Es fehlt der Raum für Experimente | Hanna Noller

Blick von oben auf StuttgartFoto: Max Böttinger | Unsplash

 

Es fehlt der Raum, in dem experimentiert werden kann

Interview mit Hanna Noller

Frau Noller, Sie sind Gründungsmitglied von Stadtlücken e. V. Mit Ihren Mitstreiter*innen haben Sie in Stuttgart eine urbane Brache – den Österreichischen Platz – ausfindig gemacht und wiederbelebt. Was war dabei das größte Problem? Was sagt das über den Zustand unserer Städte aus?

Gestartet sind wir in das Projekt als junge Gestalter*innen, die sich für eine lebenswerte Stadt Stuttgart engagieren wollten und Lust hatten, ihre Expertise in die Gestaltung ihrer Stadt einzubringen. Um den Österreichischen Platz als urbanes Experimentierfeld zu nutzen, mussten wir die Fläche von der Stadt Stuttgart pachten. Damit ging die gesamte Verantwortung und Haftung für die Fläche von der Stadt an den gemeinnützigen, bis jetzt rein ehrenamtlich arbeitenden Verein über und damit eigentlich an die Vorstände des Vereins, die im Ernstfall mit ihrem Privatvermögen und dem ihrer Familien für Schäden haften würden. Die größte Herausforderung lag somit in der Klärung der verantwortlichen Zuständigkeiten, Haftungsfragen und Versicherungsmöglichkeiten.

Unsere Städte sind festgefahren in einem Konstrukt aus teilweise veralteten Strukturen und Verordnungen, ausgelagerter Verantwortung und in Beton investiertem Kapital. Es sind nicht mehr die Menschen einer Stadt, die entscheiden, wie ihre Stadt gestaltet ist und funktionieren soll, sondern Dienstpläne, Gesetze, Versicherungen und Fonds.

 

Die meisten Städter*innen nehmen keinen oder kaum Einfluss auf die Gestaltung ihrer Stadt, ihres Lebensraumes. Was müsste passieren, damit Mitgestaltung und Kooperation einfacher werden?

Es gibt bereits viele gute Projekte, in denen Bürger*innen ihre Ideen einbringen und diskutieren können. Meiner Meinung nach fehlt aber der Raum, in dem experimentiert, eine Idee konkret ausprobiert und 1 zu 1 vor Ort provisorisch umgesetzt werden kann. Es fehlt der Raum, in dem wir vom gemeinsamen Denken und Diskutieren zum Machen und Handeln kommen können.

Mitgestaltung und Kooperation kann einfacher werden, indem Städte und Kommunen einen Möglichkeitsraum schaffen, in dem Mitgestaltung und neue Ideen erwünscht sind und ausprobiert werden können.

 

Warum fordern Sie eine „Aktivierung“ anstatt einer „Beteiligung“? Worin besteht der Unterschied?

Beteiligung heißt für mich, ich kann mich in ein vorhandenes Projekt in einem gewissen Rahmen einbringen. Dieser Rahmen wurde aber bereits auf höherer Ebene gesteckt und ist nicht verhandelbar. Bürger*innen werden dadurch lediglich zu Konsument*innen von Stadt erzogen, die sich ab und an in bestimmte Stadtentwicklungsprojekte einbringen dürfen. Unter Aktivierung hingegen verstehe ich, bei Bürger*innen ein grundsätzliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir alle mit unserem alltäglichen Handeln Stadt produzieren und es viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, dies zu tun. In gemeinsamen Experimentierräumen kann dies angestoßen, ausprobiert und weiterentwickelt werden.

 

Die „Gestaltung“ des städtischen Raums wird vor allem dem sogenannten Markt überlassen, sprich Privatinteressen werden zumeist über das Gemeinwohl gestellt. Braucht es, um den städtischen Raum lebendig, lebenspraktisch und lebenswert zu gestalten, eine bessere Rahmengebung und klarere Grenzziehungen durch die Politiker*innen im Sinne des Gemeinwohls? Und braucht es auch Enteignungen?

Bevor wir über Enteignung sprechen, wäre es meiner Meinung nach dringend notwendig, dass Städte und Kommunen die Flächen, über die sie noch verfügen, nicht weiter an rein gewinnorientierte Privatunternehmen veräußern. Im nächsten Schritt wäre zu klären, was Gemeinwohl für uns eigentlich bedeutet, um daraus konkrete Regeln und Handlungsanweisungen abzuleiten. Die Ökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat in ihrem Werk Verfassung der Allmende unter anderem acht Gestaltungsprinzipien für den Umgang mit Gemeingütern im Sinne des Gemeinwohls entwickelt. Das erste Prinzip lautet „Klar definierte Grenzen“. Diese sollten sowohl für die zu nutzende Ressource (Wem gehört der Boden, die Luft, der öffentliche Raum einer Stadt?) als auch für die Community der Nutzenden gezogen werden. Wem dient diese Ressource und wer sollte deshalb ein Recht haben, diese mitzugestalten? Dient der öffentliche Raum einigen wenigen als Parkfläche oder vielen Menschen mehr als Begegnungs-, Kreativ- und Bildungsort? Von wem und zu welchen Bedingungen können städtische Flächen in Zukunft genutzt oder bebaut werden? Wenn wir diese Fragen geklärt haben, können wir, denke ich, sehr schnell feststellen, ob wir bei gewissen Ressourcen über Enteignung sprechen müssen oder nicht. ■

Hanna Noller ist studierte Architektin und Betriebswirtin sowie gelernte Schreinerin. Seit Oktober 2020 forscht und lehrt sie
am Institut für Entwerfen und Städtebau der Universität Hannover und wirkt in Stuttgart und Hannover als „Stadtmacherin“, beispielsweise als Mitglied und Mitgründerin des gemeinnützigen Vereins STADTLÜCKEN.
Für weitere Informationen: hannanoller.de

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