„Eleganz ist die Befreiung aus dem Kausalverkehr der Dinge“ | Bernd Villhauer  im Gespräch mit Lambert Wiesing

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„Eleganz ist die Befreiung aus dem Kausalverkehr der Dinge“

Bernd Villhauer  im Gespräch mit Lambert Wiesing

In meiner Kolumne Finanz & Eleganz geht es immer wieder um den Begriff der Eleganz und daher habe ich einen philosophischen Experten eingeladen, dem ich dazu einige Fragen stellen durfte. Lambert Wiesing ist Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er hat unter anderem ein Buch über Luxus geschrieben (Suhrkamp, 2015).

Bernd Villhauer (BV): Lieber Herr Professor Wiesing, was sind aus Ihrer Sicht philosophische Annäherungen an die Eleganz? Wie können wir uns dieses Thema „zurechtlegen“, um es besser zu verstehen? Welche Begriffe und Denkwege sind wichtig?

Lambert Wiesing (LW). Ich würde die Eleganz-Kategorie als eine ästhetische Kategorie ansehen. Sie gehört zu den ästhetischen Kategorien, die in der Nachwirkung der Kant’schen Theorie nicht ausreichend behandelt wurden, da nach Kant vor allem über Schönheit und manchmal noch ein bisschen über Erhabenheit nachgedacht wurde. Diese Verengung wurde im 19. Jahrhundert immer wieder angegriffen. Denn es gibt ja eine Vielzahl von alternativen Begriffen, darunter so interessante wie das „Kitschige“, das „Spannende“, das „Reizvolle“, das „Rührende“ – in diese Reihe der alternativen ästhetischen Begrifflichkeiten, die gerade für subtile Beschreibungen besonders wichtig sind, gehört eben auch „Eleganz“ und daneben auch „Anmut“ – zwei sehr ähnliche und verwandte Begriffe. Diese haben in der Philosophie, überhaupt in den Geisteswissenschaften ein Schattendasein geführt. So gibt es meines Wissens keine explizite Monografie eines Philosophen zur Eleganz als einer Kategorie, die wir näher bestimmen sollten. Anders ist das bei Literaten: Balzac ist da sicherlich zu nennen oder Valéry. Eine Initialzündung ging von Kleist mit seinem berühmten Marionettentheater-Aufsatz aus.

Wie auch immer: Der Begriff der Eleganz scheint mir für eine genaue Beschreibungen von bestimmten ästhetischen Phänomenen unverzichtbar zu sein. Er bestimmt eine ästhetische Qualität – wie viele dieser „kleineren“ bzw. „feinfühligeren“ Alternativbegriffe – die heute zumeist inflationär und undifferenziert einfach als „schön“ oder „ästhetisch“ bezeichnet wird oder im vulgären Tagesgebrauch auch als „find ich chic“. Die Unterscheidungsmöglichkeiten, welche feine ästhetische Begriffe bieten, sind im Alltag weitgehend verschwunden. So würden wohl viele sagen, dass ein elegantes Auto immer ein schönes Auto ist oder umgekehrt. Doch das muss keineswegs so sein! Denn Schönheit und Eleganz sind verschiedene Phänomene. Und daher ist es wichtig, dass wir hier die Kategorie kultivieren.

BV: Würde es denn helfen, hier auch nochmals in die Soziologie zu schauen? Es kommen einem da ja beispielsweise Leute wie Georg Simmel in den Sinn, die sich zwischen soziologischen und philosophischen Fragestellungen bewegen. Gerade bei Simmel lassen sich ja Bemerkungen dazu finden, was Eleganz ausmacht …

LW: Ja, das stimmt. Simmel ist zwar bei mir nie so stark im Fokus – aber, Sie haben Recht, er ist hier zentral. Wobei ich Simmel gar nicht so stark der Soziologie zuordnen würde, weil er ja immer eine große Offenheit für diese besonderen ästhetischen Phänomen hat. Ansonsten habe ich persönlich eher ein erschreckendes Bild von der Soziologie, wenn es um den Umgang mit ästhetischen Phänomenen geht. Mir scheinen in der Soziologie in der Regel kulturdarwinistische Argumentationen zu finden zu sein, also Theorien, die hinter allen ästhetischen Phänomenen die stille Absicht und den unausgesprochenen Zweck versteckt sehen, dass sich jemand durch sie einen Vorteil zu verschaffen versucht, also dass man sich mehr Macht, mehr Anerkennung, mehr Geld, mehr Sex oder etwas anderes aufgrund der ästhetischen Eigenschaften von einem Produkt oder einer Handlung erhofft. Wenn ich mir da die üblichen Sichtweisen von Soziologen ansehe – und ich glaube, besonders repräsentativ ist hier Pierre Bourdieu –, dann finde ich keine Anerkennung dieser feinen Unterschiede auf dem Gebiet der Ästhetik, alles dient ausschließlich der sozialen Distinktion. Die feinen Unterschiede zwischen Luxus, Anmut, Eleganz, Schönheit und anderem fallen da einfach über Bord.

BV: Schauen wir doch einmal auf jemanden, der sich immer auf der Schwelle zwischen Literatur und Philosophie bewegt hat, nämlich den schon erwähnten Paul Valéry. Von Valéry ist mir ein Zitat zur Eleganz in Erinnerung geblieben, das – frei paraphrasiert – Eleganz etwa so bestimmt: Finden, ohne dass man überhaupt gesucht habe; etwas wissen ohne so auszusehen, als hätte man gelernt – also die Anstrengung des Lernens geht quasi verloren. Und das ist ja etwas, das in der Beschreibung der Eleganz immer eine Rolle spielt: Mühelosigkeit. Anstrengungslosigkeit in dem Sinne, dass das Schwere leicht gemacht wird. Man könnte sagen: eine leichte Antwort auf eine schwere Frage. Ist das auch philosophisch so zu fassen – oder geht man da auf einem anderen Weg?

LW: Das würde ich uneingeschränkt auch so sehen, Valéry gibt eine großartige, treffende Beschreibung der Eleganz und der Anmut. Sie haben das jetzt auf das Lernen und auf Erkenntnisfragen bezogen. Aber auch im optischen Sinne ist Eleganz ein „Als ob“-Phänomen. Und zwar so wie es Kleist mit einem (übrigens von ihm geprägten Wort) sehr schön beschreibt, nämlich „antigrav“: gegen die Gravitation. Und das passt ja auch ganz gut zum Alltagsverständnis. Wir erleben eine elegante architektonische Halle genau da, wo sich etwa ein Dach so in der Luft freischwebend schwingt, als ob die Gesetze der Physik für diese Halle nicht gelten würden. Eleganz ist immer ein Illusionsphänomen, denn wer würde in Zweifel ziehen, dass für alle materielle Dinge natürlich die Gesetze der Physik gelten? Alles unterliegt der Physik – aber nicht allem sieht man das an. Das gilt im Übrigen auch für Menschen. Und genau dieser Schritt einer Art optischen Befreiung aus der Gravität und Schwerkraft ist das, was Eleganz auszeichnet. In dieser Hinsicht besteht eine Verwandtschaft zwischen drei ästhetischen Phänomenen, bei denen zwar nicht in gleicher Weise, aber doch gleichermaßen ein Befreiungsmoment sichtbar wird: Eleganz, Anmut und Luxus.

Eleganz ist die Befreiung aus dem Kausalverkehr der Dinge, von den Gesetzen der Physik im Statischen, eben die elegante Halle, welche eine so feine Dachkonstruktion zeigt, dass man denkt, die kann das Dach nicht tragen. Und dieses Nicht-von-der-Welt-tangiert-sein, dieses Antigrave haben wir nicht nur bei statischen Dingen, wir haben das auch bei bewegten Dingen und das ist Anmut. Anmut ist Eleganz in Bewegung. Kleist hat das ganz richtig beschrieben. So lassen sich die Begriffe Anmut und Eleganz gut unterscheiden. Anmutig ist etwas, vielleicht ein Tänzer (für Kleist interessanterweise Marionetten), das sich so bewegt, als gälten die Gesetze der Physik nicht. Deswegen kann auch ein nicht-schöner Gegenstand anmutig sein. Es gibt eben Personen, von denen wir wohl nicht sagen würden, es seien die schönsten Menschen auf Erden, die aber doch sehr anmutig tanzen können.

BV: So wie im Disney-Film Phantasia die Nilpferde, die zu klassischer Musik tanzen …

LW: Genau, vollkommen richtig. Das ist das Anmutige. Das dritte Befreiungsphänomen, das eine besondere ästhetische Erfahrung bildet, scheint mir der Luxus zu sein. So wie sich eben ein eleganter Gegenstand von der Determinierung durch Kausalität befreit, so beschreibt eine Luxus-Erfahrung eine Befreiung der Determinierung von Zweckmäßigkeit und Angemessenheit. Das bedeutet, wir haben hier ein inverses Verhältnis. Wenn ich also beispielsweise einen Gegenstand nehme, der vollkommen übertrieben ist, vielleicht einen eleganten Wagen, um damit meine Kinder zum Kindergarten zu bringen – dann ist das nicht zweckmäßig. Genauso wie eine C-Säule an einem Auto etwa so dünn und elegant sein kann, dass sie für die Statik nicht mehr zweckmäßig ist, etwa beim Ferrari 250 GT Lusso, gibt es auch Fahrer, die bei der Wahl des Autos sich wie unberührt von Zweckmäßigkeitsvorstellungen zeigen: Dieses Vergleichgültigen der Zweckmäßigkeit im Luxus ist sozusagen die Zwillingsschwester zum Vergleichgültigen der Kausalität in der Eleganz. Deswegen sind Luxus und Eleganz nicht dasselbe, aber sehr ähnlich und verbunden. Es lässt sich ein regelrechtes ästhetisches Gesetz formulieren: Die Verwendung von eleganten Dingen ermöglicht immer Luxuserfahrungen. Denn ein eleganter Gegenstand ist – da reden wir nicht über Dinge der empirischen Erfahrung – a priori notwendiger Weise immer ein nichtzweckmäßiger Gegenstand. Er muss ja seine Kausalitätsgeschichte verbergen, sonst wäre er ja nicht elegant. Und ein nichtzweckmäßiger Gegenstand ist ein Gegenstand, der, wenn man ihn für einen Zweck verwendet, eben eine Verweigerung der Zweckmäßigkeit ermöglicht. Adorno nennt das – in der für ihn typischen, drastischen Sprache – eine Befreiung aus der Sklaverei der Zwecke. Und damit hat er die Luxuserfahrung treffend beschrieben: Es ist die Autonomieerfahrung, nicht nur ein Rädchen in einer Maschine zu sein.

BV: Das ist eine sehr schöne Verbindung, die mir sehr plausibel erscheint. Aber widerspricht das nicht der Intuition in der Verwendung des Wortes „elegant“ zum Beispiel in der Mathematik – wo wir ja gerade Lösungen als „elegant“ bezeichnen, die schnell und auf einem kurzen Weg den Zweck erfüllen? Da hat jemand eine elegante, kurze, in gewisser Weise „durchgriffige“ Art gefunden, ein Problem wunderbar leichtfüßig zu lösen. Ist das eine andere Metaphorik, weil man etwas Anderes elegant nennt als zum Beispiel in der Mode, bei Autos oder in der Kunst?

LW: Ja, es wäre denkbar, dass es sich hier um eine Art Metaphorik handelt, aber ist es nicht auch hier so, dass die elegante Lösung in der Mathematik den Aufwand des Findens verbirgt? Ich glaube, auch in der Mathematik besteht ein Faszinosum (nicht das einzige) der eleganten Lösung darin, dass sie so schwer zu finden ist. So dass das, was da so „leichtfüßig“ daherkommt, überhaupt nicht ein Ergebnis war, das man schnell gefunden hat. Auch hier haben wir den Kontrast, dass die elegante Lösung die komplizierte Arbeit an der Lösung verbirgt. So wie ein eleganter Gegenstand, z. B. ein elegantes Haus, die Kompliziertheit der Statik verbirgt. Es sieht so aus, als ob eine Betonhalle schweben könnte und so bleibt die aufwändige statische Konstruktion verborgen. Genauso verbirgt die elegante Lösung in der Mathematik den Aufwand, den es bedeutete, sie zu finden. Denn man würde ja wohl nicht sagen, wenn ich jemanden fragte: „Du, was ist denn zwei plus zwei?“ und er wie aus der Pistole geschossen antwortet: „Vier“ – „Was ist denn das für eine elegante Lösung!“ Denn da ist nichts verborgen, die Lösung scheint nicht einfach zu sein, sie ist einfach … Eleganz-Phänomene sind aber immer Scheinphänomene.

BV: Und damit auch der Simulation verwandt?

LW: Ja, vollkommen richtig, Eleganzphänomene sind der Simulation sehr verwandt. Denn auch Simulationen sind Befreiungen von Physik und in der Eleganz – wenn wir jetzt den Bereich der Mathematik wieder verlassen – haben wir es immer mit Phänomenen zu tun, die zu der Visualität von physikalischen Vorgängen nicht zu passen scheinen.

BV: Das führt uns in einen Themenbereich, den ich unbedingt anschneiden möchte, nämlich die Geldsphäre bzw. die Finanzsphäre. Dazu eine kurze Abschweifung: Bei dem Verhältnis Bürgerlichkeit – Adel (Nietzsche arbeitet z. B. gerne mit dieser Begrifflichkeit), da war der Gegensatz einerseits zwischen dem Bürger, der hart arbeitet und für die schwere Alltagsbewältigung steht und dem Adel andererseits, der für Leichtigkeit und Eleganz steht, eben das Verbergen der Produktions- oder Reproduktionszusammenhänge. Nun könnte man sagen: in dem Augenblick, in dem Teile des Bürgertums großbürgerlich werden und mit dem Adel gleichziehen, entsteht auch die Finanz- und Börsensphäre als eigener Bereich, der vom realen Wirtschaftsleben des Güteraustauschs unterschieden werden kann. Nun wird Geld in neuer Weise zur Ware. Erscheint es Ihnen dann schlüssig zu sagen: so ist also der Finanzsektor als neue Form der Geldökonomie eine Art großer Simulationsmaschine und so eine wichtige Voraussetzung zur Eleganzerzeugung? Mit der Finanzwelt entdeckt also auch die Wirtschaft die Eleganz. Oder ist das zu weit gegriffen?

LW: Meinen Sie: In dem Augenblick, in dem die US-amerikanische Währung sich von Fort Knox befreit hat, hat sie sich auch von der Physik befreit und wurde elegant?

BV: Das war sicher ein wichtiger Punkt, aber ich würde noch früher ansetzen, eher schon im 15. oder 16. Jahrhundert, in der Zeit der Handelsrepubliken und dem Entstehen von Großbürgerlichkeit …

LW: Aber war das nicht ein entscheidender Punkt, weil die Währung lange Zeit ihren Rückhalt in einem gigantischen Goldlager hatte? Damit hatte sie doch eine Physikalität und spiegelt etwas wider – weil es für jeden Dollar etwas Gold geben musste …

BV: Das müsste nochmal getrennt diskutiert werden. Es spricht auch viel dafür, dass Geld nie in diesem Sinne materiell oder physikalisch „solide“ war bzw. materiell gebunden. Die Versuche, eine solche Theorie aufzustellen, sind eigentlich regelmäßig gescheitert. Unter anderen hat Milton Friedman das gezeigt. Unsere Intuition sagt uns zwar, das sei richtig, aber die wissenschaftlichen Befunde der Ökonomik sind da alles andere als klar. Jedenfalls ist der Abschied vom Goldstandard unter Nixon ein weiterer Schritt weg von der Finanzwissenschaft als „Wiederspiegelung“ der Realwirtschaft.

LW: Genau – und ich hatte Sie so verstanden, dass Sie das als einen Schritt in die Eleganz verstanden haben, die Verabschiedung des Goldstandards. Das wäre doch eine Verabschiedung von der Bindung an Physik. Und Eleganz ist eben immer eine Emanzipation von der Physik.

BV: Ja, da treffen wir uns. Ich würde nur annehmen, dass dieser Abschied von der materiellen Sphäre schon im 15./16. Jahrhundert stattgefunden hat. Aber vielleicht können wir noch weitere Aspekte beleuchten. Was würde Ihnen noch einfallen, wenn Sie an den Zusammenhang von Wirtschaft und Eleganz denken? Ist da die Frage einer Luxusökonomie interessant? Oder die Ware? Denn lange wurde ja – vor allem aus marxistischer Sicht – die Warenästhetik und Warenökonomie in den Mittelpunkt gestellt.

LW: Ich glaube, die Phänomene Eleganz und Luxus in wirtschaftlichen Kontexten leiden zunächst einmal darunter, dass sie gar nicht ernst genommen werden. Das wird dann in der Regel – zumindest bei den Autoren, die ich kenne, mit Prestige und Protz gleichgesetzt. Und ich glaube, dass diese Eleganz- und Luxus-Phänomene aber zeigen, dass es sowohl in der Sachwelt eine Befreiung vom reinen Materialismus gibt, wie es in der Handlungswelt eine Befreiung von reiner Zweckmäßigkeit gibt. Daher scheint mir auch recht klar zu sein, dass wir in der Ökonomie, wenn wir mit einem Menschenbild arbeiten, dass alles, was Menschen machen, irgendwie einem Ziel folgt, eine Verbesserung für sich selbst herauszuschlagen bei Macht, Anerkennung, Geld, Sex usw. – dass man dann zu kurz greift. Darüber könnten wir auch nochmals gesondert sprechen. Im letzten Jahr habe ich Identität von Francis Fukuyama gelesen, der ja so etwas wie ein Held der postmodernen Theorie war. Der argumentiert explizit volkswirtschaftlich und führt aus, dass klassisches volkswirtschaftliches Denken den Aufstieg einer Person wie Donald Trump zum Präsidenten eigentlich nicht erklären könnte. Denn alles, was der gemacht hat, galt – jedenfalls in den letzten 20 Jahren – nicht mehr dem Vermehren von Geld. Im Gegenteil … Es gibt immer Menschen (auf ganz unterschiedlichem Geld- oder Anerkennungsniveau), bei denen man nicht mehr darwinistisch argumentieren kann, dass es ihnen um das Schaffen einer für sie besseren Situation geht. Und daher sind eben solche Phänomene wie Luxus und Eleganz so wichtig. Für Bourdieu sind alle Phänomene des Luxus nur dafür da, sich darzustellen. Und da würde ich eben mit allem Nachdruck darauf hinweisen (und ich glaube, das ist auch für die Finanzwelt wichtig), dass Menschen keine Maschinen sind. Darum ist allein schon so eine Frage wie die, die man oft in ökologischen Diskussionen hört: „Braucht das der Mensch?“ oder „Braucht man das?“ eigentlich eine Beleidigung – ganz unabhängig davon, ob das nun im Einzelfall einmal richtig sein mag. Das ist eine Beleidigung des Menschseins von Menschen. Bei einem Auto kann man sinnvoll fragen, „Wieviel Sprit braucht das, wieviel Öl braucht das?“ Und in dem Moment, in dem ich sage, „Das braucht ein Mensch nicht“, habe ich ihn wie eine Maschine behandelt. Vielleicht ist es mal wieder an der Zeit, dass wir mehr Jean-Paul Sartre und die Existentialisten lesen sollten! Wie weit ist der Existenzialismus weg – wenn wir nicht mehr verstehen, dass das Wesen des Menschen darin besteht, dass wir nicht sagen können: er braucht das oder das, weil das wesentlich ist. Das ist ja der Grundsatz des Existenzialismus. Ihn zu berücksichtigen scheint mir auch gerade für die Finanzwelt von zentraler Bedeutung.

BV: Unbedingt! Und ich finde, dass neben den vielen bedrohlichen Perspektiven einer der befreienden Aspekte des Finanzwesens der ist, dass wir uns die Zukunft frei entwerfen können. Gerade das Spekulative ist hier gemeint. Es ist ja wohl kein Zufall, dass im finanziellen, wie im philosophischen Sprachgebrauch das gleiche Wort verwendet wird. Wir haben einen spekulativen Zugang zur Welt, wir entwickeln uns weiter. Und zwar in Dimensionen, die wir jetzt noch gar nicht beschreiben können. Deswegen ist auch nicht zu benennen, was wir „brauchen“ und was nicht. Kein Mensch weiß, was ich vielleicht brauchen kann und was noch wichtig wird für meine Entwicklung ist. Das ist ein sehr schönes Zusammenführen der beiden Traditionen, die hier angesprochen wurden: die Verabschiedung des homo oeconomicus zugunsten des „homme elegant“. Wir sollten das in einem weiteren Gespräch unbedingt vertiefen und deshalb zum Abschluss die Frage: Welches Thema sollte eigentlich im Mittelpunkt stehen?

LW: Wie wäre es mit: „Warum sind die Vorstellungen von Menschen über gelingende Selbstfürsorge so unterschiedlich?“

BV: Lieber Herr Wiesing, damit treffen Sie eine Grundfrage moderner Wirtschaftsphilosophie – und ich freue mich auf den nächsten Austausch. Herzlichen Dank für das Gespräch. ■

Bern Villhauer
Finanz & Eleganz
Dr. Bernd Villhauer ist Geschäftsführer des Weltethos Instituts Tübingen.
In der Kolumne „Finanz & Eleganz“ geht Bernd Villhauer den Zusammenhängen von eleganten Lösungen, Inszenierungen, Symbolen und Behauptungen einerseits sowie dem Finanzmarkt andererseits nach. Grundsätzliche Überlegungen zu der Kolumne finden Sie in der Einführung.

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