„Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“ – Dagmar Comtesse

„Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“

Interview mit Dagmar Comtesse

 

Lars Distelhorst schreibt in der aktuellen Ausgabe: „Was sich aktuell durchsetzt, ist eine postpolitische Demokratie, die das Politische durch eine Verwaltung des Status quo ersetzt.“ Frau Comtesse, ist die Demokratie nicht mehr zu wirklichen Entscheidungen und damit Veränderungen fähig?

Ja, es gibt zu wenig demokratische Entscheidungen; aber nein, es gibt keine Verwaltung des Status quo. Es bleibt ja nicht bei einem Status, sondern Entscheidungen werden die ganze Zeit getroffen: Sei es im Kleinen wie Aberkennung des gemeinnützigen Status von NGOs wie Attac oder Campact oder im Großen wie der Kohleausstieg. Veränderungen finden durch beide Entscheidungen statt: Wenn Gerichtshöfe Gemeinnützigkeit aberkennen, können NGOs weniger Macht entwickeln, es wird also eine Entwicklung verändert. Der Kohleausstieg wurde dagegen maßgeblich durch Mitglieder gewählter Parteien ausgehandelt und stellt historisch gesehen eine große Veränderung dar. Für das Maß der Demokratie ist hierbei zentral, von wem Entscheidungen getroffen werden. Dass Bürokratien (hier die Gerichtshöfe) „rational und legal“ (Max Weber) entscheiden, erfüllt die aus Aufklärung und bürgerlicher Revolution kommenden Kriterien von Vernunft und Herrschaft des Rechts. Dass eben diese moderne Bürokratien als Expertokratien nicht nur die Bevölkerung entmündigen, sondern auch noch bestimmten Interessen dienen, wie es kürzlich David Graeber wieder zeigte, macht sie zu einer tragenden Struktur der gouvernementalen Herrschaftslogik. Etwas besser steht es um die Kohlekommission, die zumindest einige gewählte Bundestagsabgeordnete aufweist. Dass hier jedoch insgesamt wenig Partizipation der Bevölkerung ermöglicht wird, die Aushandlung nicht-öffentlich stattfindet und die Interessen der Industrie durch deren Hauptvertreter garantiert werden, gibt dem an sich demokratischen Gremium wiederum einen gouvernementalen Charakter. Wie aber sieht es mit einem klaren Gegenmodell zu Bürokratie und verdeckten Regierungsgeschäften aus? Nehmen wir den Volksentscheid zum Brexit. Im Vorfeld der Brexit-Entscheidung warb der Befürworter Michael Glove mit Slogans wie „enough of experts“; die Gegenüberstellung von ‚herrschendem‘ (EU)-Expert*innen und beherrschtem Volk verfing. Der Volksentscheid über eine historische Alternative hat fraglos mehr britische Bürger*innen politisiert als jede Parlamentsdebatte es getan hätte. Die auch aus der Sicht der Befürworter ambivalenten Folgen des Brexit haben dem pauschalen Angriff auf Expert*innen den Wind aus den Segeln genommen und führen seit nun mehr 3 Jahren zu einer differenzierten Debatte. Eine Kultur von Volksentscheiden, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, halte ich deswegen, trotz drohenden populistischen Interventionen, für wünschenswert.

 

Lässt sich eine politische Gleichheit überhaupt aufrecht erhalten, während sich in der Ökonomie zunehmende Ungleichheiten manifestieren?

Dagmar Comtesse
Dagmar Comtesse ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster „Normative Ordungen“ der Goethe-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Philosophie und der Philosophie der französischen Aufklärung. Zuletzt von ihr erschienen ist das „Handbuch Radikale Demokratietheorie“ (Suhrkamp Verlag), das sie zusammen mit Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Nonhoff herausgegeben hat.

Politische Gleichheit, d.h. Rechtsgleichheit und weitest gehende Teilhaberechte, ist  – einerseits – getrennt vom sozio-ökonomischen Status von eigenem Wert. Das kann man gut an der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Artikels 3 GG, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, beobachten. Unabhängig vom sozio-ökonomischen Status sind aufgrund der Durchsetzung dieses Artikels (dank Elisabeth Selbert) eine ganze Reihe von Rechtssätzen purer Männerherrschaft (Dienstverpflichtung der Frau zur Arbeit im Haus und im Geschäft des Mannes; Kündigungsrecht des Mannes von Verträgen, welche die Frau schließt etc.) aufgehoben worden und somit nach und nach aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden. Andererseits ist die Abhängigkeit politischer Teilhabe vom sozio-ökonomischen Status  in der empirischen Sozialforschung unbestritten. Die Gründe sind jedoch unklar und keineswegs einfach am Nettoeinkommen festzumachen. Vielmehr kann man die vielfach festgestellte Korrelation von sozialer und politischer Teilhabe sozialphilosophisch damit erklären, dass Menschen gute Erfahrung von Resonanz und Selbstwirksamkeit machen, wenn sie sich in Vereinen oder Gruppen treffen. Soziale Aktivitäten unterstützen politische Partizipation, weil sie motivierend wirken. Wenn ökonomische Not soziale Aktivität be- oder verhindert –  etwa weil die Scham Langzeitarbeitslose zu Hause hält, die Kinderbetreuung kein Weggehen zulässt, die Exklusion von Arbeit und Konsum Apathie generiert – dann unterminiert die ökonomische Ungleichheit die politische Gleichheit. Das geschieht auf ganz andere Weise ebenfalls unter den Reichen und Mächtigen der Gesellschaft: Immer wenn sich wieder eine demokratisch gewählte Entscheidungsträgerin mit nicht gewählten Vertreter*innen aus Wirtschaft und Gesellschaft zu informellen Gesprächen trifft, wird politische Gleichheit begraben. Und da sich aus diesen informellen Treffen auf undurchsichtige Weise Einflussnahmen auf die Gesetzesvorhaben ergeben, wird gleichzeitig das Vertrauen in die demokratischen Institutionen geschwächt. So wirkt sozio-ökonomische Ungleichheit ganz oben und ganz unten gleichzeitig anti-demokratisch.

