Der Mensch und die Demokratie

Papschild mit Aufschrift: "We Demand Democracy"Foto: Fred Moon | Unsplash

 

Der Mensch und die Demokratie

Text: Die Redaktion

Selbstläufer Demokratie? Die Demokratie steht unter Beschuss – das galt 2012, als wir uns in unserem gleichnamigen Heft diese Frage stellten, das gilt heute mehr denn je. Ausgangspunkt des redaktionellen Beitrags über den Menschen in der Demokratie war die Frage, welches Menschenbild einem demokratischen Gemeinwesen entspricht.

Was die Demokratie ist beziehungsweise wie sie sein sollte, darüber besteht fruchtbare Uneinigkeit. Eine Fülle von unbefriedigenden Definitionsversuchen steht gleichberechtigt nebeneinander, die jeweils ein bestimmtes Merkmal als besonders kennzeichnend hervorheben, ohne die anderen ganz abzulehnen. Solche konstitutiven Elemente der Demokratie sind laut Bernd Guggenberger (Wörterbuch Staat und Politik) Volksouveränität, Gleichheit, Partizipation, Mehrheitsherrschaft, Toleranz, Herrschaftslimitierung und -kontrolle, Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Mehrparteiensystem, allgemeine Wahlen, Öffentlichkeit, Meinungswettbewerb, Pluralismus und andere mehr.

Während der Begriff Demokratie (δῆμος: dēmos = „Volk“, und κρατία: kratía = „Herrschaft“; wörtlich: Herrschaft des Volkes) von der griechischen Antike an bis zur Französischen Revolution vor allem eine bestimmte Form der Herrschaftsorganisation bezeichnete – dass nämlich nicht nur einer (Monarchie, Tyrannis) oder einige (Aristokratie, Oligarchie, Plutokratie), sondern alle herrschen –, verband man mit ihm im Gefolge der Französischen Revolution auch einen politischen Auftrag, der in der Gettysburg-Formel von Abraham Lincoln aus dem Jahr 1863 verdichtet ist: Demokratie ist „government of the people, by the people, for the people“. Hier hat der Staat nun über eine bestimmte Organisationsform hinaus den Zweck, seine Macht im Interesse des Volks („for the people“) auszuüben. Dieses Interesse bestand anfangs in der Wahrung des inneren Friedens eines Nationalstaats, also beispielsweise in der Bändigung konfessioneller Bürgerkriege durch die Monopolisierung physischer Gewaltanwendung. Das war die Geburtsstunde des Verfassungsstaats im modernen Sinne. Aber erst nach der Garantie von Leben und Sicherheit entwickelte sich der Staat über die Billigung persönlicher Freiheitsrechte, die Gewährleistung politischer Mitbestimmungsrechte und Durchsetzung wohlfahrtsstaatlicher (Bürger-)Rechte – Liberté, Egalité, Fraternité – zu einem demokratischen Wohlfahrtsstaat, der sich in ständigem Wandel befindet. Die Demokratie bezeichnet heute eher eine Tendenz als einen Zustand. Sie verkörpert den Weg zum Ziele bürgerlicher Autonomie und Mitbestimmung – ausgehend von den bereits etablierten Bürgerrechten über Gleichstellungsforderungen bis hin zu Forderungen nach mehr direkten Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen oder einem bedingungslosen Grundeinkommen. Hier haben wir es mit einem strukturellen Merkmal der Demokratie zu tun: Offenheit, Unabgeschlossenheit, Vorläufigkeit, Flexibilität.

