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Mathematische Mystik
Oder: Können oder sollen wir durch Finanzen in eine posthumane Zukunft schauen?
Text: Bernd Villhauer
Zeit für ein paar Silberstreifen am Horizont? Zumindest einen freundlichen Ausblick sollten wir uns in diesem ganzen apokalyptischen und postapokalyptischen Wirrwarr ja gönnen. Es gibt mehr als genug Aufgaben für nimmermüde Wirtschaftsschreiber, die die Stimmung heben wollen. Auch „Finanz & Eleganz“ will sich da nicht verweigern. Und deshalb werden heute drei Dinge behandelt, die Plattformen für einen besseren Ausblick sein können:
- Eine Buchbesprechung
- Eine nostalgische Fantasie
- Eine Vermutung zur mathematischen Modellierung und symbolischen Ordnung der Finanzmärkte
Der Onkel mit der tiefen Tasche
Beginnen wollen wir mit einem Mann, der manche vielleicht eher mutlos werden lässt: Robert Mercer, Mathematiker und Computerwissenschaftler, vor allem aber Hedgefonds-Manager. Mercer hat durch seine Arbeit bei der US-Investmentgesellschaft Renaissance Technologies ein beeindruckendes Vermögen erworben. Die Angaben dazu schwanken, aber rund eine Milliarde US-Dollars dürften es schon sein. Mit diesem Geld nehmen die Mercers (Robert und seine Tochter Rebekkah) Einfluss – und wie! Ein aktuelles Engagement der politischen Investoren betrifft „Parler“, die Social Media-Plattform, die zum Tummelplatz der extremen Rechten in den USA geworden ist. Hier bedeutet free speech, dass jede Art von Quatsch und Hass genüsslich ausgebreitet werden kann bis hin zu den komplett abgedrehten Parallelwelten von QAnon. Die Mercers sind Miteigentümer von Parler und dieses letzte Engagement fügt sich gut ein in eine lange Reihe von Aktivitäten: Die Mercers spendeten für die Brexit-Kampagne, unterstützten großzügig den Wahlkampf von Donald Trump, steuerten sogar einen wesentlichen inhaltlichen und personellen Impuls bei, indem sie Steve Bannon mit Trump bekannt machten. Zuvor hatten sie schon durch die Finanzierung von Breitbart News ultrarechte Netzwerke gestärkt.
Es spricht also viel dafür, dass Mercer und seine Tochter einiges beigetragen haben zu der politischen Polarisierung und Ideologisierung, die die USA augenblicklich lähmt und dem Land einen – sagen wir mal: „umstrittenen“ Präsidenten beschert hat, der sich auch mit einer Wahlniederlage – sagen wir mal: „schwertut“.
Wieso soll das nun Freude und Mut machen? Bitte hier entlang …
„QAnon“ ist eine verschwörungsideologische Gruppierung, die sich auf einen vermeintlichen, anonymen Insider bezieht, der sich 2017 in einem Internetforum als „Q“ bezeichnet hat. „Q“ soll sich auf die Sicherheitsfreigabe beziehen, die Personen Zugang zu den geheimsten staatlichen Informationen gewährt. Viele QAnon-Botschaften haben antisemitischen und rechtsradikalen Charakter. Ausgehend von den USA haben Verschwörungserzählungen um QAnon weltweit Anhänger*innen gefunden.
Endlich mal ein gutes Buch
Jetzt kommen wir nämlich zur Buchbesprechung, die einen Teil des Hintergrunds der Mercer-Geschichte beleuchtet. Ein lesenswertes Buch mit einem beknackten Titel: Gregory Zuckerman: Der Meister der Märkte. Wie Jim Simons die Quantenrevolution entfesselte (Finanzbuch Verlag, 2020), die Übersetzung von The Man who solved the Market: How Jim Simons launched the Quant Revolution (Portfolio, 2019). Die Übersetzung ist so lala – nicht ganz so schlimm wie bei vielen schnell verdeutschten „Finanzbestsellern“ (also gerne das Original lesen) –, aber der Inhalt ist faszinierend. Erzählt wird, was passiert, wenn kluge Leute auf den Finanzmarkt treffen. Es geht um die Investmentgesellschaft Renaissance Technologies und deren Gründer Jim Simons. Dieser wird in einschlägigen Kreisen dafür gefeiert, dass er den Fonds mit den weltweit höchsten Renditen geschaffen hat. In der Tat konnte sein „Medallion Fonds“ erstaunlich zuverlässig besser als Vergleichsindizes abschneiden. Ein paar Zahlen: Zwischen 2001 und 2013 war das schlechteste Jahr des Fonds dasjenige, in dem „nur“ 21 Prozent Zuwachs zu verzeichnen waren. Und 2008, als der Standard & Poor’s 500 Index 38,5 Prozent verlor, konnte Medallion 98,2 Prozent zulegen. Die jährliche Durchschnittsrendite seit 1988 liegt bei bemerkenswerten 66 Prozent. Das ist schon verblüffend und hat zu der beliebten Erzählung von großen Anlageprofis beigetragen, die aufgrund überlegener Einsicht den Markt schlagen können. Renaissance ist nicht der größte, aber vermutlich der profitabelste Hedgefonds aller Zeiten. Wie ging das zu?
Der Standard & Poor’s 500 (auch S&P 500) gehört zu den meistbeachteten Aktienindizes der Welt. Der Index umfasst die Aktien von 500 der größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen.
Zunächst einmal ist das Unternehmen von extremen Außenseitern gegründet worden. Niemand aus der Gründungscrew hatte einen Wirtschaftshintergrund oder gar Börsenerfahrung. Die entscheidende Figur ist James Simons, ein Mathematiker. Er wechselt Ende der 70er Jahre von einer gut dotierten Universitätsanstellung zu einem ökonomischen Himmelfahrtskommando. Er war davon überzeugt, dass ihm seine mathematischen Begabungen, seine Faszination für Computer und seine Fähigkeit zur Mustererkennung Vorteile bei der Analyse von Finanzmärkten verschaffen. Und das traf zu – so sehr sogar, dass Simons ein großes Vermögen erwarb. Den vom Beispiel Mercer Deprimierten sei zugerufen, dass Simons (eher ein Liberaler) noch viel reicher geworden ist und sich ebenfalls gesellschaftlich engagiert. Die 23,5 Milliarden Dollar Privatvermögen und sein demonstrativ gepflegter Mathematik-Nerdism sorgten dafür, dass eine moderne Legende entstand. Über diese berichtet das Buch.
Rainer Erler rules
Mich erinnert die Geschichte von Renaissance Technologies an eine meiner Lieblingsserien aus den 70er-Jahren: „Das Blaue Palais“. Das war eine Produktion des ZDF – von Rainer Erler, der seiner Zeit so weit voraus war, dass er Science Fiction-Filme in Deutschland produzierte (mit Ideen, die dann weltweit kopiert wurden). Ein echter Visionär, der nicht nur großartige Science Thriller schuf, sondern auch Probleme erkannte, die in seiner Zeit noch weitgehend unterschätzt wurden. Er gehörte zu den ersten, die Umweltfragen im Fernsehen behandelten – und zwar so, dass sich die Zuschauer dafür interessierten. Auch im „Blauen Palais“ geht es um die Chancen und Perspektiven, aber eben auch um die Gefahren des Fortschritts. Im Mittelpunkt steht ein Team von Forscherinnen und Forschern, die interdisziplinäre Grundlagenforschung in Physik, Chemie, Biologie und Kybernetik betreiben. Ihre Projekte beginnen mit theoretischen Spekulationen oder abgelegenen Forschungen und enden oft ziemlich brisant – mit mindestens einer Verfolgungsjagd pro Folge. Für mich als 13-Jährigen in der badischen Provinz war das der Traum: technische Fantasien mit klugen Menschen in gefährlichen Abenteuern. Die erste Nummer des Technikmagazins CHIP erschien, Taschenrechner konnten programmiert werden, die ersten Platten von Kraftwerk erschienen und die Zukunft leuchtete – auch in Ettlingen bei Karlsruhe.
Vorwärts zum Inhumanen!
Welche Art von Blauem Palais entwickelte Simons? War auch er mit seinem Team so erfolgreich, weil sie den Markt „entschlüsselten“ oder bessere Analysemethoden entwickelten, um zu verstehen, welche Firmen die Nase vorne haben würden? War die Innovation des genialen Wissenschaftlers das Entscheidende?
Die Pointe ist hier eigentlich eine ganz andere, eher eine der Selbstabschaffung des menschlichen Denkens. Aber nicht nur: Zum einen schuf Simons zunächst für seine Firma eine sehr offene und diskutierfreudige Atmosphäre, mit möglichst klugen und innovativen Persönlichkeiten, mehr Universitätscampus als Unternehmensbefehlspyramide. Agilität gab es auch in den 1970er-Jahren schon… Was sich dann aber nach einigen Jahren Arbeit als Hauptstrategie herauskristallisierte war eine Art automatisiertes Handelssystem, eine frühe KI, in der Marktanalyse und Trading zusammenkamen. Vom Renaissance Technologies-System ist bei weitem nicht alles bekannt, aber dies wenigstens doch: Der Markt und seine Bewegungen stehen im Mittelpunkt, nicht die Realwirtschaft. Es geht um Mustererkennung aufgrund von enorm großen Datenmengen aus den verschiedensten Bereichen. Und wenn nach dieser Mustererkennung (vom System) Entscheidungen getroffen werden, dann greifen die Menschen nicht ein – auch wenn ihnen das Gebaren der Maschine unplausibel erscheint. Das erfordert hohe Disziplin und dem Vernehmen nach war nicht immer jeder im Team dazu fähig. Aber insgesamt gilt: Simons ließ das System und die Algorithmen machen. Intuition wurde ersetzt durch Kalkulation.
Das war eine Zeitenwende, über die wir noch zu wenig wissen. Einige der Vorgehensweisen können wir auch heute noch nicht nachvollziehen und Renaissance Technologies ist bekannt für seine Geheimniskrämerei. Es war auch nicht nur Genialität im Spiel. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass manche der Gewinne mit eher zweifelhaften Steuer-„Optimierungen“ zusammenhängen, die gerade noch von Gerichten geprüft werden. Keinesfalls soll hier eine moderne Heiligengeschichte erzählt werden. Wir berichten von klugen, jedoch nicht unbedingt guten Menschen.
Aber im Kern geht es um die Entdeckung neuer Sichtweisen und um Grenzüberschreitungen – weg von einer konventionellen, menschlichen Logik und Beschränktheit. Der Weg führt weiter, er führt von der Mathematik zu den Innovationen, die finanzielle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung haben …
Inhuman / posthuman / transhuman oder einfach neu?
Wir können dabei die doppelte Bedeutung von strukturellem Denken wie dem der Mathematik erkennen: in den Ebenen der Sachlichkeit, die wir durchschreiten, um bei einem unbekannten Ziel zu landen. Das Wichtigste ist hierbei, dass wir nicht einen Plan machen, und den mit neuen wissenschaftlichen oder technologischen Mitteln umsetzen, sondern dass der Plan sich selbst macht. Denn auch die üblichen Träume von Cyborgs oder Mensch-Maschine-Kopplungen sind ja meist nur Umsetzungen alter menschlicher Träume. Auch der posthumane Traum wie wir ihn kennen, ist ja ein Traum von Menschen, die sich verändern, eine typisch menschliche Fantasie der Selbstübersteigung und Transformation.
Deswegen ist es wichtig, die Systeme der Zukunftskartierung in ihrer Eigendynamik ernst zu nehmen und so auch die Antworten zu bekommen, nach denen wir nie gefragt hatten.
Welche Art von Zukunftsbeobachtung ermöglicht nun das Finanzwesen? Was hat es zu bedeuten, dass im Augenblick, wo ich dies schreibe, wir gleichzeitig inmitten einer furchtbaren Pandemie stecken, mit hohen Sterberaten in vielen Ländern – und gleichzeitig die Aktienkurse Höchststände zeigen? Der DAX erreicht ein Jahreshoch, ähnlich der Dow Jones oder der Nikkei. Bedeutet das, dass alles „bald in Ordnung sein wird“, wie mir ein Bekannter am Telefon sagte, der gerade eifrig Aktien kaufte („denn die neuen 20er werde noch viel goldener als die alten“)?
Wir wissen nicht, was uns erwartet – aber wir wissen, dass es Systeme der Dezentrierung und Selbstüberschreitung gibt, die eine große Dynamik haben – und das globale Finanzsystem gehört vermutlich dazu. Ebenso wie die Wissenschaft der Leute im Blauen Palais. Das kann uns doch neugierig und vielleicht sogar vorsichtig optimistisch machen…
Warum sollten wir uns mit diesen Modellierungen über den Menschen hinaus bei „Finanz & Eleganz“ beschäftigen? Dazu ein Zitat von Jim Simons, das dem Buch entnommen ist: „Lassen Sie sich von der Schönheit leiten … ob bei der Leitung eines Unternehmens oder beim Ausgang eines Experiments oder der Entwicklung eines Theorems. Wenn etwas gut funktioniert, dann hat es etwas Schönes, ja, beinahe Ästhetisches.“
Alles Gute für 2021?
Wohin hat uns dieser kleine Exkurs nun gebracht? Einige randständige Mathematiker gründen eine Finanzfirma und verdienen Milliarden mit ihr. Sie tun das, weil sie Modelle entwickeln, die nichts mit den konventionellen Blicken auf das Finanzwesen zu tun haben, sondern Muster aufspüren, die wir gar nicht wahrnehmen. Sie läuten die posthumane Ära des Finanzgewerbes ein. Und mit einigen der Gewinne aus diesem Projekt werden (z.B. durch die Mercers) Dinge getan, die wir als höchst menschliche, als geradezu ewig gestrige menschliche Dinge wahrnehmen.
Aber das Modellieren und Übersteigen der menschlichen Ängste und Deutungen hält an. Es gibt immer irgendwo ein Blaues Palais oder ein Zimmer mit intellektuellen Spinnern. Und sie werden immer wieder Wahrnehmungs- und Denkstrukturen schaffen, die den Menschen übersteigen und transformieren. Der menschliche Geist schafft Unmenschliches – in jedem Sinne. Und da wir am Beginn eines neuen Jahres stehen (das sich schon sehr viel Mühe geben muss, um noch schlechter als das alte zu werden), wollen wir es einfach mit Mut aussprechen: Das Meer der Zukunft liegt offen vor uns! Und die Finanzindustrie baut immer wieder Schiffe, auf denen wir es befahren können. Wir dürfen nur nicht den Mut verlieren. Dann kommen wir zu Plätzen, die wir gar nicht angesteuert hatten.
Geschrieben bei einer Tasse Tee am 28.12.2020
Dr. Bernd Villhauer ist Geschäftsführer des Weltethos Instituts Tübingen.
In der Kolumne „Finanz & Eleganz“ geht Bernd Villhauer den Zusammenhängen von eleganten Lösungen, Inszenierungen, Symbolen und Behauptungen einerseits sowie dem Finanzmarkt andererseits nach. Grundsätzliche Überlegungen zu der Kolumne finden Sie in der Einführung.
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