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Einfach leben – oder was wollt ihr?
Text: Constanze Eich
Wie schön wäre es, einfach zu leben, mit leichtem Gepäck, konkret und unmittelbar. Aber gibt es das einfache Leben wirklich? Verbirgt sich hinter dem „Simplify-your-life“ nur ein rentables Marketingkonzept? Und wer meint es wirklich ernst mit dem einfachen Leben? Klar ist: Es ist nicht so einfach, einfach zu leben.
Heute leben wir in einer Gesellschaft, die sich mit den Herausforderungen der Globalisierung auseinandersetzen muss. Hinzu kommen politische Unsicherheiten, ökologische Bedrohungen, ökonomische Krisen und soziale Konflikte, die uns zwar häufig nur indirekt über die Medien tangieren, jedoch zum allgemeinen Unbehagen beitragen. Weil all dies wenig greifbar bleibt, wird es zur diffusen Bedrohung und nährt die Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Eskapismusgedanken und die romantische Überhöhung der Natur sind die Folge: Erdbeeren im eigenen Garten pflanzen, sie ernten, daraus köstlich duftende Marmelade kochen, Holz hacken für den heimischen Kachelofen, die Wohnung entrümpeln und nur noch mit dem leben, was man wirklich braucht, die Ruhe der Natur genießen, den lauten, hektischen Alltag hinter sich lassen – das einfache Leben klingt wie ein Heilsversprechen in einer urbanen, „hyperkomplexen“ Welt, die dem Individuum immer mehr abverlangt.
Ist Einfachheit käuflich?
Im Grunde aber macht den Menschen das Zuviel zu schaffen: zu viel Arbeit, zu viel Kommunikation, zu viel Konsum, zu viele Möglichkeiten, zu viel gleichzeitig, zu viel von allem. Wir befürchten, in den Luxus-Zwängen, die die postmoderne Gesellschaft uns auferlegt, ersticken zu müssen und der Maschinerie des Kapitalismus nur mit Revolte begegnen zu können. Und genau hier beginnen wir, uns in eigenartige Widersprüche zu verstricken und selbst Stereotype zu erschaffen: Zwar streben wir nach der Einfachheit, wünschen uns nichts mehr, als dem Konsumterror ein Schnippchen zu schlagen, doch beim genauen Hinsehen werden aus jenen Einfachheitsbestrebungen nur andere, neue Konsumoptionen geschaffen, die die Wirtschaft nach Herzenslust auskostet. Die wenigsten meinen es richtig ernst mit dem einfachen Leben. Selten geht es darum, auf neue Medien, Smartphone, Internet oder Fernsehen zu verzichten. Außer vielleicht in der Fastenzeit wird an liebgewonnenen Konsum- und Luxusgütern festgehalten. Die Beschränkung auf das Einfache, Ursprüngliche oder Unkomplizierte ist eben nicht etwa einfach, wie man meinen sollte, es erfordert erhebliche Anstrengungen und Entbehrungen.
Zudem profitiert die Wirtschaft von unseren Sehnsüchten, nährt sie und bedient sie, was dazu führt, dass das einfache Leben nur mittels bestimmter Investitionen erreichbar scheint. So ist es kein Wunder, dass der Suchende nach dem einfachen Leben zunächst die passende Lektüre braucht: Einfach leben in 10 Schritten, Simplify your life, … your love, … your time, … your work oder Minimalismus für Dummies. Dann braucht man allerhand neue Geräte und Tools, um wirklich einfach leben oder gar überleben zu können: Outdoorläden schießen überall wie Pilze aus dem Boden und bieten das angemessene Equipment für das einfache Leben feil. Schließlich will man ja in die Natur. Die Berge, einst ein Ort der Stille und Einsamkeit, werden zum Erlebnispark für Wochenendeskapisten und einfache Berghütten avancieren zu Luxusherbergen. Bis an die Zähne ausgerüstete Städter, die in ihrem normalen Leben Highperformer in erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen sind, kämpfen sich über massentauglich ausgebaute Klettersteige und schwärmen hernach von einzigartigen Selbsterfahrungen mit sich in der Natur. Wir investieren in Fahrräder mit Elektroantrieben, die teurer sind als so manches gebrauchtes Auto, kaufen in der Mittagspause völlig überteuerte Stullen oder Suppen, wie Muttern sie einst zubereitete, erfreuen uns an den vielen ökologisch anmutenden Produkten, die uns die Nähe zur Natur vorgaukeln und uns das Gefühl vermitteln, dem kapitalistischen Massenkonsum wirkungsvoll zu entgehen. Zuhause wird dann vielleicht noch ausgemistet und – statt das „Weniger“ zu genießen – in neues Mobiliar investiert, gerne auch von nachhaltigen Designern. Und wenn es in den Urlaub geht, dann sollte es schon der alte VW-Bus sein, mit dem man unerschlossene Gefilde in Kroatien oder Norwegen erkundet, natürlich nicht ohne die neue digitale Spiegelreflexkamera im Gepäck, mit der man eindrucksvoll das einfache Leben dokumentiert und dank WLAN-vernetztem Smartphone alle Facebook-Freunde daran teilhaben lässt. Oder aber man bucht einen Retreat im Zen-Kloster mit Relaxprogramm, Workshops und Vorträgen darüber, wie man am leichtesten aus dem Hamsterrad aussteigen kann.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass das einfache Leben womöglich einfach nur ein weiterer Lifestyle geworden ist. Zwar geht es den Simplifizierern um Abgrenzung von den Konsumjunkies, die völlig unreflektiert, ja geradezu egoistisch „einfach leben“, sich keine Gedanken über Achtsamkeit, Nachhaltigkeit oder Gemeinwohl machen und stattdessen ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit in die Bettenburgen nach Mallorca fliegen, beim Billig-Discounter Unmengen abgepackter Produkte kaufen, die Massentierhaltung durch das Verschlingen von XXL-Schnitzeln unterstützen und unsere Umwelt zerstören. Doch umgekehrt könnte das einfache Leben auch nur als hedonistischer Trend der Hipster oder als zur Schau getragener Individualismus interpretiert werden, der zu mehr sozialer Anerkennung, Aufmerksamkeit oder zu einem temporären neuen Ich führen soll.
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Die Paradoxien der Einfachheit
Der Rückzug in die Einfachheit, wenn auch nur kurzfristig, und die damit einhergehende Besinnung auf sich und das Wesentliche ist seit jeher ein Thema insbesondere der Dichter und Denker. Sehr eindrucksvoll beschreibt zum Beispiel der Philosoph Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert in seinem Werk Walden oder Leben in den Wäldern seinen Rückzug in die Einfachheit. In einer selbstgebauten Hütte am Waldensee suchte er zwei Jahre lang nach einer Antwort auf die Frage: Wie soll ich und wie will ich leben? Interessanterweise war das einfache Leben ein ökonomischer Reinfall, wie der Autor selber konstatiert. Einer seiner Bekannten, der Land geerbt hatte, schrieb an ihn, so Thoreau, „er würde gerne so leben wie ich, wenn er die Mittel dazu hätte.“ Auch Mahatma Gandhi hat insbesondere in seiner zweiten Lebenshälfte ein Leben in totaler Einfachheit geführt. Die Dichterin und Gandhis Nachfolgerin als Präsidentin des Indischen Kongresses, Sarojini Naidu, hatte sich über die Lebensweise des berühmten Asketen folgendermaßen geäußert: „Es kostet das Land ein Vermögen, Gandhi ein Leben in Armut zu ermöglichen.“ Ohne die großzügige Unter- stützung von mächtigen Industriellen wie Ghanshyam Das Birla hätte es wohl kaum die geschützten Meditationsräume, die Ashrams, gegeben. Ebenso muss viel Geld aufgebracht werden, um Papst Franziskus ein Leben in Einfachheit zu ermöglichen. Ist also das einfache Leben purer Luxus oder am Ende nur ein Hirngespinst, eine Utopie?
So paradox die Überlegungen über das einfache Lebens auch anmuten mögen, sie haben alle den gleichen Ausgangspunkt, nämlich die Frage des Menschen nach einem guten und glücklichen Leben. Diese Frage ist so alt, wie die Menschheit selbst. Sie wird zur Triebfeder für die Reflektion über das eigene Dasein und gleichsam zu einem unendlichen Gestaltungsraum. Wir sind dem Alltag und dem Zuviel darin nicht passiv ausgesetzt, sondern können aktiv formgebend in ihn eingreifen. Allein der Entschluss, die eigenen Lebensgewohnheiten zu überprüfen oder sie bereits mit einem neuen Ziel, zum Beispiel einfacher zu leben, zu verändern, macht uns zu mündigen Menschen, gibt unserem Dasein eine Form und bringt uns im Leben vorwärts. Wir werden zu Gestaltern. Der Philosoph Wilhelm Schmid schreibt dazu: „Die Ethik des Umgangs mit sich sollte (…) kunstvoll, das heißt durchdacht und gestaltet, nicht kunstlos, also unüberlegt und zufällig sein.“ In Bezug auf das Zuviel in unserem Leben schreibt er weiter: „Ein Selbst, das sich selbst zu sehr verliert, ist zu keinerlei Aufmerksamkeit mehr fähig, weder für sich noch für andere.“ Somit wird klar, warum das einfache Leben nicht nur als neues Lebenskonzept funktioniert, sondern als existenzielles Bedürfnis aus einem Mangel an gesunder Aufmerksamkeit, sprich aus einem zivilisatorischen Leiden heraus entsteht.
Echt einfach
Wer es also wirklich ernst meint mit dem einfachen Leben, der wird sicher kein Buch dazu brauchen, keinen Smoothiemaker für die einfache, gesunde Ernährung und auch kein Simplifizierungsseminar. Wer es ernst meint, hat es im Grunde einfach: Er muss nur den Gegensatz von dem finden, was ihn belastet oder was ihm zu viel wird, um seine Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Er muss also die Balance herstellen, indem er die vermeintlichen Paradoxien nicht als unversöhnbare Konkurrenten oder absurde Konstrukte wahrnimmt, sondern sie als das begreift, was sie sind: als Teil unseres Lebens und vielleicht auch größte Herausforderung unseres Daseins. Durch das Nachdenken über diese Paradoxien des Lebens entwickeln wir eine Haltung zu den Dingen. Wir positionieren uns und können deshalb selbst entscheiden und gestalten.
Die Suche nach dem guten Leben mag dabei nach Sisyphusarbeit aussehen, weil wir immer wieder von vorne beginnen und dabei die Welt als undurchdringbar und sinnlos wahrnehmen. Doch ist es nicht gerade diese absurde Tatsache, die uns ermutigen sollte, genau jene Suche mit ihrem Scheitern und ihrem wiederkehrenden Neubeginn als wertvolle Lebensaufgabe wahrzunehmen und zu akzeptieren? „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, sagte einst Albert Camus – wobei das Leben des Sisyphos bei ihm für das Leben des Menschen stand. Er sucht vergeblich nach einem Sinn, kann aber die ewig gleichen Handlungsabfolgen hinnehmen und damit ein Stück weit seine Freiheit zurückerobern. Freiheit heißt bei Camus also, über Revolte gegen die Sinnlosigkeit zu einer Akzeptanz zu finden und das Leben anzunehmen, wie es ist. Und diese Akzeptanz bedeutet nicht, wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen und darauf zu warten, gefressen zu werden. Vielmehr können wir unterscheiden lernen, welche Gegebenheiten wir schlichtweg akzeptieren müssen und in welchen Fällen wir die Entscheidungsgewalt haben. Und wir werden erstaunt sein, wie viel wir entscheiden können, wenn wir nur wollen. ■
Dieser Beitrag ist in Ausgabe 3/2017 zum Thema EINFACH LEBEN im TERRAIN-Teil erschienen.
Constanze Eich studierte Allgemeine Rhetorik, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Paris. Sie ist Beraterin für angewandte Rhetorik und strategische Kommunikation, Autorin und Rednerin sowie Gründerin der Unternehmensberatung eich-communications.
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