Pflegeethik Initiative e.V.
Pflege ist mehr als Versorgung
Früher oder später trifft es jeden: Eigene Fähig- und Fertigkeiten versagen ihre Dienste und man ist auf die Hilfe und Pflege anderer Menschen angewiesen. Die Zahl der dementen Pflegebedürftigen steigt – Demenz ist die Hauptursache für Pflegebedürftigkeit geworden. Für den Menschen im Kontroll- und Hochleistungszeitalter, der Körper und Geist gerne seinem Willen unterstellt, ist der Verlust der Entscheidungsfreiheit der blanke Horror. Die Angst vor der Vergesslichkeit und Verwirrtheit ist so gewaltig, dass alle etablierten Parteien das Thema Pflege lieber ganz im Wahlkampf meiden. Mit fatalen Folgen für unser menschliches Miteinander: Denn Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände, sowie private oder kommunale Leistungsanbieter zahlen nur noch für eine effiziente technokratisch-medikamentöse Versorgung, nicht aber für ausreichend Zuwendung. Dies führt dazu, dass Pflegebedürftige zu Kunden werden, die jede Abwechslung als „Einzelmaßnahme“ buchen müssen.
Der Verein Pflegeethik Initiative Deutschland e.V. kämpft seit Januar 2018 dafür, eine Haltungsänderung in der Gesellschaft zu erreichen und ethische Grundsatzfragen aufzuwerfen. Beispielsweise inwiefern die Hightech-Medizin und der Einsatz von Pflegerobotern wirklich alternativlos sind, oder warum in unserer Gesellschaft das Leben der Menschen über die Grenze des Erträglichen hinaus verlängert wird, oder ob ruhigstellende Medikamente tatsächlich dem Patienten dienen und nicht vielmehr der Reduzierung seines Pflegeaufwands. „Dieses auf den Körper bezogene Versorgungs- und Behandlungsdenken unseres Gesundheitssystems hat Strukturen und Haltungen hervorgebracht, die den seelisch-geistigen Bedürfnissen nicht gerecht werden können“, sagt Vereinsvorsitzende Adelheid von Stösser. Sie möchte politisch und gesellschaftlich ein Umdenken einleiten, dass letztlich uns allen zugutekommt.
Nachgefragt bei Adelheid von Stösser, Vereinsvorsitzende:
Die Pharmaindustrie macht Milliardenumsätze mit Medikamenten für Alzheimerkranke, obwohl es bis heute kein Heilmittel gibt. Welche Erklärung gibt es dafür und welche Alternative haben Betroffene?
Diese Mittel, man nennt sie Antidementiva, obwohl sie weder Demenz verhindern noch heilen können, sollen angeblich das Fortschreiten hinauszögern. Da die Schulmedizin nichts anderes anzubieten weiß, werden sie regelmäßig verordnet. Die erhoffte Wirkung bleibt in der Regel aus, stattdessen machen Nebenwirkungen dem Kranken zu schaffen. Einige setzen die Mittel nach kurzer Zeit selbst ab, andere lassen sich weitere Mittel gegen die Nebenwirkungen verschreiben. „Alzheimer“ zu haben, gilt heute als das Schlimmste was sich ein Mensch vorstellen kann. Alleine diese Diagnose müsste verboten werden, weil sie als existentielle Bedrohung erlebt wird. Jede kleinste Vergesslichkeit wird fortan als Fortschreiten einer Krankheit gewertet, an deren Ende der Mensch sein ganzes Leben und sich selbst als Person vergessen hat. Tatsächlich sind es jedoch eher die vielen Medikamente, die die Demenz verstärken und die fürchterlichen Entwicklungen hervorrufen, die wir in den Heimen beobachten können. Wer sich oder einen Angehörigen vor solch einem Ende schützen will, sollte alle nicht zwingend notwendigen Medikamente meiden, auf eine ausgewogene und vitalstoffreiche Ernährung achten, tägliche Spaziergänge an der frischen Luft unternehmen, tanzen, singen, musizieren etc. und gute Kontakte zu Menschen pflegen, die einen aufbauen. Es gibt sogar eine Studie die zeigt, dass die Gruppe von Demenzbetroffenen, die einen täglichen Spaziergang von 20 Minuten machte, in allen Bereichen deutlich besser abgeschnitten hat, als die mit Antidementiva behandelte Gruppe.
„Bloß niemandem zur Last fallen“, denken alternde Menschen und blicken damit selbst auf ihre Pflegebedürftigkeit herab. Müssen wir in der Leistungsgesellschaft lernen, uns gerne pflegen zu lassen?
Wir sollten zunächst einmal lernen, uns selbst so zu pflegen, dass wir gar nicht erst pflegebedürftig werden. Angefangen mit dem Kopf. Wer zum Beispiel im Alter schlecht schläft und es zulässt, dass seine Gedanken und Ängste unkontrolliert im Kopf herumspuken, der verliert irgendwann die Kontrolle über sein Leben. Bei 70 Prozent der heute Pflegebedürftigen ist Demenz die Ursache dafür, dass sie auf Hilfe angewiesen sind.
Weitere Ursachen sind falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, fehlende oder kränkende soziale Kontakte. Nicht zu vergessen, die Medikamente mit den zahlreichen Nebenwirkungen, die Menschen im Rentenalter heutzutage schlucken. Meine 89-jährige Mutter war kürzlich wegen Kniebeschwerden beim Arzt. Der habe ihr mehrfach seine Verwunderung ausgedrückt, dass sie so gut „beieinander ist“ und das ohne ein einziges Medikament. Durchschnittlich nehmen Menschen in ihrem Alter täglich 5 verschiedene Medikamente.
Lässt sich eine humane und liebevolle Pflege überhaupt in Masseneinrichtungen, die wie Unternehmen geführt werden, verwirklichen?
Pflegeheime müssen wie Unternehmen geführt werden, um wirtschaftlich und organisatorisch funktionieren zu können. Das ist nicht das Problem. Wird ein Pflegeheim zudem noch menschlich gut geführt, kann es den Pflegebedürftigen die dort leben sogar mehr Lebensqualität bieten, als ein einsames Dasein im eigenen Zuhause. Abgesehen von den teuren Residenzen, in denen auch heute noch viele geistig fitte Menschen wohnen, leben in Alten- und Pflegeheimen inzwischen nur noch pflegebedürftige. Rund 60 Prozent der Heimbewohner sind so stark verwirrt, dass sie ständiger Aufsicht bedürfen. Um diesen Menschen gerecht werden zu können, braucht es geeignetes Personal in ausreichender Zahl. An beidem mangelt es, weil Heimbetreiber wie auch Kostenträger stets bemüht waren, die Personalkosten niedrig zu halten, ungeachtet der Auswirkungen für Bewohner und Personal. Eine Nachtwache für 50 und mehr Bewohner ist die durchschnittliche Nachtdienstbesetzung in deutschen Heimen. Diese ist überhaupt nur möglich, weil es üblich ist, unruhige Bewohner medikamentös ruhig zu stellen. So wurden Heime mehr und mehr zu reinen Verwahranstalten. Da möchte niemand freiwillig hin. Und je unmenschlicher das Klima wird, desto schwieriger wird es Pflegekräfte zu gewinnen. Schon seit Jahren beschreiben wir diesen Teufelskreis.
So wie derzeit Pflegeheime überwiegend betrieben werden, widerspricht das allen humanen, ethischen, moralischen und christlichen Gesichtspunkten.
Auf welche Art und Weise schaffen Sie es, die Pflege in Deutschland tatsächlich zu beeinflussen?
Indem wir die Unmenschlichkeit zeigen, den stumm vor sich hin leidenden eine Stimme geben, die Zusammenhänge erklären, an das Gewissen der Verantwortungsträger appellieren und an positiven Beispielen zeigen, wie es besser gehen könnte. Erste Erfolge motivieren uns auf diesem Weg (gegen den Strom) weiter zu gehen.
In diesem Jahr wollen Sie eine Rechtsoffensive für Pflegebetroffene starten. Was ist geplant?
Mit der „Rechtsoffensive für Pflegebetroffene“ will der Verein zunächst einmal deutlich machen, dass es vor allem die Pflegebedürftigen sind, die unter den Zuständen leiden. Den Bedürftigen gegenüber hat der Staat eine Fürsorgepflicht. Menschengerechte Pflege darf keine Frage der Kosten sein. Es kann zum Beispiel nicht akzeptiert werden, dass Menschen am Lebensende in Heime gesteckt werden, weil Heimträgerverbände die Politik bestimmen und kommunale Versorgungssysteme fehlen. Geplant ist eine bundesweite Mitmach-Kampagne über ein Internetportal, das im April 2019 an den Start gehen soll. Einbezogen sind auf dem Gebiet namhafte Juristen, wie u.a. Prof. Alexander Graser und Dr. Christoph Linder. Angestrebt ist die Vernetzung mit einer ausreichenden Zahl von Rechtsanwälten, die Pflegebetroffene in den von uns angeregten Verfahren vertreten. Ein Schwerpunkt wird die Praxis der medikamentösen Ruhigstellung sein. Denn das ist wohl das größte Übel, weil die hier eingesetzten Mittel einer inneren Zwangsjacke gleichkommen, zu Wesensveränderungen führen und den Menschen entstellen.