Wir brauchen eine neue Kultur der Mäßigung – Interview mit Thomas Vogel

„Wir brauchen eine neue Kultur der Mäßigung“

Interview mit Thomas Vogel

Herr Vogel, in Ihrem neuen Buch mit dem Titel Mäßigung beschreiben Sie, wie Glück und Zufriedenheit mit der Fähigkeit zusammenhängen, sich zu beschränken. Ist die Mäßigung der entscheidende Schritt zur Befreiung von alltäglichen Zwängen und „alternativlosen“ Wirtschaftsweisen?

Thomas Vogel
Thomas Vogel ist Professor für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Schul- und Berufspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Foto: Daniel George

Die über 2000 Jahre alte Philosophiegeschichte von Mäßigung verweist auf einen engen Zusammenhang zwischen der Bestimmung eines rechten Maßes und einem harmonischen, glücklichen und autonomen Leben. Die alltäglichen Zwänge, denen wir unterworfen sind, sind das Ergebnis der Ausbreitung eines neoliberalen Wirtschaftssystems. Die Menschen werden hierbei von einer „anonymen“ Macht beherrscht, die permanent ihre Bedürfnisse manipuliert, sie zum Streben nach dem „Immer-mehr“antreibt  und weite Teile ihres Lebens steuert. Die „invisible hand“, wie sie Adam Smith bezeichnete, führt aber nicht zum Wohlstand der Nationen, wie von ihm prophezeit. Vielmehr verfehlt dieses Wirtschaftssystem mittlerweile fundamentale Zielsetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens: Es überfordert die Menschen, lässt sie im Zustand permanenter Unzufriedenheit zurück und zerstört gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen. Obwohl es uns materiell so gut wie nie zuvor geht, leiden immer mehr Menschen unter Stress und Depressionen.  Mäßigung in Form von Suche und Bestimmung eines rechten Maßes ist deshalb ein wichtiger Schritt zur Befreiung der Gesellschaft und Individuen  von der Dominanz ökonomischen Denkens und dem Streben nach Immer-mehr hin zu mehr Selbstbestimmung.

Frei nach Kant ist es unsere größte Freiheit, uns selbst Gesetze zu geben – gemeinhin verbindet man aber das Fehlen von Vorschriften mit Freiheit. Brauchen wir in Zukunft mehr oder weniger staatliche Reglementierungen?
Es ist nicht nur die größte Freiheit des Menschen, sich selbst Gesetze zu geben, sondern zugleich auch seine größte Verpflichtung. Kant hatte nämlich auch die Forderung aufgestellt, die Menschen mögen nur nach derjenigen Maxime handeln,  durch die sie zugleich wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Der Mensch, der sich nicht durch eigene Gesetze Grenzen setzt, sondern sich von Affekten treiben lässt, ist nicht frei, sondern wird zum Opfer äußerer Strukturen und Manipulationen. Schon Aristoteles rückte deshalb die Maßlosigkeit des Menschen in die Nähe des Tierischen und stufte sie als besonders negativ ein. Es ist ein fataler Irrtum, das Fehlen von Gesetzen, Maßstäben und Vorschriften mit Freiheit gleichzusetzen.
Der Neoliberalismus, wie er sich in den letzten Jahrzehnten global ausbreitet, verfolgt eine Befreiung von staatlicher Reglementierung und eine Gestaltung des öffentlichen Lebens nach den Regeln einer ökonomischen Dogmatik (z.B. im Gesundheitswesen, im öffentlichen Nahverkehr, in der Bildung usw.). Die quasireligiöse neoliberale Denkweise hat sich mittlerweile wirkmächtig wie ein feinmaschiges Netz über sämtliche gesellschaftliche Strukturen und politische Entscheidungen bis hinein in zwischenmenschliche Beziehungen und individuelle Denkmuster ausgebreitet. Diese Entwicklung hat zu einer wachsenden Konkurrenz und Entsolidarisierung der Weltgemeinschaft geführt, die angesichts zunehmender globaler (ökologischer) Krisen und Katastrophen kontraproduktiv wirkt. Wir brauchen deshalb eine neue „Kultur der Mäßigung“, in der ein öffentlicher Diskurs über das rechte Maß im Verhältnis von Kultur und Natur geführt wird sowie eine Politik, die – von der vorherrschenden ökonomischen Ideologie befreit – sich verstärkt dem Gemeinwohl sowie dem Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet fühlt.

