Wir müssen reden! Plädoyer für eine transformative Gesprächskultur | Viola Gerlach & Sebastian Möller

SilhouettenFoto: Harli Marten | Unsplash

 

Wir müssen reden!

Plädoyer für eine transformative Gesprächskultur

Text: Viola Gerlach & Sebastian Möller

Dass sich Gesellschaft und Wirtschaft mitten in einer Umbruchsituation befinden, steht außer Frage. Doch wie wir damit umgehen, ist umstritten. Angesicht der Tragweite und Dringlichkeit der Herausforderung des Klimawandels erscheinen weder ein bedingungsloses Zutrauen in vermeintlich marktwirtschaftliche Innovationskräfte noch moralische Überlegenheitsgefühle gegenüber als nicht nachhaltig genug gebrandmarkten Unternehmer*innen und Konsument*innen besonders hilfreich oder zielführend. Beide Positionen verzichten auf den offenen Dialog, reduzieren Komplexität, stereotypisieren ein vermeintliches Gegenüber und tragen dadurch zur gesellschaftlichen Spaltung bei.

Eine gespaltene und gesprächsunfähige Gesellschaft wird aber die Kraft für eine nachhaltige sozial-ökologische Transformation nicht aufbringen können. In der Dialogbereitschaft und -fähigkeit insbesondere zwischen Entscheidungsträger*innen in der Wirtschaft von heute und den Gestalter*innen der Wirtschaft von morgen liegt daher eine zentrale Bedingung für erfolgreichen Wandel. Transformationsdialoge können im Kleinen und Großen an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Formaten stattfinden.

Mindestens drei Gründe sprechen aus unserer Sicht für eine neue Gesprächs- und Lernkultur. Erstens gibt es kein fertiges Patentrezept für eine gelingende Transformation, aber eine enorme Vielfalt transformativer Ideen und Praktiken. Davon erfahren und daraus lernen wir nur im Dialog. Transformative Unternehmungen sind oft dann besonders erfolgreich, wenn sie eine offene und reflexive Organisationskultur pflegen und neue Pfade einschlagen, von denen sie anfangs noch gar nicht wissen können, ob und wie sie zum Ziel führen. Diese suchende Grundhaltung akzeptiert nicht nur, dass andere Akteure andere Pfade einschlagen, sie begrüßt es sogar ausdrücklich, denn in der Vielfalt von Wegen zum gemeinsamen Ziel einer klimaneutralen und solidarischeren Wirtschaft erkennt sie eine Stärke. In diesem Sinne kann eine neue Gesprächskultur dazu beitragen, die Vielfalt des Wirtschaftens sichtbar zu machen, Stereotype abzubauen und neue Transformationspfade aufzuspüren. Ernsthafte Verständigungsprozesse haben schließlich die Kraft, wahrhaft Innovatives hervorzubringen.

Zweitens erzwingt die vielbeschworene Verbindung von Theorie und Praxis geradezu einen kontinuierlichen Austausch zwischen akademischem Wissen und gelebtem ökonomischen Erfahrungswissen. Gerade weil in der Transformation viele etablierte Annahmen und Modelle hinterfragt und neue Ideen erprobt werden müssen, brauchen Zukunftsgestalter*innen eher problemorientierte Handlungs-, Gestaltungs- und Kommunikationskompetenzen sowie analytische Fähigkeiten als einen festen Wissenskanon. Das transdisziplinäre Lernen kommt dabei aber nicht ohne eine echte Gesprächsbereitschaft mit vielfältigen Wirtschaftsakteuren aus: vom benachbarten solidarischen Gärtnereikollektiv über das mittelständische Familienunternehmen, den städtischen Verkehrsbetrieb und das hippe Start-up bis hin zum börsennotierten Großkonzern. Das setzt auch die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, Konflikte auszuhalten und konstruktiv zu bearbeiten.

Drittens ist eine umfassende sozial-ökologische Transformation in der knappen noch zur Verfügung stehenden Zeitspanne kaum ohne oder gegen die großen Unternehmen zu haben. Die Gründung neuer solidarischer und nachhaltiger Unternehmungen ist zwar ein zentraler Baustein des Wandels, erweitern doch gerade diese Pionier*innen eines anderen Wirtschaftens unsere ökonomischen Denk- und Möglichkeitsräume. Die Transformation des heutigen Wirtschaftssystems wird jedoch nur gelingen, wenn diese neuen Formen des Wirtschaftens auch anschlussfähig für aktuell noch konventionell wirtschaftende Unternehmen werden. Es kann uns eben nicht egal sein, ob und wie sich Konzerne auf den Weg der sozial-ökologischen Transformation machen, auch weil angesichts ihrer Größe und Bedeutung in globalen Wertschöpfungsketten oft schon kleinere Veränderungen einen enormen Unterschied machen können.

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Dabei geht es keinesfalls um eine Entradikalisierung der Forderungen der jungen Generation, denn angesichts der großen Herausforderung brauchen wir in der Tat radikale Veränderungen des Wirtschaftens. Vielmehr kann eine neue Gesprächskultur die transformative Wirksamkeit der Gesellschaftsgestalter*innen von heute und morgen durch neue Erkenntnisse, bessere Vernetzung und Persönlichkeitsentwicklung erhöhen. Es müssen nicht alle mit allen gesprächsbereit sein, aber wenn wir alle den Kreis unserer Gesprächspartner*innen schrittweise erweitern, wäre das sicherlich eine gute Nachricht für die sozial-ökologische Transformation.

Wir haben in unseren Seminaren Erfahrungen mit gelungenen und weniger gelungenen Transformationsdialogen zwischen Studierenden und Unternehmer*innen gemacht. Wir wurden dabei von den Studierenden in Kontexten herausgefordert, die wir als unproblematisch eingestuft hatten, und wurden überrascht von Begeisterung und Offenheit, wo wir Konflikte erwartet hatten. Eine wichtige Erkenntnis betrifft dabei die emotionale Dimension: Transformation ist etwas Fundamentales und Tiefgreifendes, sie berührt unser tiefstes Inneres, unsere Emotionen, Erfahrungen und Werte. Wissenschafts- und Wirtschaftssystem sind aber mehrheitlich darauf programmiert, Emotionen als „schwach“ und „unerwünscht“ abzutun. Doch genau diese Haltung hindert uns oft daran, konstruktiv in die Vielfalt des Transformationsprozesses einzusteigen. Unbekanntes oder als unangenehm Abgespeichertes wird weggedrückt und verliert dadurch die Kraft der Aufforderung zur gemeinsamen Entwicklung.

Genau das müssen wir jedoch überwinden bzw. gemeinsam durchschreiten. Wir brauchen mehr positive Erfahrungen über gemeinsam gemeisterte Konflikte. Denn genau diese sind essenziell für die Transformation und machen sie spannend. Dafür müssen wir aber etwas loslassen: Absolutheitsansprüche. Wer absolute Wahrheitsansprüche hat, zerstört Offenheit und macht Verstehen als Basis gemeinschaftlichen Gestaltens unmöglich. Dies zu überwinden, erfordert eine Haltung, die einen Blickwinkel über die eigenen Perspektive hinaus nicht nur ermöglicht, sondern als echte Bereicherung anerkennt und anstrebt.

Wie wir dahin kommen, ist auch für uns noch eine offene Frage und wir wünschen uns darüber einen produktiven und gerne auch kontroversen Austausch mit Studierenden, Kolleg*innen und Unternehmer*innen. Was wir aber jetzt schon wissen ist, dass wir kontinuierlich an unserer Gesprächsbereitschaft und -fähigkeit arbeiten müssen. Leider kommt dies in vielen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen und Unternehmen noch viel zu kurz. Daher wollen wir mit diesem Beitrag einen Appell an Studierende, Lehrende, Hochschulen und Akteure aus konventionellen und transformativen Unternehmen richten: Lasst euch auf das konstruktive Gespräch über die sozial-ökologische Transformation auch und gerade mit Gesprächspartner*innen außerhalb eurer vertrauten Kreise ein! Schafft dafür die notwendigen Räume und Anlässe! Begreift Konflikte als Lerngelegenheit! Begegnet euren Gesprächspartner*innen mit aufrichtigem Interesse und ohne Absolutheitsansprüche! Redet nicht nur miteinander, sondern schafft Begegnungen mit Mehrwert!

Anregungen für eine transformative Gesprächskultur

✔     klare und transparente Zielstellung und Fokus auf konkrete Fragen
✔     Bereitschaft zum Perspektivenwechsel und zum Verstehen anderer Positionen
✔     aufrichtiges Interesse an den Werten, Ideen, Visionen und Erfahrungen der Beteiligten
✔     Neugier auf konkrete Transformationspraktiken und -bedingungen
✔     Lernbereitschaft, die Vor-Urteile explizit zur Disposition stellt
✔     gegenseitige Anerkennung guter oder zumindest legitimer Absichten
✔     Unterschiede akzeptieren und auf das Ziel der vollständigen Einigung verzichten
✔     Unsicherheit und Ratlosigkeit zulassen und zugeben
✔     Kontroversen und kritische Fragen als Chance statt als Risiko verstehen
✔     Machtasymmetrien offenlegen und einhegen
✔     Empathie für die Bedürfnisse, Gefühle und Stimmungen aller Beteiligten
✔     auf unsachliche einseitige Vorwürfe und persönliche Angriffe verzichten
✔     Spannungen aushalten und konstruktiv mit Konflikten umgehen
✔     Aufmerksamkeit für im Gespräch gewonnene Erkenntnisse sowie veränderte Wahrnehmungen und Einschätzungen
✔     auf Spielregeln und Umgangsformen und eine Moderation einigen, die das Einhalten dieser Regeln sowie die Sachorientierung sicherstellt
✔     Inhalt und Form des Dialogs mit dem Ziel reflektieren, Gelerntes festzuhalten und wirksam werden zu lassen, nächste Schritte zu identifizieren und im Gespräch zu bleiben
Dieser Beitrag ist in agora42 4/2021 KAPITAL in der Rubrik WEITWINKEL erschienen.
In der Rubrik WEITWINKEL werden plurale und kritische Perspektiven auf aktuelle ökonomische und wirtschaftspolitische Themen präsentiert. Denkgefängnisse, in denen wir in politischen und alltäglichen Debatten oft unwillkürlich gefangen sind, sollen aufgezeigt und deren Mauern gesprengt werden. So soll sich der Blick auf das Neue, das Ungewöhnliche und durchaus auch Unbequeme weiten.
In WEITWINKEL stellen Professorinnen und Professoren sowie Mitarbeitende der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung ihre Vision einer lebensdienlichen Wirtschaft und Gesellschaft vor. Die noch junge Hochschule will ihren Studierenden das Wissen, Können sowie die persönliche Stärke vermitteln, damit sie die sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen der Gegenwart aktiv überwinden können. Dafür rückt sie in ihren Studiengängen statt abstrakter Fachdisziplinen die konkreten Probleme der heutigen Welt in den Vordergrund und arbeitet mit ihren Studierenden inter- sowie transdisziplinär an Lösungen.
Viola Gerlach
Viola Gerlach ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam, Gründerin eines werteorientierten Unternehmensnetzwerkes, Lehrbeauftragte und Mitglied im Advisory Board an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung sowie Mitgestalterin der Initiative „Die Wirtschaft von Morgen“.
Sebastian Möller
Sebastian Möller ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökonomie der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Dort wirkt er als Studiengangskoordinator, Dozent und in der Initiative „Die Wirtschaft von Morgen“ für transdisziplinäres Lernen sowie die Befähigung und Vernetzung von Zukunftsgestalter*innen.

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