Die Frage danach, ob nun Demokratie die beste Herrschaftsform ist, verlangt nach einer Antwort, die über Winston Churchills berühmten Ausspruch „democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time“ hinausgeht. Sie verlangt nach einer Antwort, aus der hervorgeht, wie denn diese „beste Herrschaftsform“ konkret aussehen soll; nach einem Entwurf also, mit dem gegenwärtige Staatsformen verglichen und an dem sie ausgerichtet werden können. Ein solcher Entwurf einer idealen Staatsform wiederum muss sich an seiner Funktion orientieren, nämlich der Herrschaftsausübung zum Wohle seiner Mitglieder, welche ihm überhaupt erst Legitimität verleiht – und so kommt man bei seiner Konstruktion und Kritik nicht umhin, nach dem Wesen des Menschen (dem Menschenbild) und danach zu fragen, was ein gutes Leben sei.

Des Menschen Bild

Die Debatte um die richtige Gesellschaftsordnung und um die angemessene Ausgestaltung demokratischer Elemente beginnt und endet mit der Frage danach, was der Mensch sei – mithin einer universalen, philosophisch-kulturellen Fragestellung. Eine Antwort ist aus mehreren Gründen schwierig: Zum einen ist der Mensch nicht dem Menschen ein Wolf (Thomas Hobbes), sondern ein blinder Fleck – das heißt, Selbsterkenntnis ist mit Schwierigkeiten verbunden und die Abstraktion eines Menschenbildes ein gewagtes Unternehmen. Immanuel Kant (1724–1804) hatte erkannt, dass das zu Erkennende zwangsläufig von dem, der erkennt, abhängt. Wenn nun aber das zu Erkennende (der Mensch) und der Erkennende (der Mensch) identisch sind, wird abschließende Erkenntnis unmöglich.

Zum anderen trifft man im zähen Ringen um die Deutungshoheit der Menschen über den Menschen neben Problemen der Erkenntnis auch auf Formen der Bekenntnis. Tradition, Religion, politische Ausrichtung, ökonomischer und sozialer Status und vieles mehr beeinflussen das Menschenbild des Einzelnen und des Kollektivs. Mit der Verfechtung eines bestimmten Menschenbildes sind zudem immer auch Machtansprüche und Verhaltensvorschriften verbunden. Der Verweis auf ein bestimmtes Menschenbild (zum Beispiel: „Der Mensch ist zuallererst ein nutzenmaximierendes Wesen“ oder „Der Mensch ist zuvorderst ein kooperatives Wesen“) dient oftmals dazu, das Bestehende zu verteidigen beziehungsweise herauszufordern und den Menschen zu einem dem jeweiligen Bilde entsprechenden Verhalten zu bewegen.

Aber auch wenn man trotz der genannten Schwierigkeiten eine Definition wagt, scheitert man letztlich kläglich: Der Mensch lässt sich auf nichts festlegen, er ist nicht gut oder schlecht, nicht mündig oder unmündig, nicht egoistisch oder kooperativ, nicht rational oder triebgesteuert. Er ist all das und ist es gleichzeitig nicht, denn er erfindet sich andauernd neu. Bei ein und demselben Menschen kann man daher die ganze Palette von Motiven beobachten – Egoismus und Altruismus, Nutzenmaximierung und Kooperation, Materialismus und Spiritualität, Aufgeschlossenheit und Intoleranz. Der Mensch ist genau durch diese Verschiedenartigkeit charakterisiert (sowohl im Vergleich mit sich selbst, als auch im Vergleich mit anderen Menschen), durch die Vielfalt seiner Lebensentwürfe, durch seine Launen und die Widersprüchlichkeit seiner Werte und Ziele.

Angesichts der Vielzahl von kursierenden Menschenbildern scheint es deshalb angebracht, die Unmöglichkeit einer Definition (Begrenzung, Festlegung) des Menschen – also seine grundsätzliche Unberechenbarkeit, seine Wandlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten – selbst zum Ausgangspunkt beziehungsweise zur Basis eines Menschenbildes zu machen. Und was für das Wesen des Menschen gilt, muss auch für sein Wohl gelten. Was gut für den Menschen ist und daher als gutes Leben zu gelten hat, unterscheidet sich von Generation zu Generation, zwischen Individuen und Kulturen.

Gegen die undemokratische Einfalt

Die Form des Gemeinwesens, die dieser Offenheit, diesem Pluralismus der Ziele am ehesten gerecht wird, ist die Demokratie. Auch sie ist durch Offenheit charakterisiert, denn sie muss flexibel genug sein, um sich dem wandelnden Selbstverständnis von Individuum und Gemeinschaft anzupassen. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) erklärte die Demokratie aus diesem Grunde zur besten Staatsform: Sie sei, besser als andere Organisationsformen, dazu fähig, das eigene System zu erhalten. Sie verbinde die Fähigkeit, verbindliche Entscheidungen zu fällen, mit der Erhaltung von Komplexität, das heißt mit der strukturellen Offenheit für zukünftige Handlungsalternativen in einer sich verändernden Umwelt. Nach Luhmann gewinnt die Demokratie ihre Bedeutung allerdings nicht als Instrument zur Verwirklichung von Freiheit, Wohlstand und Gleichheit – also als Mittel zum Zweck bürgerlicher Selbstermächtigung –, sondern ausschließlich aufgrund ihrer Fähigkeit zum Systemerhalt. Damit ließe sich nun jedwede Organisationsform rechtfertigen, die die Selbsterhaltungschancen einer Gesellschaft maximiert. Und tatsächlich mehren sich die Stimmen, die etwa den chinesischen Weg als überlegen anpreisen; die westlichen Demokratien scheiterten an Ineffizienz, langen Entscheidungswegen oder etwa der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts. Demokratie ist in einer solchen Argumentation nicht mehr Zweck an sich, sondern wird über ihren Wert zur Erreichung anderer Ziele beurteilt, seien dies Wohlstand, nationaler Zusammenhalt oder das reibungslose Funktionieren einer globalen Finanzoligarchie. Ist die Demokratie jedoch erst einmal Nützlichkeitskriterien unterstellt, sind dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Anders verhält es sich, wenn wir die demokratische Regierungsform aufgrund ihrer Fähigkeiten präferieren. Aufgrund ihrer Fähigkeit nämlich, dem Menschen die Freiheit zu garantieren, sich eigenständig zu definieren und nach diesem Selbstbild zu leben – gerade und vor allem, wenn dieses Selbstverständnis nicht dem Mainstream und Idealbild einer Gesellschaft entspricht. Genau deshalb liegt die Güte der Demokratie – mit dem Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg gesprochen: ihre Seele – in ihrem Umgang mit Minderheiten. Hier zeigt sich, ob sich in einer Gesellschaft gut leben lässt und ob sie auch in Zukunft noch zusammenhalten wird. Daran muss sich ein Staatswesen messen lassen.

Bei aller Offenheit kommt eine demokratische Gesellschaft, die einem guten Leben für ihre Mitglieder verpflichtet ist, nicht umhin, eine Idee des guten Lebens zu entwerfen – ohne sich freilich Änderungen und Modifikationen dieser Idee zu verschließen. Bestimmte Dinge können nicht verhandelbar sein, andere müssen flexibel gehandhabt werden. Die Demokratie ist daher nicht erschöpfend als Markt der Möglichkeiten und Lebensentwürfe zu charakterisieren. Sie stellt zwar die Infrastruktur und sichert die Abläufe, jedoch darf sie sich diesem Markt nicht unterwerfen. Sie muss Stellung beziehen zu den Tendenzen und Entwicklungen, die der gesellschaftliche Markt hervorbringt. Sie muss wach bleiben für die Gefährdungen ihrer „Seele“, die aufgrund ihrer Offenheit immer auch aus ihr selbst erwachsen. Das deutsche Grundgesetz liefert dafür den geeigneten Rahmen, und wir täten gut daran, ab und an in ihm zu lesen.

Dieser Beitrag ist als philosophische Perspektive der Redaktion in der Ausgabe 5/2012 SELBSTLÄUFER DEMOKRATIE? erschienen.
Mehr dazu: