Editorial der Ausgabe BEFREIUNG
Befreiung – ein schönes Wort. Doch seien wir realistisch: Zunächst bedeutet es Entzug; den Entzug von der Normalität.

Denn niemandem dürfte entgangen sein, dass die Normalität verrückt geworden ist: Da stellt der kollektive Suizid für die meisten Menschen eine Horrorvorstellung dar, und doch sorgen sie systematisch und nachhaltig für die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Da will man die Lebensqualität erhalten oder gar erhöhen und verursacht doch immer mehr Stress und Hektik, weil das Leben bloß an quantitativen Maßstäben ausgerichtet wird. Da gibt man sich aufgeklärt und vernünftig und tut doch alles, um den Wachstumsgott nicht zu erzürnen. Da werden die gläubig und massenhaft produzierten Dinge derart ungleich verteilt, dass überall Unzufriedenheit, Misstrauen und Groll entstehen. Und zur Krönung des Ganzen setzt man auf den technischen Fortschritt als Erlösung von allen Problemen, obwohl er – erstens – viele dieser Probleme erst verursacht und – zweitens – niemand überhaupt anzugeben wüsste, wohin man schreiten will. Befreiung, das kann nur die Befreiung aus diesem ganz normalen Wahnsinn bedeuten.
Was danach kommt, wie die neue Normalität aussehen könnte? Das wissen wir nicht. Aber wir sind erst bereit für sie, wenn wir uns von unserem bisherigen Welt- und Selbstbild verabschiedet haben. So wenig, wie man aus einer kaputten Beziehung heraus die nächste Partnerschaft sinnvoll planen könnte, lässt sich momentan die postquantitative Epoche vorbereiten. Wir werden ins Neue hinausgehen, ohne Masterplan und ohne historisches Vorbild, wir werden um vieles trauern, was einst schön und gut war, wir werden mutig sein und solidarisch und uns als Europäer neu erfinden – oder wir werden verzweifeln.
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3/2018 BEFREIUNG
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