Ökonomie der Diskriminierung | Steffen Haag und Elena Goschin

Konterfei von George Floyd auf einem PappschildFoto: Obi Onyeador | Unsplash

 

Ökonomie der Diskriminierung

Text: Steffen Haag und Elena Goschin | Netzwerk Plurale Ökonomik

Ihre Erklärungs- und Deutungslogik hat die Ökonomik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbstbewusst auf nahezu alle gesellschaftlichen Phänomene ausgedehnt. Auch auf Diskriminierung und Rassismus. Leider dreht sich auch bei diesem Thema die Mainstream-Ökonomik um sich selbst.   

Obwohl weltweit rechte Gewalt seit Jahren wieder zunimmt, hat erst die Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd einen verstärkten Debattenanstoß in der VWL darüber ausgelöst, wie Rassismus innerhalb der Disziplin verhandelt wird. Bei George Floyd handelte es sich genauso wenig wie bei Oury Jalloh um einen „Einzelfall“, dennoch scheint es hier einen Moment der Erkenntnis gegeben zu haben, dass Rassismus strukturell in unsere Gesellschaften eingeschrieben ist. Eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit Rassismus, der sich auf institutioneller, internalisierter, interpersoneller Ebene, sowie im Alltag zeigt und Machtverhältnisse widerspiegelt, erfordert eine grundsätzliche und kontinuierliche Hinterfragung unseres Zusammenlebens. Darunter fällt auch die Reflektion der Produktion und Vermittlung von Wissen und Wissenschaft, deren Theorien und Modelle, trotz vermeintlicher „Objektivität“, nicht frei von Blickkonventionen sind. Ein kritischer Blick auf gängige Ansätze, wie die VWL Rassismus bisher verhandelt hat, spiegelt die Positionierung ihrer Vertreter*innen als überwiegend weiß und männlich wider. Ist die VWL fähig, diese Blickposition zu hinterfragen?

Geschmacklose Argumentation

Grundsätzlich läuft unter den Theorien des ökonomischen Mainstreams zumeist das Grundrauschen des Neoliberalismus, also die Erzählung, dass der freie Markt möglichst ohne staatliche Eingriffe die beste Möglichkeit sei, die Wirtschaft und somit das menschliche Zusammenleben allgemein zu regeln. Folgt man der Argumentation Milton Friedmans, einer der Gründer der neoliberalen „Chicagoer Schule“ der Ökonomie, steht es jedem frei rassistisch zu sein, frei nach eigener Präferenz und „Geschmack“. Kein Recht, kein Staat solle hier eingreifen, nein, denn der Markt könnte dies von ganz allein beheben. Wenn man einen rassistischen „Geschmack“ hätte, würde man potenzielle Kund*innen und Arbeitnehmer*innen ausschließen und dies wäre schlicht und ergreifend ökonomisch irrational. Die Neoklassik, die sich mathematischer Methoden der Physik des 19. Jahrhunderts bedient, um möglichst naturwissenschaftlich zu wirken, stellt nach Friedrich August von Hayek, ebenfalls eine der Gründerfiguren des Neoliberalismus, ein Mittel zum Zweck der Verteidigung der freien Marktwirtschaft dar. Der Markt sei am besten dazu fähig, alle gesellschaftlichen Informationen zu verarbeiten und das bestmögliche Ergebnis für alle zu liefern. Stichwort: Objektivität und Neutralität.

1958 entwickelt Gary Becker in seinem Buch The Economics of Discrimination aus Friedmans Geschmacks-Argumentation eine Theorie. Der taste-based discrimination zufolge tritt Diskriminierung auf, wenn der*die Agent*in persönliche Vorurteile oder den „Geschmack“ gegen die Interaktion mit einem Mitglied einer anderen Gruppe hätte, dafür müsste jedoch auch wie bei Friedman ein wirtschaftlicher Preis gezahlt werden. Eine Erklärung, warum Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen stattfindet oder gar eine Verurteilung dieses Verhaltens findet hier nicht statt. Damit wird diskriminierendes Verhalten relativiert und auf eine bloße Präferenz reduziert, die eben nun mal so sei. Auch heute noch findet diese Theorie Anwendung, um Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu untersuchen.

