Kritische Theorie und Philosophie | Interview mit Frieder Vogelmann

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Kritische Theorie und Philosophie

Interview mit Frieder Vogelmann

Herr Vogelmann, Sie haben Max Horkheimers Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie, 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen, in der Reclam-Reihe „Great Papers Philosophie“ neu herausgegeben. Warum gehört der Aufsatz in die Reihe?

Weil Horkheimers Aufsatz ein großartiges Stück Philosophie ist – versteht sich! Aber im Ernst, Ihre Frage berührt einen wichtigen und nach wie vor strittigen Punkt, nämlich: Welches Verhältnis besteht zwischen kritischer Theorie und Philosophie? Qua Ausbildung war Max Horkheimer (1895-1973) Philosoph, wobei man berücksichtigen muss, dass die Grenzen zur Soziologie zu seiner Zeit sehr fließend waren und deren Institutionalisierung an den deutschen Hochschulen erst in den 1920er Jahren richtig begonnen hatte.

Was Horkheimer 1931 in seiner Antrittsvorlesung Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung als neuberufener Professor für Sozialphilosophie und als Direktor des Instituts für Sozialforschung umriss, war eine interdisziplinäre materialistische Gesellschaftstheorie. Sie sollte Sozialphilosophie, politische Ökonomie und Psychologie zusammenbringen, wobei Horkheimer bei politischer Ökonomie an Marx und bei Psychologie vor allem an Freud dachte. Die Rolle der Philosophie sollte es sein, den begrifflichen Zusammenhalt für dieses Theorie-Projekt zu liefern. Sein Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ kann auch als Beispiel dafür gelesen werden, wie seiner Ansicht nach Philosophie diese Aufgabe erfüllen sollte.

Explizit wird Philosophie in dem Aufsatz allerdings selten genannt, was Herbert Marcuse bemängelte. In seiner Erwiderung gab Horkheimer zwar keine explizite Bestimmung von Philosophie, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Philosophie nur inmitten der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren Konflikten ihre Berechtigung hat: „Die Philosophie, die bei sich selbst, bei irgendeiner Wahrheit, Ruhe zu finden meint, hat daher mit kritischer Theorie nichts zu tun.“ (Horkheimer 1937)

Damit bestimmt Horkheimer kritische Theorie von Anfang an als ein philosophisches und sozialwissenschaftliches Unterfangen: Sie gewinnt philosophische Erkenntnisse in der Auseinandersetzung mit empirischer Sozialforschung und speist diese Erkenntnisse in die Sozialforschung zurück; wo diese spannungsvolle Einheit einseitig aufgelöst wird, verwandelt sich kritische Theorie in (tendenziell idealistische) reine Philosophie ohne Wirklichkeitsbezug oder in (tendenziell positivistische) empirische Sozialforschung, die ihre Begriffe nicht kritisch reflektiert.

Der Anspruch, beides zu verbinden, beiden Seiten gerecht zu werden und damit auch, beide sich wechselseitig bereichern zu lassen, scheint mir das ebenso spannende wie anspruchsvolle Anliegen des Aufsatzes von Horkheimer zu sein.

 

In Ihrem Begleittext weisen Sie darauf hin, dass der Horkheimer-Aufsatz in einer Umbruchphase des Instituts für Sozialforschung geschrieben worden ist. Die empirische Sozialforschung verlor an Gewicht und Horkheimer und Theodor W. Adorno, die beiden bekanntesten Köpfe des Instituts, gingen einer „negative Geschichtsphilosophie“ nach. Warum dieser Umbruch und welcher Rolle spielte er für die Kritische Theorie, wie sie heute diskutiert wird?

Sie bringen mich mit dieser Frage in eine gewisse Verlegenheit. In meinen Erläuterungen zu Horkheimers Aufsatz erwähne ich die These eines Umbruchs in der Frankfurter kritischen Theorie nur beiläufig. Die These findet man zum Beispiel bei Helmut Dubiel oder auch bei Seyla Benhabib, die zwischen den drei Phasen eines „interdisziplinären Materialismus“ (1932–1937), der „kritischen Theorie“ (1937–1940) und der „Kritik der instrumentellen Vernunft“ (1940–1954) unterscheiden. Ich habe die These der Abwendung der kritischen Theorie von der empirischen Arbeit hin zu einer „negativen Geschichtsphilosophie“ angeführt, weil sie zwar eine erste Orientierung bietet. Ich habe sie aber nur gestreift, weil ich mich in meinen Erläuterungen auf den argumentativen Gehalt von Horkheimers enorm komplexen Essays beschränken wollte und weil die Umbruchsthese die Dinge ein wenig zu sehr vereinfacht. Daher rate ich im Umgang mit dieser These zur Vorsicht.

Die Vereinfachung durch die Umbruchsthese betrifft zunächst eine Reihe von Kontinuitäten, über die man hinwegsehen muss, denn am Institut wurde ja auch nach 1940 empirisch gearbeitet, und Horkheimer und Adorno waren weiterhin an dieser Arbeit beteiligt. Beispielsweise erscheint die zweite große Publikation empirischer Ergebnisse, nämlich The Authoritarian Personality (Adorno et al. 1950), erst zehn Jahre nach dem behaupteten Umbruch. Die empirische Forschung dafür und die konzeptuellen Arbeiten daran fanden größtenteils in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre statt. Von einer Abkehr von empirischer Sozialforschung lässt sich also nicht sprechen. Zudem sollte man die Heterogenität des Zirkels nicht unterschätzen, den wir erst seit den 1960er Jahren als „Frankfurter Schule“ bezeichnen. Neben den Philosophen Horkheimer und Adorno, gehörten dazu auch der Soziologe Leo Löwenthal sowie die Juristen Otto Kirchheimer und Franz L. Neumann an – um nur Wenige zu nennen. Einen Umbruch für „die“ kritische Theorie zu behaupten, die alle diese Arbeiten umfasst, finde ich schwierig.

Das zweite, weniger ideengeschichtliche als vielmehr philosophische Bedenken ist, dass die Umbruchsthese häufig mit einer Verfallsdiagnose einhergeht, die dem ambitionierten Projekt eines interdisziplinären Materialismus sein Scheitern vorrechnet, das während der kurzen Phase der „kritischen Theorie“ (1937–1940) allmählich realisiert worden sei. Der Wechsel zur „Kritik der instrumentellen Vernunft“ mitsamt ihrer negativen Geschichtsphilosophie erscheint dann als die Konsequenz aus dem Eingeständnis, dass das ursprüngliche Programm fehlgeschlagen sei. Seyla Benhabib oder Jürgen Habermas verknüpfen das mit der weitreichenden These, dass die erste Generation der kritischen Theorie daran gescheitert sei, die normativen Grundlagen ihrer Gesellschaftskritik zu benennen und daher Zuflucht zu einer totalisierenden Vernunftkritik gesucht hätten. Dagegen sprechen einerseits viele inhaltliche Kontinuitäten beispielsweise zwischen dem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ oder dem Aufsatz „Autorität und Familie“ (1936) und Horkheimers späterem Buch The Eclipse of Reason (1947, deutsch: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft). Andererseits (und vor allem) bin ich skeptisch, dass die Kritik, die Adorno und Horkheimer vorschwebte, nach demselben Verfahren funktioniert oder auch nur funktionieren sollte, das Habermas, Benhabib und andere voraussetzen müssen, um ein Scheitern aufgrund fehlender normativer Maßstäbe zu diagnostizieren.

Damit aber verlassen wir aber endgültig die Ideengeschichte und sind bei der philosophischen Debatte über den Begriff der Kritik und ihre verschiedenen Formen angelangt. Ohne diese hier führen zu können, ist mein Versuch, den argumentativen Gehalt von Horkheimers Essay in den Vordergrund zu stellen, auch der Hoffnung geschuldet, neue Lesarten des Aufsatzes für diese Diskussion anzuregen.

