Die dunkle Seite des „smart everything“ | Tilman Santarius

Die dunklen Seiten des "smart everything"Foto: Unsplash

Die dunkle Seite des „smart everything“

Gesellschaft revolutionieren statt Wachstum generieren

Text: Tilman Santarius

Seit Beginn der modernen Wachstumskritik, die mit der Veröffentlichung des Berichts „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome im Jahre 1972 begann, war die Antwort auf diese Kritik immer: „Lasst uns ein Wachstum der Grenzen anstreben, indem wir effizienter werden!“ Der heilige Gral der Effizienzrevolution wird durch die digitale Revolution nun in eine neue Dimension gehievt: Durch die Digitalisierung nahezu aller Produktions- und Verbrauchsbereiche, durch smart factories, smart shopping, smart meters, ja „smart everything“ können wir die Effizienz unserer Produkte, Infrastrukturen und Lebensgestaltung noch viel besser steigern! Und das mit einer schicken, glänzenden Bedienoberfläche, die das Gefühl vermittelt, das Ganze wäre absolut sauber …

Materielle Produkte lassen sich längst durch virtuelle Dienste ersetzen, etwa Taschenbücher durch die Verwendung von E-Readern. Einige sehen darin bereits das Ziel der Dematerialisierung erreicht. Durch das Herunterladen von E-Books, das Skyping mit weit entfernt lebenden Menschen oder die Verwendung von Lieferservices kann das Verkehrsaufkommen gemindert werden. Wenn Hunderte Kunden ihren Einkauf von einem Lkw angeliefert bekommen – oder von noch effizienteren Drohnen – dann ist das viel ressourcen- und energieeffizienter, als wenn jede Person selber per Pkw zum Einkaufen fährt. Doch die Effizienzhoffnungen gehen noch weiter: Ganze Sektoren der Industrie, die Logistik oder auch die Landwirtschaft lassen sich digital optimieren. Laut einem Bericht der Global e-Sustainability Initiative bieten digitale Lösungen das Potenzial, die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2020 um 16,5 Prozent zu senken. Dies wäre ein deutlich größerer Erfolg als alle bisherigen Gesetze der Klimapolitik. Sollten wir Wirtschaft und Gesellschaft daher nicht radikal durchdigitalisieren, um den Planeten zu retten – und könnten uns zugleich beim Bedienen unserer smarten Geräte entspannen?

Entspannung wäre in der Tat eine gute Idee für den hyperaktiven homo sapiens. Es kann aber sein, dass die Digitalisierung zum genauen Gegenteil führt. Denn der ökologische Fußabdruck der Menschheit wächst weiter, obwohl wir in den letzten Jahren bereits bedeutende Teile unserer Wirtschaft und Gesellschaft digitalisiert haben. Es scheint, dass die Digitalisierung nicht so entspannt-ressourcenschonend ist, sondern die globale Energie- und Ressourcennachfrage lediglich verlagert. Und dabei werden die Effizienzgewinne der Digitalisierung durch steigenden Konsum mehr als wettgemacht.

Debatten über diesen sogenannten Rebound-Effekt gehen auf die Arbeit von William Stanley Jevons im 19. Jahrhundert zurück, die lange Zeit vergessen wurden. Rebound-Effekte treten auf, wenn eine Reduktion des Inputs pro Einheit Output (das heißt Effizienz) einen absoluten Anstieg des Outputs generiert (Wachstum). Bisher gibt es nur sporadische öffentliche Debatten zu diesem Phänomen. Dabei ist es von größter Wichtigkeit zu verstehen, wann und warum Rebound-Effekte auftreten können. Was bedeutet der Rebound-Effekt im Licht der Digitalisierung? Warum haben die vielversprechenden Effizienzverbesserungen in der Summe bisher nicht zu einer deutlich gesunkenen Ressourcennachfrage geführt? Könnte es sogar sein, dass sie zu einer erhöhten Nachfrage durch Rebound-Effekte führen?

Die neuen Strom- und Ressourcenschlucker

Zunächst darf nicht vergessen werden, dass bei der Herstellung all der smarten Geräte und Infrastrukturen Energie und Ressourcen verbraucht werden. Während Computer und Smartphones tendenziell kleiner und leichter werden, bedeutet dies nicht notwendigerweise weniger Materialeinsatz im Produktionsprozess. Die Herstellung kleinerer Geräte ist manchmal sogar noch ressourcenintensiver. Außerdem nimmt die absolute Anzahl der Geräte stetig zu. Für die Produktion von Smartphones und Tablets wurden einer Studie des Öko-Instituts zufolge allein im Jahr 2014 rund 40.000 Tonnen Aluminium, 30.000 Tonnen Kupfer und 11.000 Tonnen Kobalt verbaut, die bekanntlich oft unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen und zu Ausbeuterpreisen im globalen Süden abgebaut wurden. Zugleich steigt der Elektronikabfall kontinuierlich an, von 42 Millionen Tonnen (Mt) weltweit im Jahr 2014 auf prospektiv mehr als 50 Mt im Jahr 2020.

Mit dem aufkommenden Internet der Dinge werden in den kommenden Jahren unzählige internetfähige Gadgets auf den Markt kommen, die den Ressourcenbedarf weiter steigern werden. Hinzu kommt der Stromverbrauch: Je mehr wir beim Arbeiten auf die Digitalisierung setzen, desto mehr setzen wir auf eine wachsende Infrastruktur. Damit steigt der Anteil der Informations- und Kommunikationstechnologien am gesamten weltweiten Stromverbrauch, von elf Prozent heute auf – je nach zugrunde gelegter Studie – etwa 21 Prozent oder sogar 51 Prozent im Jahr 2030. Na klar, jedes einzelne Endgerät wird energieeffizienter – aber gleichzeitig nutzen wir sie öfter am Tag und über längere Zeit zum Surfen auf höheren Bandbreiten in einem expandierenden Netz – zum Beispiel beim Streaming von Filmen.

Bequemer konsumieren heißt oft mehr

Zweitens gibt es finanzielle Rebound-Effekte. Je effizienter die Produktion und der Konsum werden, desto mehr sparen wir Zeit, Geld und Ressourcen, die wir dann in zusätzlichen Konsum stecken können. Beispiel Online-Shopping: Dank des Internets ist es einfach, den besten Preis im nationalen oder sogar globalen Markt zu finden, das Produkt per Doppelklick zu bestellen und es schnell geliefert zu bekommen. Das spart Mühe, Zeit und Geld. Für viele digitale Dienste zahlen wir nicht einmal mehr pro Einheit, sondern für unbegrenzten Zugriff.

So zum Beispiel beim Streaming: Hier geht es nicht mehr um die Frage, wie viel Geld, Zeit oder Ressourcen gespart werden, wenn man ein paar mp3s herunterlädt, anstatt zu einem Geschäft zu fahren und eine physische CD zu kaufen. Heute reichen rund zehn Euro pro Monat an Deezer, iTunes, Spotify oder andere Streaming-Portale, um Millionen von Songs in unsere virtuelle Bibliothek kopieren zu können. Doch das kostet leider deutlich mehr Energie, als sich ein paar CDs zu kaufen. Die Digitalisierung verbessert nicht nur die Effizienz, sondern erhöht auch die Zahl der zur Verfügung stehenden Optionen – und viele von uns sind bestrebt, diese zu nutzen. So wird Effizienzgewinn in neuen Konsum gesteckt.

Gönn dir was!

Zugleich fühlt sich das auf den schicken, glatten Bedienungsoberflächen korrekt und sauber an. Digitalisierter Konsum entfernt uns immer mehr von der Erfahrung, dass wir mit unserem Konsum Energie und Ressourcen verbrauchen. Dies kann selbst bei Verbrauchern, die um Nachhaltigkeit bemüht sind, zu psychologischen Rebound-Effekten führen. Und zwar immer dann, wenn Effizienzverbesserungen als implizite oder explizite Entschuldigung für weiteren Verbrauch genutzt werden. Egal, ob wir tatsächlich Ressourcen sparen oder nicht: Wir spüren weniger kognitive Dissonanzen beim „smarten“ Konsum. Und dann gönnen wir uns gleich noch was Neues.

Tablets und Smartphones werden immer energiesparender durch hocheffiziente Batterien – man muss sie nicht so oft aufladen. Deshalb glauben viele implizit, dass deren Anteil an der gesamten eigenen Stromnachfrage wohl gering sein wird. Flachbildschirme kommen mit einem A+++ Label daher. Und jedes einzelne vernetzte „Ding“ im aufstrebenden Internet der Dinge kommt mit minimalem Energieverbrauch aus. Aber in Wirklichkeit verlagert sich der Stromverbrauch von Endbenutzern zu Rechenzentren, Cloud-Services, Suchmaschinen etc. Der User denkt, die Technologie ist ressourcenschonend, aber der Löwenanteil des Verbrauchs findet in den zugrunde liegenden Infrastrukturen der Informations- und Kommunikationstechnologien statt. Willkommen in der Welt der digitalen Touchscreens, die so weit weg von schmutzigen Kohlekraftwerken und giftigem Elektroschrott ist. Doch leider verschwindet beides dadurch mitnichten.

Das Gleiche gilt für unsere täglichen Handlungen, die wir mithilfe digitaler Technologien effizienter gestalten: Sie bieten oft mehr Komfort und Flexibilität, aber Ressourcen reduzieren sie dabei nur scheinbar. Beispielsweise können wir beobachten, wie sich in einigen Ballungszentren die Anzahl der Pkw in privaten Garagen stabilisiert oder sogar langsam verringert. Doch gleichzeitig wächst der uneingeschränkte Einsatz von Car2Go-Systemen. Ist das umweltfreundlich? Intelligente Haustechnologien können die Heizkosten senken – das ist großartig. Aber was ist, wenn Wohnungen sich zunehmend mit Gadgets wie vernetzten Fensterläden, Outdoor-Sicherheitskameras, sprachgesteuerten Hubs und an der Decke montierten Video-Projektoren füllen? Das ist kein „intelligenter Konsum“, sondern intelligenter Selbstbetrug: Man fühlt sich weniger schuldig, verbraucht aber umso mehr.

Hyperbeschleunigte Gesellschaft

Schließlich führt die Digitalisierung auch zu strukturellen Rebound-Effekten, weil ihre Innovationen und Effizienzsteigerungen die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen verändern, in denen wir leben.

Anwendungen wie Barcodierung, Big-Data-Analysen des Verbraucherverhaltens und Just-in-time-Marketing können die Produktzyklen effizient mit gesellschaftlichen Trends und Moden abgleichen – was allerdings zu einer Verkürzung von Produktlebenszyklen und Moden anstatt einer Verlängerung führen wird. Algorithmen-basierter Börsenhandel organisiert den Tausch von Aktien, Anleihen und anderen Finanzprodukten in Nanosekunden – was zu mehr und nicht weniger Finanztransaktionen führen wird. Ganz zu schweigen davon, dass Kommunikation via E-Mail und Social Media uns Tag und Nacht produktiv hält. Sie haben seit zwei Stunden eine unbeantwortete Nachricht in Ihrem Posteingang? Wahrscheinlich sind bereits drei Erinnerungen und eine besorgte Nachfrage hinterhergekommen, ob Sie überhaupt noch am Leben sind. Die Digitalisierung ist ein weiterer „großer Beschleuniger“ der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und wird mehr Leistung aus unserem Leben herausquetschen. Wie Marx schon formuliert hat, gilt dabei: Alle Ökonomie ist letztlich Zeit-Ökonomie. Die Digitalisierung bietet gewissermaßen die Möglichkeit, die Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen.

Digitalisierung müsste der Suffizienz dienen

Kein Wunder also, dass die wenigen ökonometrischen Studien zu Rebound-Effekten von Informations- und Kommunikationstechnologien nicht nur trotz, sondern aufgrund der Effizienzsteigerungen einen steigenden Energie- und Ressourcenverbrauch prognostizieren. Und das, obwohl diese Studien allesamt nur die sehr eng gefasste Sicht von statischen Nachfrage-Modellen einnehmen. Das viel weitergehende Verständnis davon, wie sich die Effizienz- und Optionensteigerungen der Digitalisierung auf die Höhe der Produktion und des Verbrauchs auswirken, ist also noch unterentwickelt.

So lange ein solches Verständnis aber nicht vorhanden ist, sollten wir uns tatsächlich entspannen – und aufhören zu glauben, wir könnten mit der Digitalisierung den Planeten retten. Es sind nicht nur Großtechnologien wie Atomkraftwerke oder Schaufelradbagger, die unsere Umwelt und unsere Mitmenschen verschleißen, sondern auch die Summe aller der kleinen Geräte, die wir in den Hosentaschen tragen. Es spielt keine Rolle, ob wir versuchen, die Grenzen des Wachstums durch große oder kleine Technologien zu verschieben. Und auch nicht, ob die Werkzeuge, die wir anwenden, smart oder ziemlich „dumm“ sind. In beiden Fällen schlagen sie in Form von Rebound-Effekten zurück.

Anstatt digitale Technologien anzuwenden, um unsere Effizienz zu steigern, sollten wir Digitalisierung nur dann einsetzen, wenn sie zu größerer Suffizienz beim Konsum und beim Lebensstil beiträgt! Das heißt, Digitalisierung sollte so genutzt und gelenkt werden, dass sie es uns ermöglicht – ohne wesentliche Komfortnachteile – mit weniger Konsum, Ressourcen- und Energienachfrage auszukommen. Nur dann wird Digitalisierung dazu beitragen, unseren exorbitanten Naturverbrauch auf ein sozial und ökologisch verträgliches Maß zu senken. Die alles entscheidende Frage müsste also lauten: Wie kann die digitale Revolution neu gedacht werden, um eine Suffizienz-Revolution anzufachen?

Nicht technische, sondern soziale Innovationen fördern!

Eine Antwort darauf finden wir beispielsweise im Handel. Rein theoretisch birgt Online-Shopping zwar Potenziale für Nachhaltigkeit: Öko-faire Waren können einfach und überall bezogen werden und die Lieferung per Post spart Energie gegenüber dem individuellen Einkauf per Auto. Doch in der Summe sorgt „smartes shoppen“ eher für eine Steigerung des Konsums. Stattdessen sollten wir mithilfe der Digitalisierung Möglichkeiten erschließen, um Sharing statt Shopping zu fördern. Anstelle von „Geiz-ist-Geil“-Plattformen zeigen Webseiten wie Kleiderkreisel, DaWanda, FoodSharing oder Couchsurfing, dass Bedürfnisse auf weniger kommerzielle Weise befriedigt werden können. Leider hat die Politik noch nicht begonnen, zusammen mit Verbraucherverbänden und nachhaltigen Unternehmen gezielt Anreize und Regulierungen zu entwickeln, damit kooperative Plattformen zur Entkommerzialisierung der Wirtschaft beitragen.

Gleiches gilt für die Mobilität: Car2Go und Uber wie auch datengetriebene Fahrzeugsteuerung und intelligente Verkehrsleitsysteme erhöhen zwar die Effizienz des Automobilverkehrs, machen ihn aber zugleich attraktiver und kostengünstiger und werden dadurch das Verkehrsaufkommen noch erhöhen. Echtes Potenzial für Nachhaltigkeit haben indessen Anwendungen, die Verhaltensänderungen bewirken beziehungsweise für eine Verlagerung des Verkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel beziehungsweise auf gemeinsam genutzte Fahrzeuge sorgen. Es gilt, multimodale Verkehrs-Apps wie Qixxit, Moovel etc. so weiterzuentwickeln, dass verschiedene öffentliche Verkehrsträger tatsächlich kombiniert und „on the go“ gebucht werden können. Denn dann bietet der ÖPNV eine individuelle Flexibilität, die sogar jene des Autos übertrifft. Aber auch dies geht nicht ohne politische Unterstützung. Und zugleich muss der Automobilverkehr verteuert und entschleunigt werden, anstatt ihn durch andere Formen der Digitalisierung noch zu beschleunigen.

Versuchen wir also nicht länger, den Status quo effizienter zu machen. Der bloße Austausch analoger durch digitale Dienstleistungen und Produkte wird ein Nullsummenspiel bleiben. Bestehende nicht-nachhaltige Produktions- und Konsummuster durch Digitalisierung etwas umweltfreundlicher zu machen, reicht nicht aus. Nur wenn die Digitalisierung soziale Innovationen hervorbringt, kann sie einen Beitrag zur Nachhaltigkeit liefern. Wobei eine der wichtigen Innovationen dabei auch sein dürfte, sich immer mal wieder ganz analog zu entspannen.

Tilman Santarius ist Professor für Sozial-Ökologische Transformation und Nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin und am Einstein Center Digital Future. Von ihm zum Thema erschienen: Der Rebound-Effekt (Metropolis Verlag, 2015), Rethinking Climate and Energy Policies (Springer Verlag, 2016) sowie (zus. mit Steffen Lange) Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit (Oekom-Verlag, 2018). Mehr unter: santarius.de

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 2/2017 der agora42 zum Thema DIGITALISIERUNG erschienen. Weitere Beiträge zu diesem und ähnlichen Themen finden Sie in folgenden Heften: