„Wir sollten uns für einen gestalteten Wandel einsetzen“
Interview mit Rainer Totzke
Herr Totzke, im Alltag hat die Befreiung bereits ihren Platz: das Wochenende befreit von den Werktagen, der Urlaub von der Arbeitswelt und die Fußball-WM vom politischen Tagesgeschehen. Befreiung ist für die meisten nur eine Befreiung von etwas – und verweilt damit in der Negation. Ist Ihrer Meinung nach darüber hinaus Freiheit möglich?
Ja, absolut! Ich denke, eine bloß negative Freiheit – als Freiheit von ungerechtfertigten gesellschaftlichen Zwängen – bleibt, so wichtig sie ist, am Ende eigentümlich leer. Ihr liegt die Vorstellung einer rigiden Trennung zweier Dinge zugrunde: der Gesellschaft hier und des Individuums da. Diese Vorstellung aber ist verkürzt, denn sie unterschlägt, dass Gesellschaft zwar auch repressive Dimensionen haben kann, dass sie zunächst aber erstmal im positiven Sinne Vergesellschaftung ist bzw. sein kann. Vergesellschaftung in diesem Sinne bedeutet das Zusammenkommen von Menschen „im gemeinsamen Umgang und Handeln zum Zweck der besseren Verwirklichung der Form der Erfahrung, die dadurch, dass sie gemeinsam ist, vermehrt und bestärkt wird“, wie es der amerikanische pragmatistische Philosoph und Pädagoge John Dewey einmal formuliert hat. Vergesellschaftung in diesem Sinn kann wirkliche Berührungspunkte zwischen Menschen schaffen und vervielfältigen, neue Erfahrungsräume öffnen und so zu einem freieren, weil weniger bornierten individuellen Leben führen. Der Einzelne, der sich Vergesellschaftung verweigern wollte, bliebe ein „Idiot“.
Frei nach Kant ist es unsere größte Freiheit, uns selbst Gesetze zu geben – gemeinhin verbindet man aber das Fehlen von Vorschriften mit Freiheit. Brauchen wir in Zukunft mehr oder weniger Reglementierungen?
Ach, ich weigere mich hier eine pauschale Antwort zu geben. „Reglementierungen“ hat ja per se schon mal eher eine negative Konnotation. In manchen Hinsichten bräuchten wir sicher weniger Reglementierungen – insbesondere da, wo sie nicht so sehr sachlich motiviert sind, sondern primär der Logik der Bürokratie folgen. Aber das im Einzelfall zu unterscheiden ist keineswegs leicht und bedarf unserer Urteilskraft. Wenn ich die Forderung nach „weniger Reglementierungen“ zum Beispiel aus dem Mund von neoliberalen Wirtschaftstheoretikern oder -praktikern höre, möchte ich manchmal eher entgegnen: Nein, wir brauchen hier mehr Reglementierungen – etwa der globalen Finanzmärkte, oder in Bezug auf globale Umwelt- und Sozialstandards, weltweite Arbeitnehmerrechte etc.
Um elementare Veränderungen in unserer Zeit herbeiführen zu können, müssten wir von vielem befreit werden: Dem Verpackungswahnsinn, dem Transportwahnsinn, dem Arbeitswahnsinn, dem Produktionswahnsinn, etc. Ist eine solche Befreiung ohne radikale Eruptionen möglich?
Zunächst die Rückfrage: Wer soll uns denn befreien? Dass wir „befreit werden müssten“ klingt mir irgendwie zu sehr nach einer anonymen Instanz, die „es“ für uns tun könnte oder sollte oder wird. Auch mit der Rede von „radikalen Eruptionen“ tu ich mir schwer. Wer eruptiert denn hier und warum? Fakt ist: ohne radikale Umstellungen in unseren Formen zu wirtschaften, zu arbeiten, zu verpacken und zu transportieren, werden wir als Gattung unser ökologisches Überleben auf dieser Erde nicht sichern können – mal ganz abgesehen von den anderen Spezies auf diesem Planeten, die wir gerade dabei sind, zu Hunderten und Tausenden auszurotten. Ob wir es schaffen, diese radikalen Umstellungen global anzugehen und zu gestalten, vermag ich nicht zu sagen. Ich bin kein Prophet. Wir sollten uns jedenfalls für einen gestalteten Wandel einsetzen! Alle! Jetzt!
In der aktuellen Ausgabe spricht der philosophierende Clown Johannes Galli von den Zwängen, denen wir heute unterliegen: „Ich darf nicht frei denken und ich darf andere Personen nicht nach ihrer wirklichen Meinung, nach ihrem Gefühl fragen. Ich darf ihnen nur auf einer verstandesmäßigen Ebene begegnen.“ Sehen Sie Ihre philosophische Performance als eine Befreiung von solchen Zwängen?
Ich weiß nicht genau, was Johannes Galli mit dem – offenbar als Gesellschaftsdiagnose gemeinten – Befund: „Ich darf nicht frei denken“ meint. In einer bestimmten Hinsicht finde ich das etwas zu pathetisch und überzogen formuliert – und damit auch irgendwie falsch. Natürlich dürfen wir hier in Deutschland grosso modo ziemlich frei denken, was wir wollen – auch, dass die Erde eine Scheibe ist, zum Beispiel. Und wir dürfen das meiste Gedachte sogar ziemlich frei äußern: Man surfe nur mal durch die divergierenden Weltsichten/Gedanken, wie sie Menschen in Deutschland im Internet bzw. in den sozialen Medien tagtäglich veröffentlichen – da ist im chinesischen Internet, oder sagen wir mal im nordkoreanischen Internet (wenn es das gibt) – deutlich weniger „freies Denken“ möglich. Andererseits gibt es natürlich immer auch so was wie „Dispositive“, wie es der französische Philosoph Michel Foucault genannt hat, das heißt gesellschaftlich herrschende Sichtweisen auf Phänomene und untergründig wirkende Regulierungen in den Diskursen, die immer auch auf unser Denken als je einzelne einwirken. Diese unbewussten Regulierungen sollten wir konkret aufspüren und benennen. Das ist ein Teil unserer Arbeit am Erhalt unserer geistigen Freiheit. So verstehe ich die Erläuterungen von Johannes Galli positiv – und seine Praxis als Clown sowieso: Er will uns als Clown „unsere“ Dispositive enthüllen – etwa das Dispositiv, dass wir uns in allzu vielen Bereichen unserer Gesellschaft als Menschen „nur auf einer verstandesmäßigen Ebene begegnen“. Und er zeigt vermutlich auch auf, wie bestimmte gesellschaftliche Institutionen diese Praxis allzu stark fördern. In einer bestimmten Hinsicht geht auch meine eigene performerische Praxis in diese Richtung! Auch ich nutze ja Momente des Clownesken: Maskierungen, Humor, Ironie für eine Befreiung – und Selbstbefreiung – von problematischen Denk- und Kommunikationsschemata. Allerdings scheint mir die Sache mit Gallis untergründigem Appell, wir sollten doch alle mal mehr unsere Gefühle äußern (dürfen) dann wiederum doch nicht so ganz einfach. Denn auch das Äußern von Gefühlen – und das hat Michel Foucault ebenso gezeigt – kann umgekehrt seinerseits auch zum Dispositiv und zum gesellschaftlichen Zwang werden. Früher vor allem in der Kirche – Stichwort: Beichtzwang – und heute zum Beispiel in irgendwelchen übergriffigen Fernsehsendungen, wo Menschen permanent inquisitorisch nach ihrem „wirklichen Gefühl“ gefragt, emotional „ausgequetscht“ und diesbezüglich vorgeführt werden. Insofern ist auch an Helmuth Plessner zu erinnern, der darauf insistierte, dass der Mensch als gesellschaftliches Wesen immer auch ein Schauspieler sein können muss und darf, ein Wesen, das seine Gefühle eben gerade nicht in jeder Situation ungeschützt zeigen muss, ein Distanzwesen.
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