Nichts verhindert Nachhaltigkeit mehr als Ungleichheit | Interview mit Christoph Butterwegge

Mind the GapFoto: Suad Kamardeen | Unsplash

Nichts verhindert Nachhaltigkeit mehr als Ungleichheit

Interview mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge

In der wachsenden sozioökonomischen Ungleichheit sieht der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge das „Kardinalproblem unserer Gesellschaft wie der Menschheit insgesamt“. Wir wollten von ihm wissen, wie die sozioökonomische Ungleichheit mit dem Aufstieg des Rechtsextremismus und mit den ökologischen Herausforderungen zusammenhängt.

Herr Prof. Butterwegge, in Ihrem Buch „Die zerrissene Republik“ schreiben Sie, man könne davon ausgehen, dass „die ökonomische Ungleichheit der Schlüssel zur Erklärung gesellschaftlicher Verwerfungen unterschiedlicher Art ist.“ Können Sie kurz skizzieren, inwiefern das der Fall ist? Wie hilft uns das Wissen um die Entwicklung der Ungleichheit zu verstehen, dass in Thüringen ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD gewählt werden konnte?

Dass die AfD in Thüringen zuletzt stark genug war, um die Landespolitik durch die Ablösung eines ihr verhassten linken Ministerpräsidenten entscheidend zu beeinflussen, verdankt sie nicht zuletzt den sozialen Verwerfungen, die eine neoliberale (Regierungs-)Politik auf der Bundesebene zur Folge hatte. Schließlich hat die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder mit den „Agenda“-Reformen und den Hartz-Gesetzen teilweise noch radikaler als ihre Vorgängerregierung unter Helmut Kohl den Arbeitsmarkt dereguliert, den bestehenden Wohlfahrtsstaat ein Stück weit demontiert und eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip praktiziert: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird das wenige auch noch genommen“ lautete offenbar die Maxime, nach der die politisch Verantwortlichen handelten. Alle Kapital- und Gewinnsteuern wurden in jener Zeit entweder abgeschafft (Börsenumsatz- und Gewerbekapitalsteuer), nicht mehr erhoben (Vermögensteuer) oder gesenkt (Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer, Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer), wohingegen die vornehmlich Ärmere belastende Mehrwertsteuer erhöht wurde.

Wie das Erfurter Trauerspiel und der ihm folgende Rückzug Annegret Kramp-Karrenbauers als CDU-Vorsitzende zeigen, führt eine sozioökonomisch zerklüftete Gesellschaft politisch zu einer zerrissenen Republik. Um die sich gewissermaßen auf der parteipolitischen Vorderbühne abspielenden Ereignisse verstehen zu können, muss man die gesellschaftlichen Hintergründe der Zersplitterung des Parteiensystems, des Niedergangs der beiden „Volksparteien“ und der Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems einschließlich der sozialen Abstiegsängste in der unteren Mittelschicht und der (Wahl-)Erfolge des Rechtspopulismus ausleuchten.

 

Sie sprechen von „Prekarisierung, Pauperisierung und Polarisierung“ – was meinen Sie mit diesem Dreischritt?

Christoph Butterwegge
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Buch Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland (Beltz, 2019) erschienen. (Foto: Markus J. Feger)

Erstens hat die Regierungspolitik durch Lockerung des Kündigungsschutzes, Liberalisierung der Leiharbeit und Schaffung von Mini- bzw. Midijobs eine Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen Menschen bewirkt. Der fast ein Viertel aller Beschäftigten umfassende Niedriglohnsektor ist zum Haupteinfallstor für heutige Kinder- bzw. Familienarmut und spätere Altersarmut geworden. Zweitens sind Geringverdienerinnen und Geringverdiener meist nur eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt. Insofern geht die Prekarisierung auch mit Pauperisierung, also einem Prozess der systematischen Verarmung eines Teils der arbeitenden Bevölkerung, einher. Da niedrige Löhne gleichbedeutend mit hohen Gewinnen, Renditen und Dividenden sind, ist drittens auch der Reichtum einer Kapital besitzenden Minderheit gewachsen. Ich spreche von einem sozialen Paternoster-Effekt: Die einen fahren nach oben, während die anderen nach unten fahren. Dadurch vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich, anders formuliert: Es findet eine soziale Polarisierung statt, und die Gesellschaft driftet auseinander.

 

Mehr Geld zu haben, heißt nicht automatisch besser zu leben. In unserer Gesellschaft, stellt sich für immer mehr Menschen die Sinnfrage immer dramatischer: Wozu mache ich das eigentlich alles? Welchen Sinn hat meine Arbeit? Ist angesichts einer ökologischen Katastrophe nicht alles sinnlos? Ist angesichts dieser Sinnfragen und der ökologischen Herausforderungen die sozioökonomische Ungleichheit unser größtes Problem?

Ja, nach meiner Überzeugung ist die wachsende sozioökonomische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft wie der Menschheit insgesamt. Denn aus ihr resultieren ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen, Kriege und Bürgerkriege, die wiederum riesige Migrationsbewegungen auslösen. Hierzulande sind die Folgen zwar weniger drastisch, aber der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet und die Demokratie ist gefährdet. Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick so, als sei es vordringlicher, die ökologischen Probleme zu lösen, als eine sozialökonomische Transformation und eine Überwindung des Kapitalismus in Angriff zu nehmen, anders gesagt: als ginge die Gattungsfrage (Sicherung der Existenzgrundlagen durch Abwendung der Klimakatastrophe) der Sozialen bzw. Klassenfrage (Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung und Beseitigung der sozioökonomischen Ungleichheit) voran. Schaut man jedoch genauer hin, wird schnell deutlich, dass nichts ökologische Nachhaltigkeit mehr verhindert als sozioökonomische Ungleichheit. Letztlich beschwört die für den Kapitalismus konstitutive Ungleichheit die ökologische Katastrophe geradezu herauf, weshalb dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem baldmöglichst überwunden werden muss, damit die Menschheit überleben kann.

 

In der Diskussion um die ökologische Wandlung von Wirtschaft und Gesellschaft wird immer wieder angemahnt, dass diese sozial nachhaltig erfolgen müsse. Wie kann das gelingen?

Wie gesagt passen Kapitalismus und Ökologie nicht zusammen. Denn was ist perverser, als mit Verschmutzungszertifikaten zu handeln, die es Reichen erlauben, die Umwelt zu schädigen, während den Armen das Geld dafür fehlt? Ohne mehr Gleichheit kann es weder soziale Gerechtigkeit noch Frieden mit der Natur geben. Geschäftemacherei, Profitmaximierung und Wettbewerbswahn sind Gift für das Klima. Sie haben den Klimawandel hervorgerufen, sind also das Problem und nicht Teil seiner Lösung. Der mit dem Kosenamen „Soziale Marktwirtschaft“ versehene Finanzmarktkapitalismus sucht den Staat zwar als ökologischen Reparaturbetrieb zu instrumentalisieren, kann die sich beschleunigende Erderhitzung aber nicht stoppen.

Wenn wir nicht in einem „Höllenjahrhundert“ (David Wallace-Wells) leben wollen, müssen wir die kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise baldmöglichst überwinden. Nötig ist eine umfassende Systemkritik, welche die destruktiven Folgen der kapitalistischen Ökonomie anprangert und Alternativen entwickelt, die über das bestehende Gesellschaftssystem hinausweisen. Die ökologische Transformation muss sozial gestaltet werden, weil sie nicht nachhaltig sein kann, wenn arme Bevölkerungsgruppen die Kosten tragen. Das „Klimapaket“ der Bundesregierung überzeugt weder in ökologischer noch in sozialer Hinsicht. Dies betrifft etwa die Anhebung der Entfernungspauschale für Berufspendler, von der Besserverdienende mehr profitieren als Geringverdienerinnen und Geringverdiener, unabhängig davon, welches Verkehrsmittel sie benutzen.

 

Bietet nicht gerade die Tatsache, dass angesichts der ökologischen Entwicklungen alle ihren Konsum verändern und einschränken müssen, eine Steilvorlage für ein ökologisch nachhaltiges und solidarischeres Miteinander?

Die zerrissene Republik (Beltz, 2019)Sowenig das kapitalistische Wachstumsparadigma noch in die Zeit passt, sowenig nützt es, den Menschen ohne Rücksichtnahme auf ihre unterschiedliche Ausgangslage und ihre konkrete Lebenssituation freiwilligen Verzicht zu predigen. Aufrufe zur Askese eignen sich nicht als Patentrezept, um die ökologischen Probleme zu lösen, denn sie träfe zuerst jene Individuen, die nicht genug Geld für Ausweich- oder Ersatzstrategien haben. Sozial selektiv wirkende Gegenmaßnahmen, welche die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen, würden das politische Klima noch mehr vergiften. Arme können sich Fernreisen und Langstreckenflüge ohnehin nicht leisten, sind von den gesundheitsgefährdenden Folgen des Individualverkehrs in unseren Städten aber stärker als Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche betroffen, weil sie oft an Hauptverkehrsstraßen und in überdurchschnittlich belasteten Quartieren wohnen. Extrem umwelt- oder klimaschädlicher Luxuskonsum sollte nicht verteuert, muss vielmehr mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen (Verboten, Sanktionen und Strafen) unterbunden werden. Mit einer Ökodiktatur hat dies m.E. nichts zu tun.

Mehr dazu: