Ein Gedankenspiel von Kai Jannek | 23.04.2051

Drohnen

Illustrationen: DMBO – Studio für Gestaltung

Text: Kai Jannek

23.04.2051

Liebes Tagebuch,

vor nicht einmal einer halben Stunde poppten die Wahl- und Spendenaufrufe auf all meinen Displays auf. Die komplette in der Diaspora lebende Gemeinde war adressiert worden. Es ging um die sofortige Abwahl und Absetzung des Präsidenten in unserem Heimatland. Ich selbst beteiligte mich nicht, aber anscheinend haben sich genug Spender gefunden. Vor vielleicht zwei Minuten zeigten die Nachrichten die Live-Bilder seiner Demission. Er hatte gerade die Kapsel seiner gepanzerten Limousine geöffnet, um ein Restaurant zu betreten, als ein dunkler Schwarm, ich vermute Mikrodrohnen, mit hoher Geschwindigkeit in seine Augen flog. Die Bilder waren schrecklich und ich muss die Erinnerungen dringend überschreiben. Landik ist nicht der erste Regierungschef, der von autonomen Killerdrohnen niedergestreckt wurde. Finanziert via Crowdfunding in einer anonymen Kryptowährung. Ausgeführt von dezentralen autonomen Organisationen, die ihre Dienste auf 12Chan im Darknet anbieten. Dort gibt es einen sehr differenzierten Automated Assassination Market. Anhänger können natürlich auch für den Schutz der jeweiligen Zielperson spenden. Man könnte also fast von Demokratie sprechen. Im Fall von Landik, ich habe mir die Zahlen gerade angeschaut, war die Unterstützung allerdings gering.

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Demokratie radikal denken | von Aristotelis Agridopoulos

Welches Volk wird konstituiert?

Foto: William MacMahan / Unsplash

Demokratie radikal denken

Warum Demokratien demokratisiert werden müssen

Text: Aristotelis Agridopoulos

Wenn ein demokratisches Miteinander erhalten werden soll, müssen die Formen unseres Zusammenlebens grundsätzlich überdacht und neu geordnet werden. Demokratie hat kein Problem mit autoritären Führern, sie hat ein Problem mit sich selbst: Sie muss demokratischer werden.
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Die Zerbrechlichkeit der Demokratie | von Lars Distelhorst

Wie zerbrechlich ist die Demokratie?

Foto: Jakub Kapusnak / unsplash

Die Zerbrechlichkeit der Demokratie

oder: Demokratie und Kapitalismus

Text: Lars Distelhorst

Die politische Landschaft kippt nach rechts. Ob Trump in den USA, Erdogan in der Türkei, Duterte in den Philippinen, Bolsonaro in Brasilien oder Le Pen, Orban, Morawiecki, Beatrix von Storch, Alice Weidel und Björn Höcke in Europa. Hatte es eine Zeitlang so ausgesehen, als gehörten die geflügelten Worte „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ der Vergangenheit an, scheint Bertolt Brecht angesichts der aktuellen Verschiebungen des politischen Gefüges Recht zu behalten. Bei näherer Betrachtung des Phänomens muss es jedoch eher verwundern, dass wir vor dem Rechtsradikalismus so lange Ruhe hatten und das Pendel erst mit solcher Verspätung zurückschlägt.
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Demokratisch arbeiten? | von Philippe Merz

Demokratie auch während der Arbeitszeit?

Foto: Dylan Gillis / Unsplash

Demokratisch arbeiten? Der Arbeitsplatz als Ort der Demokratiebildung

Von Philippe Merz

Zu den vielen Widersprüchen unseres Alltags gehört auch dieser: Wir verstehen uns gerne als selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie, die ihre Lebensumstände selbst gestalten können, doch die meisten von uns verbringen den größten Teil ihrer wachen wöchentlichen Lebenszeit in Strukturen, die alles andere als selbstbestimmt sind – nämlich am Arbeitsplatz. Hier sind die Möglichkeiten der Selbstbestimmung sowohl im Kleinen, etwa bei einer marginalen Veränderung der Arbeitsabläufe, als auch im größeren Rahmen, etwa bei der strategischen Organisationsentwicklung, oft erstaunlich begrenzt.

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Eliten – was zu tun wäre. Vortrag von Frank Trümper

Wie muss die Elite heute aussehen?

Foto: Unsplash

Eliten – was zu tun wäre

Vortrag von Frank Trümper

Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Frage beginnen: Wer ist überhaupt gemeint, wenn wir von Elite sprechen? Ich würde drei Dimensionen unterscheiden, in denen wir über Eliten sprechen. Die erste Dimension betrifft so etwas wie die kulturelle, politische und intellektuelle Avantgarde. Darunter fallen für mich große politische Denker, Aktivisten, Wissenschaftler, Philosophen, einige große Journalisten (wir erinnern uns alle an Leute wie Augstein, Nannen oder Bucerius) – Menschen, die ihrer jeweiligen Zeit gedanklich voraus waren, die etwas bewegt haben und uns letztlich mit ihren Ideen und Initiativen dahin gebracht haben, wo wir heute sind. Das waren und sind Menschen, die der Stachel im Fleisch sind, die sich in die öffentliche Diskussion und in das öffentliche Leben einmischen.

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„Politische Repräsentation war noch nie unstrittig oder konfliktfrei“ – Interview mit Felix Trautmann

„Politische Repräsentation war noch nie unstrittig oder konfliktfrei“

Interview mit Felix Trautmann

Herr Trautmann, was ist das Imaginäre der Demokratie? Inwiefern hält es die demokratische Ordnung zusammen?

Politische Gemeinwesen ausgehend vom Imaginären zu verstehen, heißt zunächst einmal, die Kraft der Imagination, die Affekte und das Begehren in den Fokus zu rücken. Diese haben einen wesentlichen Anteil daran, ob und wie wir uns mit diesem Gemeinwesen identifizieren, uns in es investieren oder in ihm wiedererkennen. Jedoch sind sie auch allesamt Kräfte, die sich nicht vollends beherrschen lassen, weder durch uns selbst noch durch andere. Das heißt, dass wir affektiv, libidinös und eben im Imaginären an eine politische Ordnung gebunden sein können, die wir nicht gänzlich frei gewählt haben. Diese Wirkung lässt sich bereits für die monarchische Herrschaft beschreiben, in der die Untertanen dem König nicht nur gewaltsam unterworfen, sondern auch leidenschaftlich verhaftet sind. Doch das Imaginäre wirkt nicht nur in Fällen, in denen wir Gefangene unseres Begehrens, unserer Affekte oder Vorstellungen sind. Es steht zugleich für ein Moment der Freiheit. Die demokratische Revolution über das Imaginäre zu deuten, erlaubt es in diesem Sinne, sie als einen Prozess zu verstehen, durch den die alte Ordnung und ihre imaginären Bindungskräfte aufgebrochen und gleichzeitig neue Vorstellungen des politischen Gemeinwesens freigesetzt werden. Ich denke also, dass das Imaginäre in Bezug auf die Demokratie weniger im Sinne des Zusammenhalts zu verstehen ist, sondern dass es vielmehr diejenige Kraft beschreibt, die einen neuen Möglichkeitshorizont der Freiheit und der Gleichheit eröffnet. „Politische Repräsentation war noch nie unstrittig oder konfliktfrei“ – Interview mit Felix Trautmann weiterlesen

Germany first? Warum der Exportüberschuss den sozialen Zusammenhalt bedroht – Interview mit Herbert Storn

Germany first? Warum der Exportüberschuss den sozialen Zusammenhalt bedroht

Interview mit Herbert Storn

Unter den Schlagworten von Freiheit und Freihandel verfolgt die deutsche Politik vorgeblich die Interessen einer Weltgemeinschaft. Aber es sind die Spielregeln des Freihandels, die Deutschland zum Exportweltmeister küren und alle anderen Nationen in den Schatten stellen. Also doch ‚Germany first‘? Der deutsche Exportüberschuss belastet das Ausland und wird zunehmend kritisiert. Denn mit einer solchen Politik lebt Deutschland auf Kosten anderer Staaten und macht ihnen das Leben schwer. Warum die Strategie ‚Germany first!‘ die Agenda der deutschen Politik bestimmt, mit welcher Verklärung dies erfolgt und welch dramatische Folgen diese Politik auch im Inland hat – bis hin zur Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie – ist Gegenstand des neuen Buchs von Herbert Storn. Wir sprachen mit ihm über den Zustand der Demokratie in Deutschland.

 

Herr Storn, materieller Wohlstand und wirtschaftliche Stärke werden gemeinhin als Grundpfeiler der Demokratie angesehen. Ist es vor diesem Hintergrund nicht begrüßenswert, wenn Deutschland jedes Jahr für sich den Titel des Exportweltmeisters beansprucht?

Zum ersten Satz: Tatsächlich entspricht er vermutlich einer weit verbreiteten Ansicht, was daher rührt, dass politisches Handeln der Volksvertretung in einer Demokratie auf Zustimmung angewiesen ist. Und die ist natürlich leichter zu erlangen bei materiellem Wohlstand der Mehrheit. Andererseits sagen die Begriffe Wohlstand und Stärke nichts darüber aus, wie dieser Wohlstand verteilt ist und ob er zu Lasten anderer oder der Umwelt geht. Mit der wirtschaftlichen Stärke ist es ebenso.

Und beim „Exportweltmeister“ Deutschland geht es ja um den Exportüberschuss, was bedeutet, dass er zu Lasten anderer Länder gehen muss, denn unsere Überschüsse sind die Defizite der anderen, was man auch als „beggar-my-neighbour“ bezeichnet. Und wie das Beispiel Griechenland gezeigt hat, schlagen Defizite sehr schnell in den Ausverkauf der dortigen Wirtschaft um.

Aber die Unterordnung der deutschen Politik unter das Leitprinzip des „Germany first“ geht auch zu Lasten der inländischen Nachfrage und Bedürfnisse und hier insbesondere zur Vernachlässigung der Infrastruktur. Marode Schulbauten, unzureichende Ausstattung mit Lehrmitteln und Personal, Staat und Kommunen, die ihre Aufgaben nicht mehr zureichend erfüllen können, unzureichende soziale Einrichtungen usw. zeigen, dass eine Exportüberschussorientierung auch dazu führt, dass wir im Inland unter unseren Möglichkeiten leben.

Und schließlich bekommt bei der Frage „Alternative Ökologie“ oder „offensive Unterstützung der Exportunternehmen“ meist letzteres den Zuschlag.

Das sind nur angedeutete Beispiele. Tatsächlich hat die einseitige Fokussierung auf unsere Spitzenposition auf dem Weltmarkt noch gravierendere Auswirkungen bis hin zur Gefährdung rechtsstaatlicher Prinzipien (relativ bekannt sind hier die privaten Schiedsgerichte) und des demokratischen Konsenses. Die Forcierung des Konkurrenzprinzips erstickt die dringend notwendige Überwindung der sozialen Spaltung und die Stärkung des Solidarprinzips – sowohl international wie national.

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„Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“ – Dagmar Comtesse

„Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“

Interview mit Dagmar Comtesse

 

Lars Distelhorst schreibt in der aktuellen Ausgabe: „Was sich aktuell durchsetzt, ist eine postpolitische Demokratie, die das Politische durch eine Verwaltung des Status quo ersetzt.“ Frau Comtesse, ist die Demokratie nicht mehr zu wirklichen Entscheidungen und damit Veränderungen fähig?

