Man kann hier einen anonymen Tanz des Kapitals beobachten | Interview mit Ole Nymoen und Wolfgang M Schmitt

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Man kann hier einen anonymen Tanz des Kapitals beobachten

Interview mit Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt zu Influencer: Die Ideologie der Werbekörper (edition suhrkamp, 2021). Die Fragen stellte Julia Sophia Schmid.

Julia Sophia Schmid: Warum habt Ihr Euch zu einer Analyse des Influencertums entschlossen? Warum ein Buch und nicht eine Podcast-Folge? Verfolgt Ihr damit einen Zweck?

Wolfgang M. Schmitt: Mich hat an diesem Influencer-Thema tatsächlich ein Ereignis getriggert. Das war im Herbst 2019 als es die Idee des Start-ups Einhorn gab, man könne doch das Olympiastadion in Berlin mieten und dort ein großes Petitions-Event abhalten. Das ist dann zwar wegen Corona ausgefallen, jedoch ist uns aufgefallen, dass dieses Event sehr stark von Influencer*innen beworben wurde und man dort gemerkt hat, wie wichtig Influencer*innen inzwischen sind – gesellschaftspolitisch, aber auch generell als Teil von Marketingstrategien.
Wir haben recht schnell gesehen, dass diese Art von Influencer*innen, die dort mitmachten, nur ein Ausschnitt eines größeren Phänomens sind. Zum Teil hat man es hier mit Multi-Millionär*innen zu tun, die eine extreme Reichweit haben, in deren Inhalten gesellschaftspolitische Themen eher weniger wichtig sind. Solchen Influencer*innen geht es eigentlich nur darum, den Konsum ordentlich anzuheizen. Man merkt aber schnell, dass auch nachhaltige Influencer*innen primär das Ziel verfolgen, den Konsum anzukurbeln – eben mit „nachhaltigen“ Produkten.
Es hätte nicht gereicht, lediglich eine Podcast-Folge dazu zu machen. Das Influencertum ist ein zu bedeutsames Phänomen, von dem man auch mehrere Dinge ableiten kann. Zum einen, wo steht der Kapitalismus aktuell, warum tauchen da gerade solche Figuren auf, die uns jetzt Lust auf Produkte machen, die also Werbung zu ihrem eigentlichen Inhalt machen? Zum anderen, was sagt das über uns als Gesellschaft aus, wenn sich Millionen Follower*innen Werbung nicht nolens volens, sondern sehr gerne ansehen? Wir haben uns auch gefragt, wenn „Influencer“ so viel wie „Beeinflusser“ meint, inwiefern beeinflussen sie eigentlich Geschlechterbilder oder unsere Art, Reisen zu erleben, unsere Art, über Familie nachzudenken? Das wollten wir auch als ein globales Phänomen fassen, denn Influencer*innen gibt es in jedem Land.
Darüber hinaus sehen wir, dass diese Beeinflussung auch jenseits des direkten Influencer-Marketings sichtbar wird, also bei Menschen, die eher privat auf Instagram und Co unterwegs sind, indem sie zum Beispiel die dort vorherrschenden Instagram-Posen nachahmen. Der Soziologe Gabriel Tarde sagte mal, Kultur sei Nachahmung und das kann man in der Influencer*innen-Szene sehr deutlich und in seinen negativen Folgen sehen. Das führt letztendlich dazu, dass wir es mit einer sehr homogenen Gesellschaft zu tun haben. All das war für uns Anlass genug, ein Buch über dieses Phänomen zu schreiben.

Julia Sophia Schmid: Um auch die Menschen mitzunehmen, die Euer Buch noch nicht gelesen haben: Könnt Ihr kurz auf Eure Definition von Influencer*in eingehen?

Wolfgang M. Schmitt: Ein*e Influencer*in ist jemand, der/die vor allem sein Ich zur Darstellung bringt, der sein Ich zur Marke macht, der seinen Alltag verknüpft mit Produktwerbung bzw. mit Werbung für eigene Produktlinien und der in erster Linie ein Akteur der Werbeindustrie ist. Es sind also nicht alle Leute, die eine gewisse Reichweite in den sozialen Medien haben, Influencer*innen, so wie manche das fälschlicherweise behaupten. Politiker*innen haben zum Beispiel auch eine große Reichweite und viele Follower*innen, sie machen aber keine Werbung und haben keine Produkte, die sie hochhalten oder die mit Rabatt-Codes versehen sind. Hier besteht also schon ein fundamentaler Unterschied.
Wenn man den Begriff Influencer*in aufweicht und auf alle Leute ausweitet, die in den sozialen Medien eine gewisse Reichweite haben oder sogar so weit geht, dass man sagt, alle Leute, die irgendwie Einfluss haben, sind Influencer*innen, dann ist der Begriff unbrauchbar. Influencer*innen sind Menschen, die in erster Linie im Auftrag von Firmen – die auch ihre eigenen sein können –, Werbung machen und zum Kauf anregen wollen. Die Influencer*innen von heute sind auch nicht die Stars von früher, die auch Werbung gemacht haben, wie beispielsweise der bekannte Moderator Thomas Gottschalk für Haribo. Bei den heutigen Influencern*innen ist die Werbung der Inhalt und ihr Markenkern; sie werden in erster Linie für die Werbung, die sie machen, angesehen. Ein*e Influencer*in ohne Werbung ist kein*e Influencer*in.

Julia Sophia Schmid: Daraus schließe ich, dass Ihr Euch nicht als Influencer bezeichnet?

Wolfgang M. Schmitt: Nein, wir sehen uns nicht als Influencer. Wir vermitteln Inhalte und diese sind losgelöst von irgendwelchen Werbekooperationen. Beispielsweise werden wir nicht von einem Unternehmen engagiert, um in einer Folge unseres Podcasts über eine Finanz-App zu reden. Bei Influencer*innen hingegen kreiert der Werbeauftrag den Content. Das ist bei uns nicht der Fall.

Ole Nymoen: Was eine*n Influencer*in ausmacht, ist zum einen, dass sie permanent ihr Ich ausstellen und zum anderen, dass sie kontinuierlich werben. In unserem Buch schreiben wir auch etwas ironisch, dass Influencer*innen immer von Content sprechen, obwohl das, was deren Content ausmacht, ja eigentlich sehr inhaltsleer ist.

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Julia Sophia Schmid: Was war eigentlich zuerst da: Das Unternehmen, welches überlegte, wie man auch noch dieses (neue) Produkt an den Menschen bringt (Stichwort: Marktsättigung und stagnierende Produktivität), oder die Person, die sich überlegte, dass sie sich gerne in Szene setzen oder berühmt werden möchte?

Ole Nymoen: Die erste YouTuber-Generation so Mitte/Ende der 2000er Jahre war so ein bisschen eine Avantgarde. Damals sind etliche YouTuber*innen aufgekommen, von denen einige auch heute noch aktiv sind, andere aber auch schon längst aufgehört haben – oftmals auch, weil sie ausgesorgt haben. Auf dem YouTube-Kanal von Simon Desue, ein solcher „Pionier“, steht beispielsweise nach wie vor, dass er fast jeden Tag neue Videos hochladen würde, auch wenn dort faktisch nichts mehr stattfindet, außer vielleicht alle vier Wochen mal eine weitere „Room-Tour“ durch eine Millionärs-Suite in Dubai.
Die Menschen, die Mitte/Ende der 2000er Jahre aufgestiegen sind, wussten erstmal gar nicht so richtig, was sie tun, bis sie angefangen haben, damit Geld zu verdienen, dass Werbung vor ihre Videos geschaltet wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren sie aber noch nicht das, was man heute Influencer*in nennt. Erst in den darauffolgenden Jahren sind Unternehmen darauf aufmerksam geworden, welche Reichweite diese Menschen haben und wie wertvoll eine Kooperation mit ihnen sein kann. Angefangen hat es dann damit, dass Unternehmen den angehenden Influencer*innen Produkte zugeschickt haben, die sie auf ihren Kanälen ausprobieren konnten. Nach und nach haben die damaligen Influencer*innen erkannt, dass sie im Gegenzug etwas von den Unternehmen verlangen können, dass sie wichtige Werbepartner*innen für die Unternehmen sind. Anfänglich war es also ein relativ unschuldiges Spielfeld. Viele tummelten sich dort ohne monetäre Anreize.
Bei den heutigen Influencer*innen sieht man hingegen sofort, dass dort eine ganz ausgeprägte Professionalität vorherrscht, und, dass dort eine bestimmte Ästhetik etabliert wurde. Ein Beispiel für die Internalisierung dieser Ästhetik, ist die Art wie sich Frauen „zu präsentieren haben“, also die Art, wie Frauen sich zu räkeln und in die Kamera zu schauen haben, die die meisten Influencer*innen schon direkt beherrschen. Jede Person, die heute eine solche Karriere beginnt, weiß genau, wie sie sich zu präsentieren hat, wie man an die Unternehmen herantritt und wie man Werbepartner*in werden kann.

Wolfgang M. Schmitt: Bemerkenswert ist auch, dass die Influencer*innen, die zuerst da waren, die nur YouTuber*innen waren, sich erstmal nur als Konsument*innen begriffen haben: Sie haben einfach gezeigt, was sie gekauft haben und haben die Produkte getestet. Da lag also die Verbindung zur Werbeindustrie schon sehr nahe.
Versucht man die Geschichte des Influencer-Marketings retrospektiv in eine Erzählung zu bringen, unter Einbezug der Nachfragestagnation auf den Märkten sowie der neuen technischen Möglichkeiten der digitalen Plattformen, dann sieht man, wie sich das Kapital wieder neu zu realisieren versucht hat. Man kann hier einen anonymen Tanz des Kapitals beobachten, bei welchem nochmal neue Akteure und Möglichkeiten gefunden wurden, die kapitalistische Produktions- und Konsumlogik anzukurbeln und darzustellen. Dieser Tanz hat besser funktioniert als man sich das vorstellen konnte.

Julia Sophia Schmid: Welche Rolle spielen die Unternehmen, die Plattformen und die Algorithmen dabei? 

Ole Nymoen: Die Algorithmen spielen in der Tat eine große Rolle, sie sind mächtig und undurchschaubar. Man weiß nie genau, nach welchen Kriterien sie vorgehen, was bevorzugt behandelt wird, ob also zum Beispiel mein Video 11 oder 13 Minuten lang sein sollte, etc. – solche Dinge sind nicht herauszufinden. Hingegen sind bestimmte andere Dinge sehr konkret auffindbar und vorgeschrieben, wie der Moralkodex. Als Beispiel möchte ich Xlaeta nennen, die ein Video gemacht hat, in dem sie darüber spricht, wie man das Dekolleté ansehnlich präsentiert. Sie sagt, dass sie nicht von „Brüsten“ sprechen darf, weil sie sonst schlechter gerankt wird, weshalb sie immer nur von „die beiden“ spricht.
Das ist auch ein typisches Merkmal des Influencertums: Man möchte zwar eine pornografische Ästhetik, die muss aber doch irgendwie domestiziert sein – Brustwarzen dürfen also nicht zu sehen sein, aber Brüste sollen auf jeden Fall präsentiert werden, weil es dafür Klicks gibt. Das sehen wir auch beim Thema Sex. Auf Instagram wird das Wort „Sex“ immer mit einem €-Zeichen geschrieben, da man Sorge hat, schlechter gerankt zu werden, weil Algorithmen den Inhalt als Content für Erwachsene markieren könnten. Im Prinzip ist das genau das, was Adorno und Horkheimer schon beschrieben haben, als sie sagten, dass die Kulturindustrie pornografisch und prüde zugleich sei.
In Bezug auf die Unternehmen können wir folgendes sagen: Was diese zum Teil jetzt schon machen ist, sich ihre eigenen künstlichen Influencer*innen zu produzieren. Das ist ein neuer Trend. Bei KFC gibt es beispielsweise schon einen digitalen Colonel, diese Werbefigur der Fast-Food-Kette KFC. Zuerst hat man den Unternehmensgründer, den alten Mann mit dem weißen Bärtchen, von Schauspielern darstellen lassen. Inzwischen hat man eine digitale Variante von ihm kreiert, die – körperlich sehr gut gebaut – auf Instagram für KFC wirbt. Wenn man diese einmal erschaffen hat – auch wenn das vermutlich hohe „Anschaffungskosten“ erfordert –, muss man dem künstlichen Influencer kein Geld mehr zahlen, da man selbst über ihn verfügt. Es wird sehr interessant, ob das funktioniert oder nicht. Nachvollziehbar ist es allemal, da die Influencer*innen eigentlich Personen ohne Persönlichkeiten sind. Meiner Meinung nach herrscht unter den Influencer*innen die pure Austauschbarkeit, was man auch daran sehen kann, dass sie dieselben Trends verfolgen, dieselben Filter über ihre Bilder legen, etc.
Worüber noch zu wenig gesprochen wird, ist das Thema der kartellartigen Influencer-Agenturen. In den USA gründen solche Agenturen beispielsweise sogenannte „TikTok-Houses“, wie das Hype-Haus. Dort werden Leute gecastet, von denen man denkt, dass sie es schaffen könnten, Influencer*in zu werden. Sie werden zusammen in ein Haus geschickt und sollen dort jeden Tag dutzende von TikTok-Videos produzieren. So spielen sie sich gegenseitig – und natürlich dem Account des Hype-Hauses – ihre Followerschaft zu. Die Sängerin Rihanna wollte zum Beispiel kurz vor der Corona-Pandemie ein eigenes Hype-Haus für Influencer*innen aufziehen, die für ihre Marke werben sollten. Soweit ich weiß, wurde das Projekt coronabedingt abgebrochen, aber es ist definitiv ein Trend, der in den letzten Jahren aufgekommen ist.

Wolfgang M. Schmitt: Und um ein letztes trauriges Beispiel zu bringen: Es gibt nicht nur eine Professionalisierung bei den Influencer*innen, sondern es droht auch die Akademisierung. Die ohnehin für ihre neoliberale Denkweise bekannte Popakademie in Mannheim bietet einen Studiengang an, in dem man Influencer*in werden soll. Da sehen wir dann wie die neue „creative industry“ eine neue Ausgeburt hervorbringt.

Julia Sophia Schmid: Was macht dieses Influencertum mit uns als Gesellschaft?

Wolfgang M. Schmitt: Wir geraten alle immer mehr in diesen Modus des Influencer-Marketings. Inzwischen durchdringt es ganz unterschiedliche Altersklassen der Gesellschaft, beispielsweise mittels Mami-Influencerinnen oder des gezielten Adressierens von Frauen und Männern über 40, es erreicht also nicht mehr nur das junge Publikum.

Ole Nymoen: Es findet dadurch auch eine Entpolitisierung statt. Das konnte man vor acht Jahren schon sehr gut sehen, als Angela Merkel im Wahlkampf mit vier Influencer*innen gesprochen hat. Diese Fragen waren aber vorher abgesprochen und sind nicht so kritisch ausgefallen, wie man das von Polit-Journalismus erwarten könnte. Da war es nicht möglich zu fragen, „Frau Merkel, was ist eigentlich mit den Hartz-IV-Empfänger*innen: Wie kommt es, dass hier die Regelsätze in der Regel möglichst klein gerechnet werden?“ Die kritischste Frage war, wann eigentlich Marihuana legalisiert würde. Ein anderes Beispiel ist Luisa Dellerts Interview mit Annegret Kramp-Karrenbauer im November 2020, in dem die Influencerin die Verteidigungsministerin beispielsweise nicht zu ihren Plänen befragte, das 2-Prozent-Ziel der Nato umzusetzen und damit das Militärbudget drastisch zu erhöhen.

Julia Sophia Schmid: Verstehe ich Euch also richtig, dass es Eurer Auffassung nach keine guten Influencer*innen gibt, da alle schlicht Werbeträger*innen sind?

Wolfang M. Schmitt: Influencer*innen sind generell nicht zu begrüßen, denn sie wollen zum Kauf manipulieren. Wir würden dennoch unterscheiden, je nachdem, ob jemand dazu aufruft, ein nachhaltiges Produkt zu kaufen oder mit dem Flugzeug nach Dubai zu fliegen, um dort in einem 5-Sterne-Hotel zu verweilen. Die einen sind die besseren unter den schlechten Influencer*innen.

Ole Nymoen: Wir würden generell sagen, dass diesem Begriff Influencer*in schon von vornherein etwas sehr Anti-Aufklärerisches anhaftet. Wenn man Aufklärung im Sinne Kants versteht, also als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit unter Verwendung des eigenen Verstandes, dann ist das genau das, was Influencer*innen nicht wollen. Schon allein der Begriff Influencer*in beinhaltet ja, dass die Menschen beeinflusst, manipuliert werden und nicht mündig sein sollen. Dies steht im Kontrast zu einer Gesellschaft mündiger und freier Menschen. Von daher halten wir es auch für wenig verwunderlich, dass – mal abgesehen von ein paar woken Influencer*innen – sehr viele gar kein Problem damit haben, mit autoritären Regimen wie dem in Dubai zu kooperieren.

Vielen Dank für das Gespräch!

Ole Nymoen studiert Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in Jena und arbeitet als freier Journalist. Zusammen mit Wolfgang M. Schmitt spricht er im Podcast Wohlstand für alle über ökonomische Themen.
Wolfgang M. Schmitt ist Literaturwissenschaftler und betreibt seit 2011 Die Filmanalyse auf Youtube. Er schreibt als freier Journalist Film- und Literturkritiken und produziert mehrere Podcasts zu verschiedenen Themengebieten mit, beispielsweise mit Ole Nymoen Wohlstand für alle.

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