Führt Kapitalismus zur Demokratie? Silja Graupe & Walter O. Ötsch

Freiheit für alle?Foto: Dan Burton | Unsplash

 

Führt Kapitalismus zur Demokratie?

Text: Silja Graupe und Walter O. Ötsch

Viele Liberale vertreten die Ansicht, der Kapitalismus würde eine Vorbedingung für Demokratie sein beziehungsweise er würde eine Tendenz zur Demokratie schaffen. Als Argument wird dann gerne genannt, dass dezentrale Eigentumsrechte eine Eigenständigkeit dem Staat gegenüber erlauben würden. Aber die dem Jahr 1989 folgende Periode hat gezeigt, dass der Übergang zum Kapitalismus nicht notwendig Demokratie zur Folge haben muss. Kapitalistische Länder wie Russland mögen pro forma als Demokratie gelten, inhaltlich sind sie es nicht – von China ganz zu schweigen. Und in vielen westlichen Ländern werden Fragen an die Stärke der Demokratie laut. Was ist falsch an der Verbindung von Kapitalismus und Demokratie?

Vermögen und Macht

Liberale argumentieren meist mit einem negativen Freiheitsbegriff: Freiheit ist Abwesenheit von Zwang, in der Regel wird dabei an das Zwangssystem des Staates gedacht. Die positive Freiheit hingegen ist die Handlungsfreiheit. Genau diese Möglichkeiten, frei zu handeln, werden in einer kapitalistischen Gesellschaft durch Vermögen geschaffen – allerdings nur für die, die vermögend sind. Steigende Ungleichheit in den Vermögen führt damit zu einem Freiheitsproblem: Die zunehmende Freiheit der Vermögenden kollidiert mit den abnehmenden Möglichkeiten der Nichtvermögenden. Eine liberale Politik, die Vermögensungleichheit fördert (zum Beispiel, weil sie den Slogans von Privatisierung und Flexibilisierung folgt) beziehungs- weise nichts gegen ihr Anwachsen unternimmt, baut de facto Freiheiten ab. Eine (wirtschafts-)liberale Politik bewirkt dann genau das Gegenteil von dem, was sie erreichen will.

Neben dem Freiheitsbegriff weisen die in der liberalen Wirtschaftstheorie fehlenden Begriffe von Macht und Gruppe auf eine weitere Problematik hin. Wenn eine Theorie prinzipiell vom Individuum ausgeht und keinen Gruppenbegriff kennt, dann kann die Macht von Gruppen, die aus Eigentum hervorgeht, kaum erkannt werden (man spricht dann von Hypokognition, das heißt von verzerrten Wahrnehmungen aufgrund fehlender Begriffe). Aber diese Macht ist real, sie kann zum Beispiel anhand des Einflusses von Lobbyisten auf die Gesetzgebung der EU nachgewiesen werden. Generell hat das zur Folge, dass vielerorts demokratische Regierungen eher die Interessen der Vermögenden als die der Habenichtse verfolgen. So wird die eigentliche Macht, nämlich die Macht, Gesetze zu erlassen, der Politik beziehungsweise dem Parlament entzogen.

In unserer Demokratie schwinden immer mehr die Fähigkeiten zu einer echten Gestaltung, weil die dominante Sprache des (Neo-)Liberalismus hierfür keine Möglichkeiten bereitstellt. Das damit einhergehende Unbehagen ist eine der Wurzeln des Rechtspopulismus. Zur Abhilfe brauchen wir eine Sprache, die wirtschaftliche Probleme jenseits ihrer marktfundamentalen Bedeutung diskutieren kann – vor allem muss das Schwarz-Weiß-Schema „der Staat“ gegen „den Markt“ durchbrochen werden. Erst dann werden die Menschen wieder mehr Vertrauen in den öffentlichen Diskurs und in die Politik insgesamt schöpfen (können). Dabei müssen auch die Ursachen von Ungleichheit offen benannt und Lösungen zu ihrer Überwindung vorgeschlagen werden – eine Vorbedingung, um das von den Populisten praktizierte Wechselspiel aus falschen Erklärungen und dem Schüren weiterer Ängste zu beenden.

Kapitalismus und Abbau von Demokratie

Die jahrzehntelange Aufwertung „des Marktes“ – und die damit einhergehende Abwertung „des Staates“ – haben die Demokratie unterhöhlt. Zu diesem Prozess haben ökonomische Theorien ihren Beitrag geleistet. Gleichzeitig wurde weithin die Vorstellung einer handlungsfähigen Politik aufgegeben. Wenn die Politik diese Sichtweise übernimmt – und nichts anderes drückt Angela Merkels Begriff einer „marktkonformen“ Demokratie aus –, dann hört sie auf, große Ziele zu vermitteln, und bleibt in Standortsicherung, Alternativlosigkeit und scheinbaren Sachzwängen gefangen (genau das kann anhand des aktuellen Klimadiskurses studiert werden). Insbesondere die Finanzkrise der Jahre 2008ff. hat unterschwellig die Überzeugung genährt, die Politik hätte angesichts der Finanzmärkte die Kontrolle verloren. Das macht Platz für vorgebliche Alternativen, wie die Alternative für Deutschland: Bewegungen dieser Art pflegen eine Rhetorik des Wandels, können aber keinen Wandel bewirken, weil ihnen die Systemmängel des Kapitalismus nicht bewusst sind. Ein drastisches Beispiel ist die Klimakrise: Sie kann von vielen sich als liberal denkenden Ökonom*innen kaum in ihrem Ausmaß erkannt und schon gar nicht als Krise des Kapitalismus reflektiert werden. Nicht umsonst sind in der AfD heute nicht nur Klimawandelleugner prominent vertreten, sondern die Partei versammelte in der Anfangszeit auch viele liberal gesinnte Professoren der Nationalökonomie (eine Reflexion darüber, was Ökonom*innen hier angerichtet haben, ist bis heute unterblieben).

Rechtspopulistische Bewegungen betreiben aktiv ein Projekt zum Abbau der Demokratie. Dieser Abbau kann durchaus mit marktliberalen Ideen Hand in Hand gehen. Beiden ist zumindest gemeinsam, dass zu einfach argumentiert und ein komplexes Denken unterbunden wird. Auch Donald Trump wird von libertären Think-Tanks unterstützt. Die Krise des Kapitalismus manifestiert sich in der aktuellen Krise der Demokratie in fast allen Ländern des reichen Westens. Die Zukunft des Kapitalismus könnte durchaus in einer autoritären Demokratie bestehen.

Redemokratisierung!

Die Zukunft der westlichen Demokratien wird wesentlich daran hängen, ob es gelingt, die Klimakrise zu lösen. Bezeichnend ist, dass die Fridays-for-Future-Bewegung einen aufgeklärten Diskurs einfordert, der sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt. Allerdings kann und darf die Wertschätzung der Naturwissenschaften nicht auf die Wirtschaftswissenschaften übertragen werden. Denn Letztere müssen zuerst entscheidend reformiert werden, um Menschen zu grundlegenden Reformen befähigen zu können. Die Wirtschaftswissenschaften sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Wir brauchen dringend eine neue Ökonomie, die mehr Handlungsfreiheit, eine bessere soziale Kooperation und einen sinnvollen Umgang mit Macht ermöglicht.

Dieser Text ist in agora42 4/2019 zum Thema DEMOKTRATIE UND WIRTSCHAFT in der Rubrik WEITWINKEL erschienen.
Silja Graupe
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz sowie deren Präsidentin.
Walter Otto Ötsch
Walter Otto Ötsch ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz.
Die Rubrik WEITWINKEL präsentiert plurale und kritische Perspektiven auf aktuelle ökonomische und wirtschaftspolitische Themen. Denkgefängnisse, in denen wir in politischen und alltäglichen Debatten oft unwillkürlich gefangen sind, sollen aufgezeigt und deren Mauern gesprengt werden. So soll sich der Blick auf das Neue, das Ungewöhnliche und durchaus auch Unbequeme weiten.
In der Rubrik stellen Professorinnen und Professoren sowie Mitarbeitende der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung ihre Vision einer lebensdienlichen Wirtschaft und Gesellschaft vor. Die noch junge Hochschule will ihren Studierenden das Wissen, Können sowie die persönliche Stärke vermitteln, damit sie die sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen der Gegenwart aktiv überwinden können. Dafür rückt sie in ihren Studiengängen statt abstrakter Fachdisziplinen die konkreten Probleme der heutigen Welt in den Vordergrund und arbeitet mit ihren Studierenden inter- sowie transdisziplinär an Lösungen.

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