Rationalisierung von Diskriminierung

Eine andere, immer noch gängige Theorie, welche die Neoklassik heranzieht, um Diskriminierung zu erklären, ist die statistische Diskriminierung, die Kenneth Arrow (1973) und Edmund Phelps (1972) zugeschrieben wird. Dieser Ansatz rationalisiert diskriminierendes Verhalten auf individueller Ebene. Es wird angenommen, dass Arbeitgeber*innen nur über unvollständige Informationen verfügen, anhand derer sie die künftige Produktivität aller potenziellen Mitarbeiter*innen bewerten müssten. Daher würden sie sich auf Statistiken und Stereotype stützen, um eine Einschätzung vorzunehmen. Phelps Theorie erklärt dies durch exogene, natürliche Unterschiede, die angeboren sind und Arrows durch endogene, sozial konstruierte Merkmale, die Menschen innerhalb der Gesellschaft zugeschrieben werden. Da ihre Beobachtung jedoch Macht- und Gesellschaftsdynamiken von Diskriminierung außer Acht lassen, sind Arrow und Phelps nicht dazu fähig Rassismus strukturell zu erfassen, sondern verharmlosen stattdessen diskriminierendes Verhalten, indem sie es als rational kennzeichnen.

Die Darstellung von Diskriminierung wird in beiden Theorien nur im Sinne von Produktivitätsverlusten und innerhalb einer Effizienzlogik als nicht wünschenswert betrachtet. Evidente empirische Ergebnisse fungieren hierbei als Schutzwall vor einer tiefergehenden Hinterfragung ihrer eigenen Herangehensweise. Dass die Marktfixierung des neoklassischen Blickes jedoch nicht fähig ist, wirkliche Gleichwertigkeit von Menschen zu erfassen oder gar zu verstehen, klingt zum Beispiel in den neoliberalen Stimmen über das Apartheidsregime in Südafrika an, die zwar einem farbenblinden Markt zustimmten, jedoch ein unterschiedliches Wahlrecht für weiße und Schwarze forderten, um die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten, wie der Historiker Quinn Slobodian in seinem Buch Globalisten aufzeigt.

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Stratification Economics

Auf der Suche nach weiteren Theorien zu rassistischer Diskriminierung innerhalb der VWL kommt man zwangsläufig auf die „Stratification Economics“ (in etwa Ökonomie der Schichtungen) zu sprechen. Diese verortet sich noch innerhalb des Spektrums der VWL, unterscheidet sich aber insofern vom neoklassischen Paradigma, als dass sie grundlegend andere Annahmen trifft. Insofern erlaubt die Theorie im Vergleich zu den oben genannten Theorien einen umfassenderen Blick auf Rassismus.

Zurückgehend auf William A. Darity (2005) geht die Stratification Economics von struktureller Ungleichheit und sozialen Schichtungen in der Gesellschaft aus, die sich auf Grund von unterschiedlichen Diskriminierungen (sei es Geschlecht, race, Religion etc.) bilden. Rassismus erscheint hier also nicht als eine individuelle Entscheidung, sondern als strukturelle Eigenschaft von ganzen Gesellschaften. Anders als der ökonomische Mainstream, versteht sie die Gesellschaft nicht als freie Spielwiese, zu deren Ressourcen alle Menschen gleichwertigen Zugang haben, sondern als ein Feld, das durchzogen ist von Hierarchien, Zugangsbeschränkungen und Hürden entlang rassistischer Ausgrenzung. Eine wichtige Rolle nimmt dabei die Gruppenidentität ein, die man sich vereinfacht als Kombination aus Fremdzuschreibungen aber auch eigener Entscheidungen vorstellen kann.

Anmerkung zum Begriff „race“
Bedeutung und Verwendung des englischsprachigen Begriffs „race“ weichen stark vom deutschsprachigen Begriff „Rasse“ ab, der ein rein biologisches Konzept beschreibt und keine politischen und sozialen Aspekte umfasst, wie das beim englischsprachigen Begriff der Fall ist. Daher wurde der englischsprachige Begriff beibehalten.

Stratification Economics ist eine deutliche Erweiterung des theoretischen und methodischen Analysearsenals der VWL, insoweit Rassismus viel breiter und umfänglicher verstanden wird. Allerdings bietet der Ansatz keine historische Analyse und bleibt einer Antwort über den historischen Ursprung von Rassismus schuldig. Sie schweigt über die globale Dimension des Rassismus, die Geschichte von kolonialer Gewalt und von Ausbeutungsmustern, die sich bis heute fortsetzen.

Geschichte des Rassismus

Dieser blinde Fleck der VWL in Bezug auf die koloniale Geschichte überrascht insofern nicht, wenn man bedenkt, dass die Urväter der modernen Ökonomik selbst in der Hochphase des Imperialismus und Kolonialismus gewirkt, hierzu aber selbst geschwiegen haben oder gar darin verwickelt waren. Die Begründer der Klassischen Ökonomik David Ricardo und Adam Smith gelten bis heute als die Vordenker einer liberalen Weltwirtschaft und als Befürworter von Freihandel. Die Realität, von der sie abstrahierten war eine radikal andere: die Hochphase des Sklavenhandels, koloniale Kriege und die Unterwerfung ganzer Bevölkerungen.

Die gängige gegenwärtige Forschung in der VWL reduziert rassistische Diskriminierung auf ein individuelles Problem, als „persönlichen Geschmack“ oder als ökonomisch verständliches Vorurteil und begreift daher Rassismus in seiner strukturellen Form nicht. Rassismus hierarchisiert zwischen Menschengruppen, funktioniert als Herrschaftsverhältnis und wirkt durch strukturelle Ausgrenzung. Über dessen lange Geschichte in der kolonialen Vergangenheit Europas, verliert die moderne VWL kein Wort. Viel lieber vertieft sie sich in einer mathematisierten Modellwelt und abstrakten formalisierten Gleichungen. Allein dieser verengte Blickwinkel zeigt, was die VWL (nicht) zu Rassismus zu sagen hat: die VWL hat kein Interesse Rassismus in seiner historisch-strukturellen Form zu verstehen.

Steffen Haag
Steffen Haag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen-Geislingen (HfWU) und Doktorand an der Universität Hamburg. Er forscht zur Finanzierung erneuerbarer Energien in Westafrika und untersucht wie darin koloniale Abhängigkeitsverhältnisse bis heute fortwirken.
Elena Goschin
Elena Goschin studiert in Köln Volkswirtschaftslehre und Politik, arbeitet als studentische Hilfskraft am Wirtschaft- und Sozialgeographischen Institut und macht eine Yogaausbildung. Seit 2019 ist sie Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik. Darüber hinaus sind Ihre Interessenfelder Gender Studies, Postkoloniale Theorie, Social Justice und Intersektionalitätsforschung.
Jenseits von Angebot & Nachfrage – Die Kolumne des Netzwerks Plurale Ökonomik
In der Kolumne Jenseits von Angebot & Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen. Das Netzwerk ist ein Zusammenschluss von Studierenden an über 35 Hochschulen im deutschsprachigen Raum, das sich für mehr methodische und theoretische Vielfalt, einen größeren Anwendungsbezug und mehr didaktische Qualität in den Wirtschaftswissenschaften einsetzt. Dafür organisieren sie auf lokaler Ebene Ringvorlesungen, Lesekreise, Konferenzen und vieles mehr. Bundesweit bieten sie mit Exploring Economics, einer Sommerschule und mit dem pluralist economics certificate program pluralökonomische Weiterbildung an. Auf internationaler Ebene ist das Netzwerk Plurale Ökonomik Teil von Rethinking Economics.
Von den Autor*innen empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Quinn Slobodian: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020)
Eva von Redecker: Revolution für das Leben (S. Fischer, 2020)
Christina Sharpe: In the Wake (Duke University Press, 2016)
Natasha A. Kelly: Rassismus (Atrium Verlag, 2021)
ROMAN
Mithu Sanyal: Identity (Carl Hanser Verlag, 2021)
FILM
Concerning Violence von Göran Olsson (2014)

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