Um elementare Veränderungen in unserer Zeit herbeiführen zu können, müssten wir von vielem befreit werden: Dem Verpackungswahnsinn, dem Transportwahnsinn, dem Arbeitswahnsinn, dem Produktionswahnsinn, etc. 
Ist eine solche Befreiung ohne radikale Eruptionen möglich?
Die fehlende Einsicht in die Zusammenhänge unseres Tuns ist ein kollektiver Wahnsinn, von dem wir uns befreien müssen. Bislang hat sich das kapitalistische Wirtschaftssystem, das diesen Wahn produziert, als ausgesprochen widerstandsfähig erwiesen gegenüber allen Bestrebungen seiner Überwindung. Realistische Alternativen zum Kapitalismus sind gegenwärtig kaum in Sicht.
In der griechischen Stoa spielte das Verhältnis von Wahn und Mäßigung eine bedeutende Rolle. Die Stoiker bezeichneten jeden Toren als wahnsinnig, da er über sich selbst und seine Umstände in Unwissenheit sei. Der stoische Philosoph Seneca formulierte, dass wer nach Wahnvorstellungen lebe niemals reich sein werde; denn die Natur, so seine Überzeugung, fordere nur wenig, der Wahn aber Unermessliches. Als heutige Wahnvorstellung könnte man das durch das ökonomische System determinierte naturwissenschaftliche Erkenntnismonopol bezeichnen, welches in Industriegesellschaften letztlich über die Frage entscheidet, was Natur ist. Diese Wahnvorstellung hatte sich in der Zeit der Aufklärung im Prozess der Formalisierung der Vernunft entwickelt. Der Mensch hat sich in der Epoche der Aufklärung sozusagen als gottgleiches Subjekt der Erdgeschichte eingesetzt und sich selbst zum  Maß aller Dinge erklärt. Ihm ging die Anerkennung jeglicher ethischer Maßstäbe verloren, die nicht seinem grenzenlosen Trieb nach Selbstbehauptung und Selbsterhöhung dienten. Allerdings wird ihm diese Überheblichkeit zunehmend zur Selbstgefährdung. Die Frage, ob der Mensch diese Prozesse antizipieren und durch rechtzeitige Mäßigung den Gefahren vorbeugen kann oder ob letztlich eine radikale Eruption ihn zur Umkehr zwingen wird, ist offen.


 

Warum gelingt es unserer Industriekultur nicht, sich zu mäßigen – obwohl es dringend nötig wäre? Das neue Buch von Thomas Vogel Mäßigung – Was wir von einer alten Tugend lernen können ist im August 2018 im Oekom-Verlag erschienen.

 


Im Alltag hat die Befreiung bereits ihren Platz: das Wochenende befreit von den Werktagen, der Urlaub von der Arbeitswelt und die Fußball-WM vom politischen Tagesgeschehen. Befreiung ist für die meisten nur eine Befreiung von etwas – und verweilt damit in der Negation. Ist Ihrer Meinung nach darüber hinaus Freiheit möglich?
In entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen brauchen die Menschen permanente Kompensation. Sie suchen nach Ablenkung und Zerstreuung bei Fußball-Ereignissen, im Urlaub u.a. Freiheit im Sinne einer Souveränität über Zeit und Raum besitzen in unserer Kultur nur wenige Privilegierte. Der große Rest hat es schwer, sich aus dem Netzwerk der entfremdeten Verhältnisse zu befreien und wird für sein Leid durch Konsum, Festivitäten etc. entschädigt. Aber unter dem permanenten Triebverzicht, der den Menschen abverlangt wird, tendiert die Kultur zur Selbstzerstörung. Der Irrtum unserer Zeit besteht darin, dass wir unbegrenzte Freiheit und ein glückliches Leben unreflektiert gleichsetzen. Wir betrachten – auch durch den Einfluss neoliberalen Denkens – alle staatlichen Festlegungen als Beschränkung unserer Freiheit. Aber gerade politische Regelungen und Beschränkungen eröffnen Freiheitsräume und sind für ein gelingendes Zusammenlaben unverzichtbar.
Im Zentrum antiker Mäßigungsphilosophie – besonders bei den Epikureern – stand nicht die Beschränkung, die Beschneidung der Freiheit des Individuums und die Zügelung der Lust, sondern ganz im Gegenteil die Entwicklung und Förderung von Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die Freiheit des Menschen im Sinne seiner Unabhängigkeit von den unmittelbaren Verhältnissen sowie die Förderung der wahren Lust. Selbsterkenntnis sollte den Menschen ermöglichen, das rechte Maß in ihrem Leben zu finden und es selbst zu bestimmen, um letztlich und in Vollendung der Person die Herrschaft über sich selbst zu erlangen. Angesichts zunehmender individueller (z.B. Depressionen, Burn-out, Stress u.a.) und ökologischer Krisen (Klimawandel, Artensterben etc.) besteht die Hoffnung, dass die Menschen in der Philosophie der Mäßigung eine Alternative zu den falschen Fortschrittsversprechungen kapitalistischer Industriegesellschaft erkennen und sich über die Suche nach dem rechten Maß auf den Weg zur Selbstbefreiung machen.

Dieses Interview mit Thomas Vogel ist erstmals in der Jubiläumsausgabe der agora42 erschienen:

Was ist hier eigentlich los? Gibt es eine Krise, oder wo liegt das Problem? Wie kam es, dass am Ende nur noch das Ökonomische zählt? Warum zählen Zahlen mehr als Worte? Warum ändern wir uns nicht? Und was werden wir geändert haben, wenn es doch besser kommt, als befürchtet?

Die 42. Ausgabe sucht Antworten auf die Frage nach dem großen Ganzen – ohne dabei der Einfachheit allumfassender Antworten zu verfallen.