Was den sozialen Zusammenhalt gefährdet | Christoph Butterwegge

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächstFoto: Elyse Chia | unsplash

 

Was den sozialen Zusammenhalt gefährdet

Text: Christoph Butterwegge

Als „Ungleichheitsvirus“ wurde Corona beschrieben: Die Pandemie trifft finanziell schwache soziale Gruppen besonders hart. Das Virus selbst ist aber egalitär, es behandelt eigentlich alle gleich. Es ist die gesellschaftliche Ungleichheit, die bestimmte soziale Gruppen in Krisen einer größeren Gefährdung aussetzt. Nichts gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt so stark wie die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich. Und sie bedroht auch die Demokratie.

Seit geraumer Zeit vertieft sich hierzulande wie beinahe auf der ganzen Welt die Kluft zwischen Arm und Reich. Wenn die wachsende Ungleichheit in der politischen, Medien- und Fachöffentlichkeit überhaupt thematisiert wird, ist diese zumeist auf die Einkommensverhältnisse fixiert, obwohl sie im Grunde erheblich weniger relevant und aussagekräftig sind als die Vermögensverhältnisse. Deren Ungleichheit hat sich aufgrund des Finanzialisierungsprozesses im 21. Jahrhundert sogar noch verstärkt.

Ungleichheit und Macht

Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge entfallen heute 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent des Nettogesamtvermögens konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens. Errechnet wurde auf dieser Basis ein Gini-Koeffizient von 0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. 0,83 entspricht fast dem US-amerikanischen Vergleichswert, der üblicherweise mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.

Berücksichtigt werden muss nicht bloß die Quantität des Vermögens, sondern auch seine Qualität. Letztlich entscheidet nämlich die Struktur des Vermögens darüber, welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume es seinen Eigentümer*innen bietet. Denn selbst wenn jemand viel Bargeld auf dem Dachboden hortet, weil er den Banken misstraut, besitzt er keine Macht über andere Menschen, wohingegen der Besitz von Unternehmen oder Unternehmensanteilen (Aktien) den Kapitaleigentümer*innen ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Ähnliches gilt für das Privateigentum an Immobilien sowie an Grund und Boden. Nur wenn zwischen Geld- und Sachvermögen, vor allem jedoch zwischen Betriebs-, Immobilien- und Finanzvermögen differenziert wird, kann man die Vermögensverteilung innerhalb einer Gesellschaft fundiert beurteilen.

Über die genaue Verteilung des Produktivvermögens ist hierzulande so gut wie nichts bekannt, obwohl diese Vermögensart die Sozialstruktur der Gesellschaft entscheidend prägt. Die kapitalistischen Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse lassen sich nur erschließen, wenn mehr über die entsprechenden Vermögensbestände bekannt wäre. Hierzu müssten das Bank- und das Steuergeheimnis aufgehoben werden sowie alle Informationen zu Privatstiftungen im In- und Ausland, aber auch zu in „Steueroasen“ wie den Bahamas, den Bermudas oder den Kanalinseln transferierten Vermögen vorhanden sein.

Der Neoliberalismus ist das Ungleichheitsvirus

Da sich die sozioökonomische Ungleichheit nicht darauf beschränkt, dass die Mitglieder einer Gesellschaft unterschiedlich viel besitzen oder unterschiedlich hohe Einkommen haben, sondern in sämtlichen Lebensbereichen ihre Spuren hinterlässt, sind auch Gesundheit, Wohnen, Bildung, Kultur und Freizeit von der wachsenden Ungleichheit betroffen. Deutlich wie selten zeigte sich während der Covid-19-Pandemie, dass die Menschen sehr unterschiedliche Lebensbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten haben. Erkennbar wurde, dass ein großer Teil der Bevölkerung trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine „klassenlose“ Gesellschaft mit gesichertem Wohlstand all ihrer Mitglieder, in der Krisenphase der Pandemie nicht einmal für wenige Wochen ohne ungeschmälerte Regeleinkünfte auskommt.

SARS-CoV-2 ist aber kein „Ungleichheitsvirus“, wie oft behauptet wurde, sondern behandelt, was seine Infektiosität angeht, prinzipiell alle Menschen gleich. Deren zum Teil extrem ungleiche Arbeits- und Lebensbedingungen, Gesundheitszustände sowie Einkommens-, Vermögens- und davon abhängige Wohnverhältnisse bewirken jedoch, dass sich die Infektions-, Erkrankungs- und Mortalitätsrisiken der einzelnen Berufsgruppen, Bevölkerungsschichten und Gesellschaftsklassen stark voneinander unterscheiden. Dafür ist nicht das Virus, sondern die Gesellschaftsstruktur bzw. das kapitalistische Wirtschaftssystem verantwortlich. Dieses setzt bestimmte Gruppen der Gesellschaft einer größeren Gefährdung aus, wodurch die Gesellschaft als ganze krisenanfälliger wird.

Das wahre Ungleichheitsvirus ist der Neoliberalismus – ursprünglich eine den Markt glorifizierende Wirtschaftstheorie, die zu einer Sozialphilosophie, Weltanschauung und politischen Zivilreligion des Antiegalitarismus geworden ist. Galt der soziale Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Klassen und Schichten früher als Primärziel staatlicher Politik, so steht heute den Siegertypen alles, den „Leistungsunfähigen“ bzw. „-unwilligen“ nach offizieller Lesart hingegen nichts zu. Es zählt nur der ökonomische, sich möglichst in klingender Münze auszahlende Erfolg.

Während der Covid-19-Pandemie hat sich die Ungleichheit daher weiter verschärft: Hyperreiche wurden reicher und die Armen zahlreicher. Zu den Hauptprofiteuren gehörten einige der profitabelsten Unternehmen mit den reichsten Chefs. So wuchs das Privatvermögen von Dieter Schwarz, dem Eigentümer der Lebensmittel-Discounter Lidl und Kaufland, wo Millionen Krisenopfer wegen pandemiebedingter Einkommensverluste einkaufen mussten, laut dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes um 7,5 Milliarden US-Dollar. Viele kleine Einzelhändler*innen haben wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kundschaft hingegen ihre Existenzgrundlage verloren. Nicht zuletzt deshalb erreichte die Zahl der Einkommensarmen bzw. Armutsgefährdeten im Jahr 2020 den Rekordstand von 13,4 Millionen Menschen, was 16,1 Prozent der Bevölkerung entsprach.

Profitierten zahlreiche Unternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von den staatlichen Überbrückungshilfen, Krediten und Bürgschaften, so mussten sich die Finanzschwachen mit erheblich weniger großzügigen Fördermaßnahmen bescheiden, als sie der Wirtschaft zugutekamen. Da bei Wohnungs- und Obdachlosen, Geflüchteten und Grundleistungsbezieher*innen keine milliardenschweren Hilfspakete und Rettungsschirme ankamen, nahm ihre Armut während der historischen Ausnahmesituation noch zu.

Das agora42-Probeabo

Testen Sie agora42 mit unserem Probeabo!

Sie erhalten zwei Ausgaben für 22€ – sowie unser Heft GESELLSCHAFTLICHER WANDEL? gratis dazu!

Durch die Republik verläuft ein Riss

Wenn sich eine Gesellschaft stärker in Arm und Reich spaltet, gehört ihr sozialräumlicher Zerfall zu den alarmierendsten Folgen, denn gravierende materielle Ungleichheit spiegelt sich auch in der Raum-, Stadt- und Regionalstruktur wider. Deutlich wie nie zuvor schlägt sich die Klassen- bzw. Schichtstruktur heute im Stadtbild der Bundesrepublik nieder, wenn auch von lokalen Traditionen und kulturellen Besonderheiten gebrochen und durch weitere Einflussfaktoren modifiziert. Durch die Bundesrepublik verläuft ein deutlicher Riss, der sie in wohlhabende und abgehängte Regionen, Kommunen und Stadtviertel teilt. Zu beobachten ist außerdem, was man eine sozioökonomische Sezessionsbewegung nennen kann: Während die Einkommensschwachen, Geringverdiener*innen und Transferleistungsbezieher*innen in die Hochhausviertel am Rand der Großstädte abgedrängt werden, weichen die materiell Bessergestellten in gute und separate Wohnviertel bis hin zu Gated Communitys aus. Sie ziehen sich aus freien Stücken in eine Parallelwelt zurück, die Privilegierten vorbehalten bleibt und der eine ganz andere Welt gegenübersteht, die nicht selbstgewählt ist und der Unterprivilegierte nur schwer entfliehen können. Allzu oft verstellt der mediale Fokus auf die digitalen Parallelwelten die Sicht auf die analogen.

Nichts gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt so stark wie die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich. Die extreme Ungleichheit bedroht auch die Demokratie, und zwar aus drei Gründen: Erstens bilden Hyperreiche im Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart eine abgehobene und abgeschottete Elite, die massiv Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess nimmt. Zweitens motiviert die Angst vor materiellen Verlusten und dem sozialen Abstieg viele Mittelschichtangehörige, den etablierten Parteien prinzipiell zu misstrauen und sich politisch umzuorientieren. Davon profitieren hauptsächlich Rechtsextremist*innen und -populist*innen, die auf perfide Art das parlamentarisch-demokratische Repräsentativsystem untergraben. Drittens wenden sich Arme enttäuscht von der Demokratie ab, gehen nicht mehr wählen und beteiligen sich generell immer seltener an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen. So kommt es zu einer Krise der politischen Repräsentation großer Bevölkerungsteile und einem Teufelskreis, weil sich regierende Politiker*innen, Parlamentarier*innen und Parteien noch weniger um die Probleme der sozial Benachteiligten kümmern, was diese ihnen wiederum noch stärker entfremdet.

Entdemokratisierung der Gesellschaft

Die fortschreitende Entsolidarisierung führt zwangsläufig zu einer weiteren Entdemokratisierung der Gesellschaft. Durch die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben sich der Sozialstaat, wie man ihn bis dahin kannte, und die deutsche Gesellschaft insgesamt merklich verändert. Gleichwohl ist die Öffentlichkeit für den damit verbundenen Wertewandel und den dramatischen Verlust an Lebensqualität kaum sensibel: Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen auf noch größere Ressentiments, wohingegen Markt, Leistung und Konkurrenz zentrale Bezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden sind. Heute findet die Maxime „Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt“ erheblich mehr Widerhall als bis zur Jahrtausendwende. Daran haben die Solidaritätsappelle von Spitzenpolitiker*innen, Nachbarschaftshilfen für vulnerable Bevölkerungsgruppen und Beifallsbekundungen für unterbezahlte, aber „systemrelevante“ Arbeitskräfte auf zahlreichen Balkonen wenig geändert, wenn sie in der pandemischen Ausnahmesituation vielleicht auch gut gemeint waren. Stattdessen wären eine auf mehr soziale Gleichheit gerichtete Regierungspolitik, die Schaffung eines inklusiven Sozialstaates, der alle Bevölkerungsschichten an seiner Finanzierung beteiligt und niemanden ausgrenzt, sowie die Umverteilung des Reichtums durch eine andere Steuerpolitik nötig.

Dieser Beitrag ist in Ausgabe 2/2022 RESILIENZ in der Rubrik TERRAIN erschienen. Darin werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Christoph Butterwegge
Christoph Butterwegge war von 1998 bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Mit seiner Frau Carolin Butterwegge hat er zuletzt das Buch Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt (Campus) veröffentlicht, überdies im Papyrossa Verlag Ungleichheit in der Klassengesellschaft sowie Armut (alle 2021).
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Bernd Ingmar Gutberlet: Heimsuchung. Seuchen und Pandemien: Vom Schrecken zum Fortschritt, (Europaverlag, 2021)
FILM
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush von Andreas Dresen (2022)
ROMAN
Kim Stanley Robinson: Das Ministerium für die Zukunft (Heyne Verlag, 2021)

Diese Ausgaben von agora42 könnten Sie auch interessieren: