Simone de Beauvoir | Portrait von Julia Korbik

Simone de BeauvoirIllustration: DMBO – Studio für Gestaltung

 

Simone de Beauvoir

Text: Julia Korbik

Paris im Sommer 1946. Die 38-jährige Simone de Beauvoir hat gerade mit einem neuen Projekt angefangen: ihrer Autobiografie. Zunächst will sie danach fragen, was es für sie bedeutet, eine Frau zu sein – und glaubt, mit der Antwort darauf schnell fertig zu sein, denn: „Gewiss bedauerte ich nicht, eine Frau zu sein; ich zog im Gegenteil große Befriedigung daraus.“ Ihrem Partner Jean-Paul Sartre erklärt Beauvoir, ihr Geschlecht habe für sie nie eine Rolle gespielt, sie nie behindert oder benachteiligt. Doch Sartre gibt zu bedenken: „Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen.“

Also untersucht Beauvoir – und macht eine, für sie, erstaunliche Entdeckung: „Diese Welt ist eine Männerwelt, meine Jugend wurde mit Mythen gespeist, die von Männern erfunden worden waren, und ich hatte keineswegs so darauf reagiert, als wenn ich ein Junge gewesen wäre.“ Kurzerhand verwirft sie ihren ursprünglichen Plan und stürzt sich in die Recherchen für einen längeren Essay über die Lage der Frau. Er erscheint 1949 unter dem Titel Das andere Geschlecht (im französischen Original: Le deuxième sexe, also wörtlich Das zweite Geschlecht) in zwei Teilen im Mai und Oktober in Frankreich – und löst einen Skandal aus. Beauvoir erhält Hassbriefe und wird auf der Straße beschimpft. Man wirft ihr vor, wahlweise ein heimliches Kind bekommen oder Hunderte von Abtreibungen hinter sich zu haben, nymphoman oder sexuell unbefriedigt, frigide oder lesbisch zu sein. Sittenwächter sehen die Moral der Franzosen in Gefahr, so anstößig ist angeblich das, worüber Beauvoir schreibt.

Werdegang einer Intellektuellen

Dass es Simone de Beauvoir sein würde, die eines der wichtigsten und aufsehenerregendsten feministischen Bücher des 20. Jahrhunderts schreibt, war nicht unbedingt abzusehen – denn die Tochter aus gutem Hause ist eher ungewollt zur Rebellin geworden. Als Simone Lucie Ernestine Marie Bertrand de Beauvoir wird sie am 9. Januar 1908 in Paris geboren. Sie und ihre zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Hélène wachsen in einem bürgerlichen Elternhaus auf, mit eigenem Dienstmädchen und ausgeprägtem Klassenbewusstsein. Die gesellschaftlichen Ambitionen der Familie übersteigen die vorhandenen finanziellen Mittel jedoch bei Weitem: Man lebt hauptsächlich von einer Erbschaft, denn Vater Georges ist ein arbeitsscheuer Müßiggänger. Mutter Françoise tut ihrerseits alles dafür, eine mustergültige Ehefrau zu sein und sich perfekt an die in ihrem Milieu geltenden gesellschaftlichen Konventionen anzupassen. So werden die Töchter selbstverständlich christlich erzogen und auf eine katholische Privatschule geschickt.

Doch 1917 ändert sich die komfortable Situation der Beauvoirs: Während der russischen Oktoberrevolution verliert Georges de Beauvoir, der in russische Aktien investiert hatte, einen Großteil seines Vermögens. Die Beauvoirs gehören nun zu den „neuen Armen“ und müssen in eine kleinere, günstigere Wohnung ziehen. Die Enge dort bedrückt Simone de Beauvoir – und so flüchtet sie sich in Bücher. Sie liest aber nicht nur gerne, sie hat auch Lust, selber zu schreiben. Als sie sich mit 15 Jahren in das Album einer Freundin einträgt, antwortet sie auf die Frage nach ihrem Berufswunsch ohne zu zögern: „Eine berühmte Schriftstellerin“. Sie ist fest entschlossen, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, etwas zu leisten. Das geht, glaubt sie, am besten durch geistige Arbeit.

Arbeiten wird sie sowieso müssen, denn aufgrund seiner Pleite ist Vater Georges nicht mehr in der Lage, seinen Töchtern eine angemessene Mitgift zu zahlen. Ungerührt verkündet er ihnen: „Heiraten, meine Kleinen (…) werdet ihr freilich nicht. Ihr habt keine Mitgift, da heißt es arbeiten.“ Da es keinen männlichen Nachkommen gibt, mit dem Georges von Gleich zu Gleich sprechen könnte, behandelt er eben seine Erstgeborene wie einen Sohn und unterhält sich mit ihr über Kultur und Literatur. „Simone denkt wie ein Mann“, pflegt Georges stolz zu sagen. Der intellektuelle und ideologische Gegensatz zwischen ihren Eltern fällt Simone de Beauvoir immer deutlicher auf: Georges mit seinem weltlichen Individualismus steht in krassem Gegensatz zu Françoise und ihrer strengen katholischen Moral. Hier das geistige Leben, dort das seelische Dasein. Später wird Beauvoir feststellen: „Diese Unausgewogenheit, die mich zur Auflehnung treiben musste, erklärt zum großen Teil, dass eine Intellektuelle aus mir geworden ist.“

Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg zur Intellektuellen ist für Simone de Beauvoir der Verlust ihres katholischen Glaubens. Religion, das ist für sie nur noch Widerspruch: Warum zum Beispiel sind so viele der großen männlichen Schriftsteller und Denker, die Beauvoir bewundert, nicht gläubig? Auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens wendet sich die junge Frau der Philosophie zu – für sie ein Instrument, vermeintliche Gegebenheiten kritisch zu hinterfragen, ihre Umgebung mit neuen Augen zu betrachten.

Die Philosophie gibt ihr so viel, begeistert sie so sehr, dass Beauvoir beschließt, sie zum Beruf zu machen und Philosophielehrerin zu werden. Doch die Eltern stellen sich quer – Philosophie halten sie für ein, nun ja, „Laberfach“ – und so studiert Beauvoir nach ihrem Abitur 1925 zunächst Philologie und Mathematik. Am Ende setzt sie sich aber doch durch und beginnt im Winter 1926 ihr Philosophiestudium an der Sorbonne. Dort lernt sie im Frühjahr 1929 in einer Lerngruppe ihren Kommilitonen Jean-Paul Sartre kennen, der einen Ruf als Intelligenzbestie, Zyniker und Eliteverächter genießt. Aus den beiden wird ein Paar und im Oktober 1929 schließen sie einen, ihren, „Pakt“: Ihre sei eine notwendige Liebe, erklärt Sartre Beauvoir, eine amour nécessaire. Daneben gebe es aber auch die Zufallslieben oder amours contingents – davon sollen beide, Sartre und Beauvoir, Gebrauch machen, aber nicht sofort. Das Paar vereinbart außerdem, sich einander immer alles zu sagen und sich nie anzulügen. Ausgelegt ist der Pakt zunächst auf zwei Jahre, doch schon bald wird er verlängert, letztendlich auf unbestimmte Zeit. Ihr ganzes Leben lang werden Beauvoir und Sartre nie einen gemeinsamen Haushalt haben, gemeinsam leben, Kinder haben – ihr Zusammensein basiert auf Freiheit und richtet sich gegen die traditionell-bürgerlichen Beziehungsmodelle.

Lebensfreude und Leidenschaft

Nach dem Studium arbeitet Simone de Beauvoir als Lehrerin in Marseille, dann in Rouen, 1936 kehrt sie schließlich nach Paris zurück. Sartre, ebenfalls Lehrer, folgt ein Jahr später. Die beiden verwerfen selbstbewusst die Maßstäbe, nach denen sich die Gesellschaft richtet, verbindliche Grundsätze, Pflichten und Tugenden: Was zählt, ist allein die individuelle Freiheit. Der Wert eines Menschen wird an seiner Leistung, seinen Taten gemessen. Beauvoir und Sartre fühlen sich losgelöst von allem, von Orten, Ländern, Klassen, Berufen, Generationen. Sie wollen sich in keine Schublade stecken lassen, sie fühlen sich einzig sich selbst gegenüber verpflichtet.

Beauvoirs Denken ändert sich erst entscheidend, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Sartre wird eingezogen und gerät im Juni 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im März 1941 mithilfe eines Gefälligkeitsattestes zurückkehrt. Beauvoir kommt im besetzten Paris um vor Sorge. Etwas in ihr bewegt sich: „Ich wusste jetzt, dass mein Schicksal mit dem aller anderen verknüpft war. Die Freiheit, die Unterdrückung, das Glück und Leid der Menschen berührten mich zutiefst.“ Sie macht sich, zum ersten Mal, Sorgen, was ihr Handeln oder Nichthandeln für andere bedeutet. Das zeigt sich auch in ihrem Schreiben: Ging es in ihrem 1943 erschiene- nen Debütroman Sie kam und blieb noch um eine (von persönlichen Erfahrungen inspirierte) Ménage-à-trois, so beschäftigt sich ihr zweiter Roman Das Blut der an- deren von 1945 damit, wie sich das Handeln Einzelner auf andere auswirkt. In ihren Artikeln für die von ihr und Sartre gegründete literarisch-politische Zeitschrift Les Temps Modernes setzt Beauvoir sich mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen auseinander, analysiert, diskutiert und kommentiert. Sie veröffentlicht mehrere philosophische Essays zum Existenzialismus (unter anderem Pyrrhus und Cineas aus dem Jahr 1944) und macht sich Gedanken zu einer existenzialistischen Moral – diese hatte Sartre in seinem 1943 erschienenem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts zwar angekündigt, aber nie ausgeführt.

Typisch für Simone de Beauvoirs Form des Existenzialismus sind Lebensfreude und Leidenschaft. Ihr Zugang ist unmittelbar, konkret: Sie schreibt für das große Publikum, nicht für Intellektuelle. Als klassische Philosophin sieht sie selbst sich nicht – was auch daran liegt, dass ihr großer Traum immer das Schreiben war. Seit sie den Krieg erlebt hat, ist die Literatur für sie so nötig geworden „wie die Luft, die ich atmete“. Beauvoir greift immer dann zum Stift, wenn sie in Büchern keine Antworten auf dringende Fragen, wenn sie sich selbst nicht in ihnen findet – Schreiben ist für sie immer auch Selbsterforschung und Suche.

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Das andere Geschlecht

Zwar erfährt Beauvoir mit ihren Romanen kritische und öffentliche Anerkennung, vor allem mit Die Mandarins von Paris, für den sie 1954 den prestigeträchtigen Prix Goncourt erhält. Berühmt ist und bleibt sie aber vor allem für Das andere Geschlecht – oder eher: berühmt-berüchtigt. Als das Buch 1949 erscheint, ist die französische Gesellschaft noch stark durch den Katholizismus geprägt. Schwangerschaftsabbrüche und Verhütungsmittel sind illegal, die Regierung betreibt eine Politik der aktiven Geburtenförderung – die traditionelle Familie ist das gesellschaftliche Ideal.

Von Frauen wird erwartet, dass sie sich brav in die für sie vorgesehene Rolle der Ehefrau und Mutter fügen. Sie sind, trotz der Tatsache, dass sie seit 1944 das aktive und passive Wahlrecht besitzen, Bürgerinnen zweiter Klasse. Kein Wunder also, dass Beauvoir in der Einleitung von Das andere Geschlecht drastische Worte wählt: „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen.“ Der Mann, so Beauvoir, sehe sich selbst also immer als das Absolute, das Subjekt, das Eine; die Frau als das Relative, das Objekt, das Andere. Frausein, Weiblichkeit, werde mystifiziert, zu etwas nahezu Heiligem und Essenziellem gemacht. All das führe letztendlich dazu, dass die Frau dem Mann untergeordnet sei. Beauvoir möchte nicht nur wissen, warum das so ist, sondern auch, wie ein „Mensch sich im Frau-Sein verwirklichen“ kann. Denn der – existenzielle – Konflikt besteht ja darin, dass auch eine Frau sich als Subjekt, als Wesentliches setzt: Sie ist genau genommen eine „autonome Freiheit“, wird vom Mann aber trotzdem in die Rolle des Objekts gezwungen und auf diese Weise in ihren Freiheitsspielräumen beschnitten, in einer Art erstarrtem Zustand gehalten.

Der wohl meistzitierte Satz aus Das andere Geschlecht lautet: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Biologie, stellt Beauvoir damit fest, ist kein Schicksal. Es gibt keine durch die Anatomie bestimmte „weibliche Essenz“, die Frauen bestimmte Verhaltensweisen, ein bestimmtes Leben, eine bestimmte Situation auferlegt. Entschieden trennt Beauvoir das biologische Geschlecht (sex) von der sozialen Rolle (gender); Geschlechtskategorien sind für sie nicht mehr als gesellschaftliche Konstrukte. In dem Satz – „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ – zeigt sich außerdem die existenzialistische Ethik, die dem anderen Geschlecht zugrunde liegt: Im Existenzialismus sind wir nicht einfach, wir müssen uns erst aktiv zu etwas machen. Deshalb kann auch niemand als Frau zur Welt kommen, denn das würde bedeuten, es gebe bestimmte Charakteristika oder Eigenschaften, die Menschen von Geburt an einfach besitzen. Stattdessen sind im Existenzialismus individuelle Entscheidungen, Gewohnheiten und äußere Einflüsse wesentlich, denn sie tragen dazu bei, dass Strukturen entstehen, aus denen auszubrechen nicht unbedingt leicht ist. Das bedeutet: Die individuelle Freiheit wird immer durch die individuelle Situation eingeschränkt. Eine Situation im existenzialistischen Sinne bezeichnet sowohl den Ausgangspunkt als auch die Begrenzung der individuellen Freiheit; sie wird geprägt durch verschiedene, nicht selbst gewählte Faktoren, wie biologische, gesellschaftliche und historische.

Die Frage ist nun, wie Frauen sich aus ihrer Situation befreien können. Für Beauvoir bedeutet es einen wichtigen Schritt aus der Abhängigkeit, eigenes Geld zu verdienen: „Sobald sie aufhört, als Parasit zu leben, bricht das auf ihrer Abhängigkeit beruhende System zusammen. Zwischen ihr und dem Universum bedarf es dann keines männlichen Vermittlers mehr.“ Wirtschaftliche Autonomie allein führt aber nicht zwangsläufig zur Emanzipation, denn Frauen müssen „die Annahme ihrer Geworfenheit und ihrer Transzendenz“ – also das Freisein – erst noch erlernen. Letztendlich muss sich die Frau, um wirklich frei zu sein, mit dem Mann gleichsetzen – als Mensch. Dieses „Menschwerden“ der Frau bedeutet laut Beauvoir aber ausdrücklich nicht das Ende aller Geschlechterunterschiede. Sie geht im Gegenteil davon aus, dass „bestimmte Unterschiede zwischen Mann und Frau immer bestehen bleiben werden“. Und erteilt so allen eine Absage, die vor dem Ende der Geschlechter warnen, vor androgynen, geschlechtslosen, identischen Menschen.

Obwohl Beauvoir mit Das andere Geschlecht einen feministischen Klassiker geschrieben hat, sieht sie selbst sich 1949 nicht als Feministin, sondern vor allem als Sozialistin. Sie glaubt, eine Transformation des kapitalistischen Systems – und damit verbunden die Auflösung des Klassenwiderspruchs – würde automatisch und quasi nebenbei die Befreiung der Frau mit sich bringen. Doch mit der Zeit erkennt sie, dass es so nicht läuft. Wie viele andere westeuropäische Intellektuelle ist sie desillusioniert vom sowjetischen Regime und sieht im Sozialismus kein Heilsversprechen mehr. Ihr wird klar: Auch dort hat die Frauenbefreiung keine Priorität. 1966 identifiziert Beauvoir sich in einem Interview mit dem französischen Philosophen Francis Jeanson zum ersten Mal öffentlich als Feministin: „Feminismus ist eine Art, individuell zu leben und kollektiv zu kämpfen.“ So engagiert sich Beauvoir in den 1970er-Jahren im Mouvement de libération des femmes (dt. Bewegung zur Befreiung der Frauen), der eine groß angelegte Kampagne für die Legalisierung von Abtreibung startet. Beauvoir verfasst den Text der Petition Manifest der 343, welche am 5. April 1971 in der Zeitschrift Le Nouvel Observateur erscheint. Darin bekennen 343 Frauen, abgetrieben zu haben – darunter die Schauspielerin Jeanne Moreau und die Schriftstellerin Marguerite Duras.

Wie weiter mit Beauvoir?

Als Simone de Beauvoir 1986 stirbt, wird sie in zahlreichen Nachrufen vor allem als große Feministin geehrt, als Autorin des Jahrhundertwerks Das andere Geschlecht. Und heute, 71 Jahre nach Erscheinen von Das andere Geschlecht: Ist dieses Buch nicht längst überholt? Sind wir als Gesellschaft in Sachen Gleichberechtigung nicht schon so weit gekommen, hat der Feminismus nicht schon so viel erreicht? Ja und nein. Wahr ist, dass die Welt noch eine andere war, als Beauvoir 1946 in Paris ihre ersten Notizen zur Situation der Frau machte. Aber auch heute existiert noch eine Vielzahl gesellschaftlicher Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, sind die Geschlechter noch längst nicht gleichgestellt. Und deshalb lohnt es sich, immer wie- der, Das andere Geschlecht zu lesen. Weil viele von Beauvoirs Analysen unverändert aktuell sind – so aktuell, dass manche Stellen sich lesen, als seien sie gestern geschrieben worden, nicht vor vielen Jahrzehnten.

So erkennt und beschreibt Beauvoir glasklar, dass es die Frauen nicht gibt, sondern dass verschiedene Frauen in verschiedenen Situationen stecken – und ihre Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, zur freien Entfaltung, deshalb sehr unterschiedlich sind. Trotzdem, oder gerade deshalb, fordert Beauvoir Frauen auf, ihm Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv zu werden und die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Sie bietet ihnen die Munition und das Hintergrundwissen, um ihre eigene Situation, die Situation der Frauen, zu verstehen und zu diskutieren; und sie damit verhandelbar, veränderbar zu machen. Auch 71 Jahre nach seinem Erscheinen ist Das andere Geschlecht ein kämpferisches Buch, ein Buch, das Mut macht. Weil es zeigt, wie viel schon geschehen ist, wie viel schon erreicht wurde – und dazu motiviert, sich damit nicht zufrieden zu geben. „Bleibt kritisch und wachsam“, scheint Beauvoir einem zuzurufen. „Nehmt nichts als unumstößliche Wahrheiten hin!“

Letztendlich bedeutet Das andere Geschlecht heute zu lesen, sich – wieder – bewusst zu werden, dass Feminismus eine Bewegung ist, bei der es um Freiheit geht: um die eigene Freiheit wie auch die der anderen. Auch Simone de Beauvoir musste das erst lernen. Aus einem Mädchen, das sich nach einem selbstbestimmten Leben sehnte, ohne sinnlose Vorschriften und Überwachung, ist eine Frau geworden, die eines sehr klar erkannt hat: „Frei sein wollen bedeutet wollen, dass auch die anderen frei sind.“ Auf der Suche nach einem eigenen Lebensmodell konnte Beauvoir kaum auf Vorbilder zurückgreifen – sie ließ ihr Geburtsmilieu und die damit verbundenen Erwartungen zurück, ohne zu wissen, worauf sie ihr Leben stattdessen aufbauen sollte. Schon früh begriff Beauvoir, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen muss – Bildung bot den Weg aus der Armut, Entschlossenheit den Weg zum Erfolg. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn ihre Familie nicht verarmt wäre und ihr eine gute Mitgift hätte zahlen können? Wahrscheinlich. Doch so blieb der Tochter aus gutem Hause gar nichts anderes übrig, als ihren eigenen Weg zu gehen; einen Weg, den sie durch ihr Denken und Handeln erst bahnen musste. Andere junge Frauen wären vor dieser Herausforderung vielleicht zurückgewichen – Simone de Beauvoir stürzte sich einfach hinein. Sie hat sich ihre Freiheit erschrieben und sich zur Heldin ihrer eigenen Geschichte gemacht. Eine Heldin, die handelt. Und die Freiheit als Verantwortung begreift: für sich und für andere. ■

Julia Korbik
Julia Korbik lebt als Autorin und freie Journalistin in Berlin. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Politik und (Pop-)Kultur aus feministischer Sicht. 2018 wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. Stand Up. Feminismus für alle (Kein & Aber, 2019) und Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten (Rowohlt Verlag, 2017).
Foto: Lars Mensel

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