Ja, es gibt zu wenig demokratische Entscheidungen; aber nein, es gibt keine Verwaltung des Status quo. Es bleibt ja nicht bei einem Status, sondern Entscheidungen werden die ganze Zeit getroffen: Sei es im Kleinen wie Aberkennung des gemeinnützigen Status von NGOs wie Attac oder Campact oder im Großen wie der Kohleausstieg. Veränderungen finden durch beide Entscheidungen statt: Wenn Gerichtshöfe Gemeinnützigkeit aberkennen, können NGOs weniger Macht entwickeln, es wird also eine Entwicklung verändert. Der Kohleausstieg wurde dagegen maßgeblich durch Mitglieder gewählter Parteien ausgehandelt und stellt historisch gesehen eine große Veränderung dar. Für das Maß der Demokratie ist hierbei zentral, von wem Entscheidungen getroffen werden. Dass Bürokratien (hier die Gerichtshöfe) „rational und legal“ (Max Weber) entscheiden, erfüllt die aus Aufklärung und bürgerlicher Revolution kommenden Kriterien von Vernunft und Herrschaft des Rechts. Dass eben diese moderne Bürokratien als Expertokratien nicht nur die Bevölkerung entmündigen, sondern auch noch bestimmten Interessen dienen, wie es kürzlich David Graeber wieder zeigte, macht sie zu einer tragenden Struktur der gouvernementalen Herrschaftslogik. Etwas besser steht es um die Kohlekommission, die zumindest einige gewählte Bundestagsabgeordnete aufweist. Dass hier jedoch insgesamt wenig Partizipation der Bevölkerung ermöglicht wird, die Aushandlung nicht-öffentlich stattfindet und die Interessen der Industrie durch deren Hauptvertreter garantiert werden, gibt dem an sich demokratischen Gremium wiederum einen gouvernementalen Charakter. Wie aber sieht es mit einem klaren Gegenmodell zu Bürokratie und verdeckten Regierungsgeschäften aus? Nehmen wir den Volksentscheid zum Brexit. Im Vorfeld der Brexit-Entscheidung warb der Befürworter Michael Glove mit Slogans wie „enough of experts“; die Gegenüberstellung von ‚herrschendem‘ (EU)-Expert*innen und beherrschtem Volk verfing. Der Volksentscheid über eine historische Alternative hat fraglos mehr britische Bürger*innen politisiert als jede Parlamentsdebatte es getan hätte. Die auch aus der Sicht der Befürworter ambivalenten Folgen des Brexit haben dem pauschalen Angriff auf Expert*innen den Wind aus den Segeln genommen und führen seit nun mehr 3 Jahren zu einer differenzierten Debatte. Eine Kultur von Volksentscheiden, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, halte ich deswegen, trotz drohenden populistischen Interventionen, für wünschenswert. „Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“ – Dagmar Comtesse weiterlesen

„Eine andere Art Mut würde die Politik verändern“ – Interview mit Frank Ruda

Foto: Angelo Abear / unsplash

„Eine andere Art Mut würde die Politik verändern“

Interview mit Frank Ruda

Herr Ruda, was ist eigentlich Demokratie?

Heute spricht man von Demokratie in erster Linie als einer Staatsform. So wie es etwa die Monarchie gibt, so, so gibt es auch die Demokratie. Letztere ist dann dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht die staatliche organisierte Herrschaft nur einer Person, sondern die der Vielen sein sollte. Spricht man auf diese Weise von Demokratie, sagt man also, Demokratie ist die staatlich organisierte Herrschaft der Massen. Und sobald Massen in Versammlungen erscheinen mag man immer wieder den spontanen Impuls haben, dass es sich dabei um Politik handelt. Nun ist nicht jede Massenversammlung wie jede andere, Dresden 2014 ist anders als Tian’anmen 1989. Und nicht jede Massenherrschaft ist gleich jeder anderen. Das meint mehr als, dass es schlechte und gute gibt. Es gibt etwa auch direkte und indirekte, vermitteltere und unvermitteltere. Das hat einen einfachen Grund: Staaten haben immer zumindest eine Aufgabe, sie schaffen Distanz, sie trennen die Sphäre der Politik von der Sphäre der unmittelbaren Lebensvollzüge der Massen – und das ist nicht notwendig schlecht. Wenn dem nicht so wäre, müsste man beständig bei allem mitentscheiden. Einige finden das attraktiv. Wenn man sich aber vorstellt, dass man informierte Entscheidungen etwa darüber fällen soll, wie man die Müllabfuhr organisiert, ordentlich Isoliermaterial in Häuser einbaut, welche Normen bei Stromkabelverlegungen gelten sollen und wie viele Füchse es in und an Städten geben darf, dann ist es schwierig, sich vorzustellen, dass alle dazu etwas Sinnvolles zu sagen haben. Deswegen hilft bei solchen Entscheidungen Distanz. Es dreht sich also entscheidend darum, wie diese Distanz organisiert wird – und der Staat ist ein Distanzorganisationsinstrument.

Der Staat ist ein Distanzorganisationsinstrument

Vor diesem Hintergrund gibt die parlamentarisch organisierte Demokratie auf die Frage, wie man die für Staaten konstitutive Distanz zwischen politischer Macht und Leben der Massen organisiert, die Antwort, dass die Massen im Staat vertreten und repräsentiert sein sollen. Es gibt eine Distanz, diese soll rein technisch sein, aber keine Abwesenheit von Entscheidungsprozessen bedeuten. Es gibt Repräsentanten der Massen, die sich in Parteien zusammenfinden. Vermittelt wird diese Repräsentationsordnung, dann durch demokratische Wahlen, bei denen die Massen sich ihre eigenen Repräsentanten auswählen sollen. „Eine andere Art Mut würde die Politik verändern“ – Interview mit Frank Ruda weiterlesen

Ulrike Guérot: Komm, wir bauen einen europäischen Staat …

Foto: Oliver Cole / unsplash

Komm, wir bauen einen europäischen Staat …

Ulrike Guérot

„Die Nation ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich herauszutreiben.“

Max Weber (1912)

Wie viele Texte wurden in den letzten Wochen und Monaten vor den Europawahlen vom Mai 2019 geschrieben über „Europa erneuern“, „Europa richtig machen“ oder „Europa neu denken“? Dutzende europäische Verfassungsentwürfe zirkulierten im Vorfeld der Wahlen im Internet, Jan Böhmermann veröffentlichte auf Twitter einen fiktiven europäischen Pass und so weiter und so fort. Die Sehnsucht nach mehr oder jedenfalls einem anderen Europa scheint groß bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Doch die Realität sieht anders aus: Kaum war die Europawahl vorbei, wurde das Spitzenkandidaten-Verfahren, das erst zum zweiten Mal in Anwendung war und Unionsbürgern ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Kandidatin beziehungsweise des Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten einräumt, quasi außer Kraft gesetzt – und Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin bestimmt. Der Europäische Rat (EU-Rat) hatte sich wieder einmal durchgesetzt. Europäische Demokratie mit Bauchschmerzen …

„Alle Souveränität geht vom Volke aus“, so steht es in vielen Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Frei nach Kurt Tucholsky möchte man fragen: „Und wo geht sie hin?“ Tatsächlich verhindert schon die bloße Existenz des EU-Rats, dass die politischen Subjekte der EU, also die Bürgerinnen und Bürger Europas, ihrer Souveränität Ausdruck und rechtlichen Bestand geben können (Souveränität wird hier verstanden als Wahl- beziehungsweise Abwahlrecht; sprich: Die europäischen BürgerInnen können weder den Rat in seiner Gänze abwählen noch ihre Präferenzen – beispielsweise eine europäische Arbeitslosenversicherung – durchsetzen; es besteht also eine Krise der politischen Repräsentation). Überdies sind die Mitglieder des Europäischen Rats, der den Großteil der Entscheidungskompetenzen in der EU auf sich vereint, jeweils bloß national, nicht aber gesamteuropäisch legitimiert. Hier ist eine europäische Institution absurderweise nationalstaatlich ausgerichtet, das heißt, die einzelnen Ratsmitglieder sind immer nur ihrer jeweiligen nationalen Untergruppe gegenüber rechenschaftspflichtig und müssen versuchen, für diese – und nur für diese – das „Beste“ herauszuholen. Dadurch werden permanent Bürgerinnen und Bürger eines europäischen Staates gegen diejenigen eines anderen gestellt. Wie soll sich vor diesem Hintergrund ein gesamteuropäisches Bürgertum etablieren können? Ulrike Guérot: Komm, wir bauen einen europäischen Staat … weiterlesen