NOT ENOUGH – Der Beschleunigungszwang und die Freiheit der Langeweile | Jacob Schmidt

UhrenFoto: Jon Tyson | unsplash

 

NOT ENOUGH

Der Beschleunigungszwang und die Freiheit der Langeweile

Text: Jacob Schmidt

Nicht zu genügen, darin liegt das nagende Gefühl der Zeit. Hymnisch beklagt es die Band Radiohead in ihrem Song Karma Police: „I’ve given all I can, it’s not enough“. Dieser Zustand des permanenten Ungenügendseins stellt jedoch keine psychopathologische Universalität dar, auch wenn er sich bisweilen in Depression oder Burn-out Ausdruck verschaffen mag, sondern lässt sich als Symptom der Moderne deuten.

Das zentrale Versprechen der Moderne ist die Freiheit, das Gegebene in einem „Mehr“, „Größer“ und „Weiter“ zu überschreiten – egal ob es um geografische, soziale oder ökonomische Begrenzungen geht. Klar also, dass der moderne Mensch die Bewegung, die Unruhe, die Welterkundung und -beherrschung liebt. Wie aber konnte sich dieses befreiende Gefühl des Aufbruchs in das erschöpfte, gestresste und verzehrende not enough verkehren?

Eine Antwort darauf findet sich in der Beschreibung der Modernisierung als soziale Beschleunigung und der damit einhergehenden Transformation der sozialen Zeit und des sozialen Raumes, wie sie etwa der Soziologe Hartmut Rosa ausgearbeitet hat. Dabei hängen Zeit und Raum aufs Engste miteinander zusammen. Nehmen wir als Beispiel die Veränderung des modernen Transportwesens. Wenn Maschinen einen Tunnel durch ein einst unüberwindbares Bergmassiv bohren und somit zwei zuvor getrennte Orte verbunden werden, ermöglicht das vor allem eines: die Überbrückung einer räumlichen Distanz in kürzerer Zeit. Damit Menschen, Güter und Kommunikationen schneller von einem Punkt zum anderen gelangen können, müssen räumliche Hindernisse umgangen oder nivelliert werden.

Die Chiffre des völlig nivellierten Raumes ist heutzutage das Glasfaserkabel, durch das mit Lichtgeschwindigkeit kommuniziert werden kann. Dadurch aber schrumpft der soziale Raum zusammen, immer mehr wird in kürzerer Zeit, beim Glasfaserkabel beinahe unmittelbar, erreich- und verfügbar. Der Raum als störendes „Dazwischen“ verliert dadurch seinen Wert. An jedem beliebigen geografischen Punkt – man blicke etwa auf sein Smartphone – kumuliert sich „die ganze Welt“.

Rasender Stillstand

Das hat wiederum Folgen für unsere Zeitwahrnehmung. Die Verdrängung des räumlichen „Dazwischen“ ermöglicht die globale Gleichzeitigkeit, in der wir nun – gestützt von modernen Kommunikationsmedien – leben. Das „Jetzt“ schwillt an zu einer gigantischen Potenzialität: Fiktionale Welten, Stimmen entfernter Menschen oder Bilder zusammenstürzender Türme, all das ist potenziell verfügbar und drängt sich in unsere Aufmerksamkeit, wo auch immer wir sind. Die soziale Beschleunigung geht neben dieser historischen Umwälzung des Raumes untrennbar einher mit der Durchsetzung aller Lebensbereiche mit der abstrakten und linearen Zeit – der Zeit der Uhren. Wie der Tunnel sich gleichgültig gegenüber den Steigungen und Windungen des Berges verhält, so läuft auch die Uhr unbeeindruckt von Ereignissen, Jahreszeiten oder zauderndem Innehalten weiter. Die Uhr schlägt immerfort, unabhängig davon, was geschieht.

Die Uhrzeit kann berechnet und vor allem verrechnet werden. Durch sie wird kapitalistisches Wirtschaften erst möglich: Zeit ist Geld.

Die Uhrzeit erweist sich mit der Beschleunigung in zweifacher Hinsicht auf das innigste verbunden. Zum einen kann die gleichgültige Uhrzeit zerteilt und aufgeteilt werden. Sie ermöglicht daher die Synchronisation komplexer Prozesse. Egal ob es um Reisen, Projekte oder um die Freizeit geht – dank der exakten Zeit können verschiedenste Bewegungen minutiös geplant und aufeinander abgestimmt werden. Zum anderen kann die Uhrzeit berechnet und vor allem verrechnet werden. Durch sie wird kapitalistisches Wirtschaften erst möglich: Zeit ist Geld.

Und da die Uhrzeit keine Grenzen kennt und ihr keine festen Zeiteinheiten a priori zugrunde liegen, kann sie unendlich fein zergliedert werden. Das heißt aber auch: Sie ermöglicht unendliche Optimierung und Steigerung, derer das kapitalistische Wachstum bedarf. Die Zeit verdichtet sich, immer mehr wird in kürzerer Zeit produzier- und konsumierbar. So schwillt das „Jetzt“ auch durch die Verdichtung der Zeit weiter an.

Analog zur ganz konkreten und materiellen Nivellierung des Raumes, verändert das Regime der Beschleunigung und der Uhrzeit unser Weltverhältnis nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Wenn Ereignisse beschleunigt werden, verändern sie sich dabei auch wesenhaft. Die Qualität einer Melodie wandelt sich durch doppelte Abspielgeschwindigkeit. Aus einer gemächlichen Bewegung wird irgendwann ein Schwirren. Wenn Berge, bildlich gesprochen, näher aneinander rutschen, kann der Wandernde von einem Gipfel zum anderen springen. Der mühevolle Auf- und Abstieg entfällt. Aber es entfällt auch das, was von manchen nebulös als „Tiefe“ des Lebens vermisst wird.

Die Auf- und Abstiege sind Zeiten des Übergangs, Zeiten zwischen zwei Ereignissen, in denen das zuvor Erlebte nachklingen oder das noch zu Erlebende erwartet werden kann. Der Übergang besteht also gerade nicht nur aus Gipfeln oder Punkten, sondern bedarf der Hänge und Täler, des Beginnens und Endens. Eben deshalb darf soziale Beschleunigung nicht nur als quantitativer Begriff verstanden werden, bei dem es bloß darum geht, dass Zeitabschnitte zunehmend verkürzt werden, sondern muss als ein qualitativer Transformationsprozess aufgefasst werden, in dem das zeitliche „Dazwischen“ schwindet.

So überrascht es nicht, dass das „Fertigstellen“ ein Begriff vergangener Zeiten geworden ist. Wir beenden nicht mehr, sondern brechen ab. Esc(ape). Wir erleben „das Ende des Enden-Könnens“, wie es der Kulturwissenschaftler Dietmar Kammerer in Anschluss an den französischen Philosophen Gilles Deleuze formuliert. Die allgegenwärtige Deadline ist eine scharfe Linie, sie ist eine Kluft, kein gemächliches Bergab, sie markiert einen Bruch, keinen Prozess des Endens, der sich in eine Zeit des Ausklingens erstreckt. Wenn aber dieses Ausklingen ausbleibt, es keine Zwischenzeiten mehr gibt, sei es durch Pausen, Nichtstun oder Warten, so überlagern sich all die Erlebnisse im „Jetzt“.

Wir versuchen zwar zu leben, wie es der Terminkalender vorgibt, doch die Probleme des Tages kreisen weiter und verlängern sich in die Nacht hinein. So fällt auch der Schlaf als letzte Bastion des „Dazwischen“ der Beschleunigung zunehmend zum Opfer. Diese Entwicklung droht in einer „Gesellschaft ohne Schlaf“ zu münden, wie sie von Jonathan Crary in seinem Essayband 24/7 beschrieben wird. 

Wir versuchen zwar zu leben, wie es der Terminkalender vorgibt, doch die Probleme des Tages kreisen weiter und verlängern sich in die Nacht hinein.

Die Verdichtung der Zeit basiert daher auf einem Verdrängen des „Dazwischen“ und der damit einhergehenden Punktualisierung (oder um im Bilde des Berges zu bleiben: Vergipfelung) des Raumes und der Zeit. Hierin ist der Grund für den beispiellosen Zeitdruck zu finden, den heute viele beklagen. Zum einen droht durch fehlende Zwischenzeiten Übersättigung. Zum anderen geschieht immer mehr gleichzeitig. In dem Versuch, aktuell zu sein, rennt man meist schon hinterher. Das Gegebene kann so keinen Halt mehr geben, denn es ist schon vergangen, bevor es erkannt und begriffen werden kann. Der französische Zeitforscher Paul Virilio hat für diesen Zustand den Begriff „rasender Stillstand“ geprägt. Denn Bewegung ohne einen (Deutungs-) Rahmen ist kaum mehr von Stillstand zu unterscheiden.

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Kein „Weiter so“!

Bei genauerem Hinsehen wird also deutlich: Das not enough unserer Zeit erweist sich vor allem als ein too late, das Ungenügend-Sein als ein Zu-Langsam-Sein. Aus dem Versprechen, die Welt zu erkunden, entsteht die Erkenntnis, dass diese Welt sich zu schnell wandelt, um begriffen und von ihr ergriffen zu werden. Das heißt aber auch, nicht mehr anfangen zu können, immer nur – körperlich oder mental – dazuzustoßen, wenn die Welt schon tanzt. Die Welt wird einem fremd, aus Asynchronität erwächst Distanz.

Bei all dem hoffnungslosen Zeitdruck muss gefragt werden, warum sich die soziale Beschleunigung dennoch so hartnäckig hält. Eine mögliche Antwort auf diese Frage ist es, die soziale Beschleunigung als einen „Ewigkeitsersatz“ (Rosa) für das weggefallene Jenseits zu deuten. Der drohende ultimative Tod wird also durch ein intensives Leben aufgeschoben oder gar aufgehoben: Die Unendlichkeit des Jenseits wird durch unendlich viele intensive Momente und Erlebnisse verweltlicht. Je verdichteter diese Momente werden, so die Verheißung, desto näher kommen wir dieser weltlichen Ewigkeit. Die Beschleunigung als kulturelles Versprechen bietet genau das: Je schneller wir uns bewegen, desto mehr gibt es für uns im Diesseits zu erleben. Die soziale Beschleunigung speist sich damit aus einem religiösen Unterbau, der die kulturelle Energie für unser Rasen liefert.

Wer Veränderung und Alternativen zum Beschleunigungszwang bewirken möchte, muss sich zunächst der eigenen, manchmal quälenden Involviertheit in die Logik der Beschleunigung bewusst werden. Weder ist eine Befreiung von diesem kulturellen Versprechen so einfach möglich, noch gibt es ein moralisch erhabenes Außerhalb – nicht im Yoga-Studio, nicht im Biomarkt und auch nicht bei der Wanderung in den Bergen. Auch im Grünen sieht man die neuesten Ausrüstungen, auch dort wird das intensive Erlebnis gesucht, werden immer mehr Gipfel bezwungen, werden Fotos über Fotos gemacht, um den flüchtigen Moment zu bewahren.

Besonders deutlich wird die eigene Involviertheit bei dem Verhältnis des modernen Subjekts zu ungenutzter Zeit. Es fürchtet sich vor einem Gleichgültigwerden der Welt, vor der Langeweile. Denn Langeweile greift das kulturelle Versprechen der Moderne frontal an. Eigentlich muss die Welt bunt sein, eigentlich muss das Subjekt sich und anderen unendlich viel bieten, aber in der Langeweile dehnt sich plötzlich die Zeit und es legt sich ein grauer Filter über das Leben. Von oder bei etwas gelangweilt zu werden, ja gar langweilig zu sein, das ist Ausdruck des existenziellen Scheiterns und führt zu sozialer Ausgrenzung. Schlimmer noch: Wie es Thomas Mann im Zauberberg beschreibt, schrumpft eine als langweilig erfahrene Zeit auch noch im Nachhinein in sich zusammen – es bleibt von der quälend ausgehaltenen langen Weile keine Spur im Gedächtnis. Die Langeweile verwehrt sich somit zweifach dem kulturellen Versprechen der Moderne: im Erleben und im Erinnern. Statt innerweltlicher Ewigkeit, zeitigt sie farblosen Stillstand.

Aber in der Langeweile schlummert auch ein kritisches Moment. William James, der große amerikanische Psychologe und Pragmatist, schrieb einst, die Langeweile sei ein Protest gegen die gesamte Gegenwart. Denn in der Langeweile wird das Subjekt mit einer seltsam entrückten Distanz auf sich und das „Jetzt“ zurückgeworfen. So kann die Langeweile zeigen, dass uns nicht das fehlende Neue, sondern das potenzielle „Jetzt“ mit seinen unendlichen Möglichkeiten selbst langweilt. Es kann langweilig werden, immer neue Wanderungen zu machen, immer weiter weg zu reisen oder das zigste Update des iPhones zu bestaunen. Langeweile verweist auf die Widersprüche der Verheißung der Beschleunigung. In der Langeweile entsteht die Notwendigkeit, sich aktiv zur Welt zu verhalten, denn sie ruft: „Kein Weiter so!“, und belächelt das „Mehr“, „Größer“ und „Weiter“ unbeeindruckt. Damit eröffnet die Langeweile dem Einzelnen die Möglichkeit, sich von der Beschleunigung zu befreien.

Freie Zeit

Wie aber kann diese in der Langeweile gewonnene Freiheit in eine positive Freiheit – eine „Freiheit zu“ – gewendet werden? Eine Möglichkeit wäre, einen Aspekt der oftmals verpönten Romantik zu aktualisieren: die dort entwickelte Konzeption des Subjekts und dessen Verhältnis zur Welt.

Demnach kann diese Welt dort draußen, die uns so viel verspricht und uns so viel vorenthält, nicht als etwas von uns Unabhängiges wahrgenommen werden. Vielmehr wird sie erst dadurch bedeutsam, dass sich ein Subjekt auf sie bezieht. Zu denken wäre hier etwa an den amerikanischen Romantiker Henry David Thoreau. Auch Thoreau treibt die Angst um, das Leben zu verpassen, er wendet sich aber gegen die Strategie, das intensive Leben durch ein rasendes Anfüllen von Momenten zu erreichen. Thoreau kontempliert – mit einiger Toleranz für die Langeweile – das Gewöhnliche so lange, bis sich das Außergewöhnliche und Erhabene in diesem offenbart. Die dafür notwendige und von der Langeweile angestoßene Imagination ist der springende Punkt für die Befreiung von der vermeintlichen Alternativlosigkeit der Beschleunigung: Aus einer ersten Abneigung entspringt die Möglichkeit, sich andere Welten zu erträumen. Welten, in denen nicht jede ungenutzte Zeit langweilig wird, Welten, in denen Zeit nicht mehr Geld ist und Uhren nicht mehr ticken, sondern in denen wir Zeit genug haben, Zeit zu haben.

Dafür aber muss die Imagination auch auf das Politische ausgeweitet werden – denn Zeit hört nicht einfach nur deshalb auf Geld zu sein, weil wir uns das wünschen. Reale Utopien sind schon im Entstehen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen etwa zielt genau in die beschriebene Richtung, da es Geld unabhängig davon zur Verfügung stellt, wie wir unsere Zeit nutzen. ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 3/2018 BEFREIUNG in der Rubrik HORIZONT erschienen. In der Rubrik geht es darum, wie sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken lässt und wie konkrete Veränderungen herbeigeführt werden können.
Jacob Schmidt
Jacob Schmidt studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie in Jena und schloss 2019 seine Dissertation zu den romantischen Quellen von Achtsamkeitspraktiken ab. Er ist derzeit stellvertretender Pressesprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Brandenburger Landtag.
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Henri Bergson: Die Wahrnehmung der Veränderung. In: Ders.: Denken und schöpferisches Werden (Europäische Verlagsanstalt, 2008)
Henry David Thoreau: Vom Wandern (Reclam Verlag, 2013)
ROMAN
Jack Kerouac: Unterwegs (Rowohlt Verlag, 1997)
FILM
Paterson von Jim Jarmusch (2016)

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