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Sie gehen ausführlich auf die „Kritik der kritischen Theorie“ ein, weisen aber auch auf „Unabgegoltenes“ hin. Was war der schwerwiegendste Kritikpunkt am Horkheimer-Aufsatz und was sollte auch heute noch bedacht werden? 

Horkheimers Aufsatz ist ein programmatischer Text und bleibt als solcher an vielen Stellen vage. Das dürfte einer der am häufigsten geäußerten Kritikpunkte sein, wenngleich sicherlich nicht der schwerwiegendste.

Ich würde bei der Bewertung der Einwände gegen Horkheimer unterscheiden, aus welcher Richtung sie kommen: Einerseits gibt es diejenigen, die Horkheimers Anliegen einer kritischen Theorie rundweg ablehnen, weil sie beispielsweise eine „reine“ Philosophie bewahren wollen, die streng von empirischer Sozialforschung getrennt ist und sich allein auf vermeintlich von der Empirie unberührte Begriffe richtet, auf Seinsstrukturen, Voraussetzungen, die vermeintlich vor jeder Erfahrung liegen, usw.

Andererseits gibt es eine Reihe von Einwänden gegen Horkheimers Argumente, die gleichwohl an der Idee einer kritischen Theorie festhalten. Diese versuchen eher, Horkheimers Programm zu korrigieren oder neu auszurichten. Dazu gehört z.B. die Kritik an einigen seiner eher orthodoxen Übernahmen aus dem Marxismus, an seiner Neigung, die Gesellschaft als eine Art Großsubjekt zu betrachten, oder auch an seinem Schweigen, wenn es darum geht, das „emanzipatorische Interesse“ genauer zu erläutern.

Mich selbst interessiert Horkheimers Text als Beitrag zur „politischen Epistemologie“ – einem Ansatz, der die Möglichkeit von Erkenntnis nicht unabhängig von den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen begreift. Die politische Epistemologie geht davon aus, dass Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie notwendig verschränkt sind, da weder die eine noch die andere unabhängig erfolgreich sein kann. Horkheimers Kritik der „traditionellen Theorie“ im ersten Drittel seines Aufsatzes liefert für die Notwendigkeit dieser Verschränkung immer noch gute Gründe, weil er eindrücklich darauf hinweist, wie sehr sich Wissenschaften missverstehen, wenn sie glauben, dass ihre Praktiken und Resultate von den gesellschaftlichen Strukturen – ökonomische, politische, kulturelle etc. – unabhängig sind

Unabgegolten habe ich diese Kritik genannt, weil sie einerseits dringend der Präzisierung und Modernisierung im Lichte der neueren Debattenbeiträgen aus der feministischen Erkenntnistheorie, der soziologischen Wissenschaftsforschung oder der Wissenschaftsgeschichte bedarf und weil ihr andererseits eine konstruktive Fortführung fehlt. Denn was bedeutet es, eine andere Form von Theorie als die „traditionelle“ zu finden? Und wie vermeidet man es, in der Kritik traditioneller Theorieansätze unversehens in einen unkontrollierten Relativismus zu rutschen, indem man Wissen mit Macht gleichsetzt? Das bleibt bei Horkheimer offen. Zwar liefert er Anregungen – aber es ist an uns, sie aufzunehmen und im Dialog etwa mit den genannten Denkströmungen weiterzuentwickeln.

Angesichts der gegenwärtigen Debatten über Wissenschaften und Wissenschaftsfeindlichkeit in der Politik, besteht die Gefahr, in der Verteidigung der Wissenschaften gesellschaftliche Tatsachen als unveränderbare Fakten darzustellen. Das würde Horkheimer als „Positivismus“ kritisieren. Einen kritischen Ansatz zu entwickeln, der weder in Positivismus noch in Relativismus verfällt, scheint mir eine drängende Aufgabe zu sein.

Frieder Vogelmann
Frieder Vogelmann ist Vertretungsprofessor für Soziologie mit Schwerpunkt Soziologische Theorie und Theoriegeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. Er forscht derzeit insbesondere zur Beziehung von Wahrheit, Wissenschaften und Politik. Siehe auch: www.frieder-vogelmann.net
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