher staatlicher Ordnung. Die Bezeichnung ist nicht im Sinne einer Beschreibung der „natürlichen“ Lebensweise von Urmenschen oder Naturvölkern zu verstehen, vielmehr handelt es sich um eine normative Überlegung: Hobbes’ Naturzustand ist eine Situation, in der keinerlei positives Recht (das heißt keinerlei menschliches Gesetz) besteht und die deshalb das genaue Gegenteil des staatlichen Zustands darstellt. Hobbes fragt dann: Welche Folgen hat die Abwesenheit von Gesetzen? Welchen Normen unterstehen Menschen dann überhaupt noch und welches Verhalten erscheint in einer solchen Situation als vernünftig?
Als Naturrecht werden moralische Rechte und Pflichten bezeichnet, die unabhängig von menschlicher Gesetzgebung bestehen, die also auch im außerstaatlichen Naturzustand gelten würden. Man kann darüber streiten, ob es dergleichen überhaupt gibt (und eine Begründung von naturrechtlichen Normen ist äußerst schwierig), Hobbes’ Theorie kommt jedenfalls mit vergleichsweise geringen diesbezüglichen Voraussetzungen aus: So das bereits angesprochene Freiheitsrecht, dann aber auch, dass Menschen prinzipiell verpflichtet sind, sich an Abmachungen und Verträge zu halten – allerdings sei der Einzelne, wenn er sich nicht darauf verlassen kann, dass andere dies ebenfalls tun, von dieser Pflicht entbunden.
Hobbes argumentiert, dass Menschen nur durch Angst vor Strafen dazu gebracht werden können, anderen nicht zu schaden und vertrauenswürdig zu sein. In Abwesenheit von Gesetzen dagegen, deren Übertretung bestraft werden könne, müsse jeder damit rechnen, von seinen Mitmenschen übervorteilt und unterworfen zu werden. Im Naturzustand ist es daher laut Hobbes ein Gebot der Klugheit, keinem zu vertrauen. Mehr noch: In einer solchen Situation ist es vernünftig und moralisch zulässig, sich selbst genau so zu verhalten, denn, so Hobbes, „wegen des gegenseitigen Mißtrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr, als seine Selbsterhaltung erfordert und ist allgemein erlaubt“.
Was sich damit ergibt, fasst Hobbes in seiner bekannten Formel bellum omnium contra omnes zusammen: Ein Krieg eines jeden gegen jeden, der nur durch eine „allgemeine, alle im Zaum haltende Macht“ aufgehoben werden kann. Krieg meint dabei nicht lediglich Kampfhandlungen, sondern die jederzeitige Bereitschaft der Menschen, ihre eigenen Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Diese Bereitschaft ist es, die laut Hobbes in den Griff gebracht werden muss. Sie ist es, die er mit einer anderen, ebenfalls sprichwörtlich gewordenen Formel auf den Punkt bringt: homo homini lupus est, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Er ist dies allerdings nicht aus Bosheit, sondern aus berechtigtem Eigeninteresse, Angst und Selbstschutz. Berechtigt oder nicht, einem solchen Wolf ist jedenfalls nicht zu vertrauen. Das grundsätzliche gegenseitige Vertrauenkönnen aber ist für menschliche Gesellschaft von zentraler Bedeutung, denn ohne solches ist keine echte Kooperation möglich. Die Folgen für Sicherheit und Wohlstand der Menschen im Naturzustand liegen auf der Hand: „In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seewege eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes.“
Hobbes sieht klar, dass sich überhaupt alle zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften auf Vertrauen und Kooperation gründen. Im Naturzustand gibt es daher all dies nicht und die menschliche Existenz ist, so eine dritte Hobbes’sche Wendung, „nasty, brutish, and short“, schrecklich, tierisch und kurz. Dieser Lage zu entgehen oder sie zu vermeiden, könne daher, so Hobbes, nur im Interesse jedes Menschen liegen. Ein gewisses Mindestmaß an Rationalität vorausgesetzt, würde jeder das auch einsehen und einen Ausweg suchen. Hobbes meint, mit seinem Leviathan diesen Ausweg gewiesen zu haben.
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Der Staat
Anhand seiner Naturzustands-Überlegung führt Hobbes vor, dass nur ein starkes Gewaltmonopol, eine „alle im Zaum haltende Macht“, diesen Zustand beenden kann, denn nur eine solche kann die Menschen zuverlässig davon abhalten, sich gegenseitig zu schaden. Wann aber kann ein Staat ein solches Gewaltmonopol beanspruchen? Was unterscheidet einen legitimen Staat von einem Gewaltherrscher, der anderen seinen Willen aufzwingt? Wie entsteht ein rechtmäßiger Staat?
Der Gedanke mag zunächst naheliegen, dass sich im Krieg eines jeden gegen jeden eben irgendwann einer durchsetzen und die anderen unterwerfen muss, um sie dann zur Gewaltlosigkeit zu zwingen. Zu bedenken ist jedoch, dass derjenige, der seine Macht über andere auf diese Weise erlangt hat, sie damit noch nicht aus dem Naturzustand herausführt. Sie mögen dann zwar zum Frieden gezwungen sein, doch wie die Geschichte lehrt, ist solcher Friede doch nur zeitweilig und ein Gewaltherrscher löst den anderen ab. Gewaltsame Unterwerfung ist gerade das, was den Naturzustand ausmacht und die Beendigung des Naturzustandes kann nicht durch einen Akt geschehen, der geradezu den Naturzustand definiert. Ein legitimer Staat im Sinne Hobbes muss also auf andere Weise zustande kommen und dennoch eine Lösung finden, wie Menschen den Gesetzen unterworfen werden können. Da staatliche Ordnung im Wesentlichen darin besteht, dass Menschen unter Gesetzen stehen, kann sich der Übergang aus dem Naturzustand in den staatlichen Zustand nicht ohne Unterwerfung vollziehen. Der Unterschied zum Gewaltherrscher muss daher in der Art und Weise dieser Unterwerfung liegen: Es darf sich nicht um eine Unterwerfung durch Gewalt handeln, sondern muss eine freiwillige Selbstunterwerfung sein.
Warum aber sollte jemand aus freien Stücken seine eigene Freiheit aufgeben? Ein solcher Akt könnte vom Standpunkt des Einzelnen überhaupt nur dann als vernünftig erscheinen, wenn er dafür im Gegenzug etwas erhält, was für ihn einen noch größeren Wert hat: Das aber ist, so Hobbes, zunächst einmal sein bloßes Leben und Überleben. Der Einzelne wird, wenn er hinreichend rational ist, seine ihm von Natur aus zukommende Freiheit aufgeben, sofern ihm im Gegenzug dafür Sicherheit garantiert ist. Hobbes kann dies annehmen, weil in einer vernünftigen Präferenzordnung eines Individuums alle sonstigen denkbaren Güter dem Leben nachgeordnet sind: Freiheit, Besitz, Reichtum, Ansehen usw. kann nur derjenige haben und genießen, der überhaupt lebt. Er meint allerdings nicht, dass alle Menschen sich tatsächlich auch dementsprechend verhalten, sondern lediglich, dass sie es tun sollten, da dies die rationalste Verhaltensweise ist, und dass sie – einen gewissen Grad an Rationalität vorausgesetzt – dies auch einsehen und entsprechend handeln würden.
Hobbes argumentiert also für einen Tausch von Freiheit gegen Sicherheit. Dies ist dann der Sinn des berühmten Gesellschaftsvertrags, mit dem ein solcher Tausch vollzogen und der Naturzustand beendet wird. Allerdings wirft dies ein Problem auf: Jeder Vertrag setzt gegenseitiges Vertrauen voraus. Warum aber sollte jemand, der sich im Naturzustand befindet, irgendwem vertrauen, sich ihm gar freiwillig unterwerfen? Sagt nicht Hobbes selbst, im Naturzustand könne, ja sollte klugerweise keiner keinem vertrauen? Der Wortlaut des Hobbes’schen Gesellschaftsvertrags gibt hier Aufschluss: „Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst.“
Hobbes’ Idee ist, dass sich in dem Augenblick, in dem alle Individuen zugleich sich aus freien Stücken einer Macht unterwerfen, ihre Selbstverpflichtungen auch definitiv verbindlich werden. Nur so entsteht für Hobbes ein echter Staat, den er in Anlehnung an biblische Mythologie „Leviathan“ nennt: „Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken.“ Erst dieser Leviathan-Staat ist dann auch stark genug, die innere und äußere Sicherheit tatsächlich zu gewährleisten: „Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.“
Machtübertragung und Selbstunterwerfung stehen allerdings unter zwei Bedingungen: zum einen, dass alle dies tun, zum anderen, dass der Staat ihre Sicherheit auch tatsächlich gewährleistet, denn eben hierin liegt das eigentliche Motiv für dessen Zustandekommen: „Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über Andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen – das heißt dem elenden Kriegszustand zu entkommen“.
Die Schutzpflicht des Staates
Hobbes entwickelte eine Reihe von Gedanken, die von späteren Autoren – so von John Locke (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – aufgegriffen und fortgeführt wurden, und die auch heute noch die politische Philosophie wesentlich prägen: Freiheit, Naturzustand und Gesellschaftsvertrag. Die Staatsform, für die Hobbes in seinem Leviathan argumentiert, dürfte allerdings für viele verstörend oder abstoßend sein: Die Machtfülle des Staates über seine Bürger muss laut Hobbes unbegrenzt sein und man wird hier von absoluter Monarchie oder Diktatur sprechen dürfen. Entgegen dem unsere Zeit beherrschenden Vorurteil ist die Frage, welches die beste Staatsform ist, allerdings nicht ohne Weiteres zu entscheiden – und die Antwort ist alles andere als selbstverständlich. Locke etwa argumentiert dann für eine konstitutionelle Demokratie, Rousseau für eine totalitäre direkte Demokratie. Was die praktische Realisierung von Überlegungen der politischen Philosophie angeht, kann die Verfassung der Vereinigten Staaten sicherlich als eine Verwirklichung Locke’scher Ideen verstanden werden und von Rousseaus Kollektivismus und seinem metaphysischen Gemeinwillens-Konzept aus lässt sich eine Linie über die französische Revolution bis zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ziehen.
Wofür sonst, wenn nicht für Sicherheit, sollten Menschen ihre Freiheit freiwillig aufgeben?
Auf welchen dieser und anderer großer Denker der politischen Philosophie man sich aber auch berufen mag: Fast immer wird die Sicherheit der Bürger als die zentrale Aufgabe des Staates gesehen und die Legitimität der staatlichen Macht hierauf gegründet. Ist der Staat nicht fähig oder willens, diese Leistung zu erbringen, so verliert er auch seine Legitimität und die Menschen fallen – im normativ-rechtlichen wie im faktischen Sinne – in den Naturzustand zurück.
Deshalb ist es auch so problematisch, wenn Politiker und andere neuerdings behaupten, es gebe kein Grundrecht auf Sicherheit. Ein solches folgt als Schutzpflicht des Staates schon aus Artikel zwei des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Doch selbst wenn eine solche Deutung des Grundgesetzes nicht haltbar wäre, würde doch noch immer die folgende staatsphilosophische Überlegung greifen: Daraus, dass die Selbstunterwerfung des Einzelnen – seine Rechtstreue – gerade an die staatliche Gewährleistung von Sicherheit geknüpft ist (was freilich keine Garantie absoluter Sicherheit ist), ergibt sich ein naturrechtlich fundiertes Recht, welches sogar über dem Grundgesetz selbst steht. Der Bürger ordnet sich deshalb dem Staat ein, weil dieser ihm innere und äußere Sicherheit verspricht. Wird diese nicht gewährleistet – sei es aus Unfähigkeit oder Unwillen – so verliert der Gesellschaftsvertrag seine Grundlage. Wodurch sonst, wenn nicht durch diese Sicherheitsgarantie, sollte staatliche Macht legitimiert sein? Wofür sonst, wenn nicht für Sicherheit, sollten Menschen ihre Freiheit freiwillig aufgeben? Diese Grundfragen der politischen Philosophie müssen diejenigen beantworten können, die behaupten, es gebe kein Grundrecht auf Sicherheit – denn sie unterminieren damit anderenfalls die Legitimität der staatlichen Ordnung, das heißt, sie tragen dazu bei, den Naturzustand herbeizuführen. ■
Dr. Michael Nerurkar ist Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zu Informationstechnologien, lehrt Philosophie an verschiedenen Universitäten und berät Unternehmen zu ethischen Fragen.
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Thomas Hobbes: Leviathan (Felix Meiner Verlag, 1996)
Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag (Reclam Verlag, 2013)
John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung (Suhrkamp Verlag, 1992)
Alan Ryan: On Politics. A History of Political Thought: From Herodotus to the Present (Allen Lane, 2012)
Dieser Beitrag ist in Ausgabe 02/2018 zum Thema ORDNUNG in der Rubrik TERRAIN erschienen. In dieser Rubrik stellen wir Begriffe, Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
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