 

Jacques Rancière schreibt, dass das Grundprinzip der Demokratie nicht die Repräsentation oder die Wahl sein sollte, sondern die Auslosung, die allein die Aneignung der Macht durch eine spezialisierte Klasse verhindert. Wie stehen Sie dazu?

Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält. Somit ist das Losverfahren die institutionalisierte Kränkung jedes elitären Denkens und Fühlens. Das Vertreten dieser Position bereitet Rancière sicherlich besondere Freude, da die Französische Republik den „élitisme“ höchst affirmativ in sich trägt. Das System der „Grandes Écoles“, das Rancière ja durchlaufen hat, beruht auf dem Modell des „élitisme“ und wirkt im wörtlichen Sinn staatstragend, da das Führungspersonal der Französischen Republik fast vollständig aus Absolvent*innen dieser Schulen gebildet wird. Das Losverfahren ist das einzige Verfahren, das politische Gleichheit vollständig ernst nimmt. Meiner Nachbarin die gleiche Gesetzgebungskompetenz zuzutrauen wie mir selbst und mir genauso wie dem Bundesjustizminister– das setzt voraus, dass man einerseits Bildung sehr kritisch sieht und andererseits menschlichem Verstand viel zutraut. Wenn man intuitiv Bildung mit besserer Herrschaft gleichsetzt, so sollte man nicht vergessen, dass es Wissenschaftler wie Joseph Mengele und Otmar Freiherr von Verschuer waren, welche die monströsesten Experimente der Medizingeschichte durchgeführt haben und aktiv die mörderische Rasse-Politik der Nationalsozialisten unterstützten bzw. umsetzten. Bildung ist also gewiss kein Garant für gute Politik. Warum also kein Losverfahren für die höchsten politischen Ämter? Oder geloste Gremien, wie es Hubertus Buchstein vorschlägt? Das würde ich nur zum Teil befürworten. Der Vorteil von politischer Repräsentation ist das Entstehen von Meinungs-Stellvertretern. Die Wahl einer Partei oder von Repräsentanten, die für etwas oder gegen etwas stehen, stärkt bzw. schwächt Sichtweisen, Deutungshoheiten und dadurch auch Entscheidungswahrscheinlichkeiten. Das kann ein Losverfahren nicht. Somit wäre ein Mischung von gelosten und gewählten Vertreter*innen in Gremien oder ein geloster Bundespräsident wünschenswert. Es würde die radikalste Form politischer Gleichheit realisieren und die diskursbildenden Mechanismen der Repräsentation (wer vertritt was und was gibt es, was vertreten wird)  bewahren.

 

Wie könnte sich die Gemeinschaft heute anders organisieren, um der Instabilität der Gesellschaft (Shitstorms, Postfaktizität, Misstrauen) etwas entgegen zu setzen?

Ob der Angriff auf die Demokratien durch  rechtspopulistische Interventionen mittel- und langfristig destabilisierend wirkt, ist bisher noch unklar. Fake News haben zu einem höheren Misstrauen gegenüber Medien geführt, was demokratisch durchaus sinnvoll sein kann. Die bewusste Unterstützung von investigativem Journalismus zeigt sich in den zunehmenden Abonnements der New York Times und der Spendenbereitschaft gegenüber The Guardian, der 2019 zum ersten Mal wieder einen Gewinn verzeichnet. Die österreichische Reaktion auf das Strache-Video ist auch eher als Indikator für eine funktionierende Demokratie zu werten. Es gibt also positive Reaktionen, die auf eine vermehrte Politisierung hinweisen. Dennoch ist der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die erodierende Wirkung durch die gouvernementale Herrschaft von Experten und Bürokratien, welche die Entwicklung der sozio-ökonomischen Ungleichheit vorantreibt. Die demokratischen Gesellschaften oder noch konkreter, die Demokratien der Europäischen Union könnten sich zu mehr Demokratie entscheiden, indem hohe politische Ämter über direkte Wahl vergeben werden, Expertenkommissionen nur noch beratende und nicht mehr entscheidende Funktionen übernehmen, mehr Referenden durchgeführt werden, das europäische Parlament als höchste politische Instanz institutionalisiert wird, kommunale Selbstregierungskonzepte ausprobiert werden, eine gemeinsame, eine europäische Sozialversicherung eingeführt wird und vieles mehr, was Teilhabe erhöht und sozio-ökonomische Ungleichheit reduziert.

Dieses Interview führten wir anlässlich der aktuellen Ausgabe DEMOKRATIE UND WIRTSCHAFT. Mehr zu diesem Thema finden Sie hier: