„Wir sind komplett wirtschaftsverwahrlost“ | Interview mit Christopher Lauer

Pappschild: Why Aren't We Changing?Foto: Markus Spiske | Unsplash

 

„Wir sind komplett wirtschaftsverwahrlost“

Interview mit Christopher Lauer (gekürzt)

Herr Lauer, angesichts einer sich am Alten festklammernden Gesellschaft haben Sie kritisch angemerkt: „Das 20. Jahrhundert ist endgültig vorbei.“ Und: „Die Weltordnung, wie sie mal nach dem Zweiten Weltkrieg entstand (…), die ist jetzt wirklich weg.“ Das hört sich nach Schiller an: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit.“ Ist das Neue schon zu sehen – oder sehen wir gerade nur das Alte zerbröseln?

Ein bekanntes Zitat des Science-Fiction-Autors William Gibson lautet: „The future is already here, it’s just not evenly distributed.“ Das bringt es auf den Punkt. Vor ein paar Wochen war ich in Südkorea, dort ist schon mehr Zukunft als in Deutschland – zum Beispiel, was den Umgang mit digitalen Technologien oder die Verfügbarkeit von schnellem Internet angeht. Aber der Satz „Das 20. Jahrhundert ist endgültig vorbei“ drückt ja nicht nur Versäumnisse im Sinne von „Oh, darüber hätte mal jemand früher nachdenken müssen“ aus. Es geht um ein grundlegendes Problem, nämlich: „Darüber wurde überhaupt nicht nachgedacht.“ Das politische und gesellschaftliche System Europas und Deutschlands ist total festgefahren. Die Leute, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs das Grundgesetz geschrieben und die europäische Vereinigung vorangetrieben haben, hatten die Kriege in Europa vor Augen: Zweiter Weltkrieg, davor Erster Weltkrieg, Deutsch-Französischer Krieg, immer irgendwelche bewaffneten Konflikte. Also war man nach diesen Schrecken darauf erpicht, eine – dem Anspruch nach globale – Friedensordnung herzustellen. Was man sich jedoch nicht überlegt hat, war: „Was machen wir, wenn das funktioniert? Was machen wir, wenn es 70 Jahre lang Frieden und Wohlstand gibt?“ Und so geht es heute in Europa vor allem darum, den ganzen alten Krempel irgendwie am Laufen zu halten. Wenn Sie sich die Technik, die wir im Alltag nutzen anschauen, dann ist das gefühlt zu 80 Prozent Maintenance. Man hat hier in Europa immer noch die Vorstellung: „Wir sind modern, wir sind das Neue, wir geben den Ton in der Welt an.“ Das Gefühl habe ich nicht. Das Neue passiert anderswo. Gucken Sie sich doch an, was zum Beispiel China mit seiner „Belt & Road“-Initiative macht.

Sie haben gerade gesagt, dass Teile der Zukunft schon im Bestehenden existieren. Gilt das auch für die Politik? Gibt es also im Moment konkrete politische Vorhaben, die schon Zukunft in sich tragen?

Nein, denn innovative politische Ansätze müssten sich drei großen Herausforderungen stellen: Erstens der Frage, wie wir die Klimakatastrophe so in Bahnen lenken können, dass 2100 noch Menschen in nennenswerter Zahl leben. (…)

Die zweite Herausforderung ist, dass die europäischen Gesellschaften endlich einen befriedigenden Umgang mit großen Internetplattformen finden müssen. Wenn Sie sehen, wie Facebook demokratische Gesellschaften zersetzt, dann müsste man darüber diskutieren, ob sogenannte soziale Netzwerke überhaupt privatwirtschaftlich betrieben werden dürfen. Oder ob sie nicht wie Infrastruktur behandelt werden sollten, also wie eine Autobahn oder Schulen. (…)

Die dritte Herausforderung ist der wiederaufkeimende Faschismus in Deutschland und Europa. Wenn Sie sich angucken, wie Faschisten in vielen europäischen Ländern Pseudo-Konflikte immer weiter eskalieren, habe ich große Zweifel, dass dies noch auf friedliche Art und Weise zu lösen ist. Das ist wieder eng verknüpft mit der Frage, wie wir mit sogenannten sozialen Netzwerken umgehen. Auf Facebook schlägt dir der Algorithmus irgendwelche – man muss es so sagen – Vollidioten vor. Früher gab es in jedem Dorf den Dorfnazi, der nach dem 20. Bier in der Dorfkneipe „Heil Hitler“ gesagt hat. Und dann wurde er einfach nach Hause geschickt. Heute werden dir, wenn du einmal die Pegida-Facebookseite geliked hast, Nazis oder Reichsbürger als „Freunde“ vorgeschlagen. Das bedeutet: Facebook liefert eine kostenlose Infrastruktur, die Faschisten, Nazis und Rechtsradikale weltweit nutzen, um sich kennenzulernen, sich zu organisieren und ihre Ideologie zu verbreiten. Damit stacheln sie dann die Bevölkerung auf. Das ist eine Vollkatastrophe.

Also: Ich sehe keine politische Kraft, die diesen Herausforderungen gewachsen ist. Da geht es ja nicht nur um Management, nicht nur um das Drehen an ein paar Stellschrauben. Sondern da geht es um politische Visionen und um die Frage, wo sich eine Gesellschaft hinbewegen soll. Darüber findet keine Diskussion statt.

(…)

Noch einmal kurz zur Politik: Was hält Politiker eigentlich davon ab, endlich Reformen durchzusetzen?

Politikerinnen und Politiker, mit denen ich über diese Themen gesprochen habe, imaginieren sich immer einen Bürger, der es ganz furchtbar findet, wenn das Schnitzel oder das Autofahren teurer werden. Dieser imaginierte Gegner einer progressiven Klimapolitik wird im nächsten Schritt zum Maß aller Dinge: Jahrelang wurde uns erzählt, dass wir auf die nächste Lohnrunde verzichten müssen, dass eben alle den Gürtel enger schnallen müssen, denn die Wirtschaft oder die Banken oder das Wachstum waren wichtiger. Angesichts der Klimakatastrophe entdeckt die Politik auf einmal die Menschen, denen es der Kapitalismus 30 Jahre lang so richtig besorgt hat, und behauptet, man könnte diesen Menschen einen klimafreundlichen Lebenswandel nicht zumuten. Das ist natürlich Bullshit. Das ist eine sonderbare Form der Selbstbeschränkung und auch ein bisschen zynisch. Ob es diesen Bürger überhaupt gibt, danach wird gar nicht mehr gefragt.

(…)

Stichwort paradox: Rein vernünftig betrachtet, ist es nicht nachzuvollziehen, warum man nicht entschlossener handelt. Es ist ja verrückt: Viele klopfen den jungen Leuten anerkennend auf die Schultern und loben ihr Engagement – und dann buchen sie den nächsten Flug oder kaufen ein Auto. Ist es vielleicht so, dass das, was wir leichthin als „Kapitalismus“ bezeichnen und oft bloß als rationales Wirtschaftssystem begreifen, tiefer geht und – worauf ja insbesondere Walter Benjamin hingewiesen hat – religiöse Züge trägt?

Es ist ein großes Problem, dass der Kapitalismus als alternativlos angesehen wird und mit ihm vor allem positive Dinge verbunden werden. Fragen Sie mal einen Indonesier, der auf einem aus Europa importierten Berg Plastikmüll lebt und diesen nach verwertbaren Gegenständen durchsucht, was er so vom Kapitalismus hält! Wenn man sich anschaut, unter welchen Bedingungen das produziert wird, was wir tagtäglich konsumieren, dann ist Kapitalismus etwas, das nur für einen Bruchteil der Menschheit wirklich gut funktioniert.

Wir haben gar keine Sprache dafür, das Problem richtig in Worte zu fassen. Vielleicht so: Wir sind komplett wirtschaftsverwahrlost. Einfach alle. Es findet überhaupt keine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, den Produktionsbedingungen und der Frage statt, wie wir leben wollen. Es stellt auch niemand die Frage, wie wir wirtschaften wollen, was der ganze Überfluss eigentlich soll und ob die Technologien, die wir benutzen, mehr Nutzen als Schaden anrichten. Wenn ich ein Kaufhaus betrete, frage ich mich oft, wer das ganze Zeug, teilweise einfach Schrott, der nach etwas mehr als zwei Jahren kaputt geht, kaufen soll. Oder überlegen Sie, wie viel Zeug in unseren Wohnungen rumsteht, das einfach irgendwann gekauft wurde und dann, na ja, rumsteht. Ich bin jetzt keine Marie Kondo, ich predige nicht den Verzicht. Aber es findet überhaupt keine Debatte darüber statt, was wir mit dem ganzen Zeug eigentlich wollen oder wofür wir es brauchen.

(…)

Über technische Innovationen haben wir bereits gesprochen. Aber müsste man heute nicht viel eher auf soziale Innovationen setzen – gerade angesichts der von Ihnen angesprochenen Probleme, die vorhandenen technischen Innovationen überhaupt zu nutzen?

Technische Innovationen wird es immer geben, weil es immer genug Nerds gibt, die sich in ein bestimmtes Thema so richtig hineinfuchsen und die Dinge, für die sie sich interessieren, in irgendeiner Form effizienter, schöner oder besser machen wollen. Bei den sozialen Innovationen fragen Sie natürlich den Richtigen! Ich werde Ihnen da sicher nicht widersprechen, dass wir die brauchen. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen reizte mich an den Piraten besonders, da steckte so viel drin. Natürlich kommt es auf die Ausgestaltung an, zum Beispiel als Grundrecht auf gesicherte Existenz und gesellschaftliche Teilhabe. Ein bedingungsloses Grundeinkommen hätte den großen Vorteil, Menschen vom Zwang zu entkoppeln, jeden Deppenjob annehmen zu müssen. Die einzige Firma, die das während des Piratenhypes wirklich ernst nahm, war zu meiner Überraschung McDonalds. Die fragten während eines Treffens: „Wer will denn dann noch für uns arbeiten?“ Ich erwiderte: „Weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich Leute, die mehr als 1.000 Euro im Monat verdienen wollen.“ Ich bin kein Freund davon, alle Sozialsysteme abzuschaffen und dafür dann ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Aber ich denke, dass es eine solche Grundsicherung in irgendeiner Art und Weise braucht – zumindest für den Fall, dass man arbeitslos wird. Und sie sollte nennenswert höher sein als das, was jetzt als Existenzminimum bezeichnet wird.

Und über das bedingungslose Grundeinkommen hinaus?

Das ist ja eng miteinander verknüpft: Einmal wird Kapitalismus nicht hinterfragt und weil er nicht hinterfragt wird, erscheint jedes andere System unmöglich. Mir geht es nicht anders, bis aufs Grundeinkommen fällt mir jetzt spontan grad auch nichts ein. Wobei das Grundeinkommen schon ein krasser Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik wäre. Ich würde aber sagen: Es muss ja noch was anderes geben außer Ich-AG und 30 Nebenjobs, die du in der Gig-Economy über noch mehr Apps organisieren musst. Ich weiß nicht, ob es Untersuchungen zu inhabergeführten Unternehmen wie Trigema gibt und ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter solcher Firmen glücklicher sind. Aber ich finde es beeindruckend, mit welcher Aufopferung in solchen Unternehmen Verantwortung im klassischen Sinne übernommen wird und wie sich Angestellte im Gegenzug für diese Unternehmen aufopfern. Das World Economic Forum hat 2016 eine Studie herausgebracht, derzufolge die Millennials, also die Leute, die etwa ab 1980 geboren sind, die erste Generation in den Industrieländern seit 70 Jahren sind, die es ökonomisch mal schlechter haben wird als ihre Eltern. Das hätte zum Beispiel ein schöner Anlass sein können, den Kapitalismus in seiner Legitimation als Wirtschaftsform zu hinterfragen.

(…)

Porträtfoto von Christopher LauerChristopher Lauer (Foto: Daniel Hofer), Jahrgang 1984, wuchs in Bonn auf. Ab der elften Klasse studierte er im Förderprogramm „Fördern, Fordern, Forschen“ der Universität Bonn neben der Schule Physik. 2006 begann er an der TU Berlin ein Studium der Kultur und Technik mit Schwerpunkt Wissenschafts- und Technikgeschichte. 2008 verbrachte er an der Zhejiang Universität in China. 2009 trat Lauer der Piratenpartei bei, deren politischer Geschäftsführer er von Mai 2010 bis Mai 2011 war. Hier verantwortete er die Einführung des Systems LiquidFeedback auf Bundesebene. 2011 zog er ins Abgeordne- tenhaus von Berlin ein, dem er bis zum Ende der Legislaturperiode im Oktober 2016 angehören sollte. Er war dort zunächst innen- und kulturpolitischer Sprecher der Piratenfraktion und dann Fraktionsvorsitzender. Ab März 2014 war er Landesvorsitzender der Berliner Piratenpartei. Am 18. September 2014 trat er aus der Piratenpartei aus. 2015 war Lauer bei der Axel Springer SE „Leiter strategische Innovation“. Anschließend trat er in die SPD ein, deren Mitglied er von 2016 bis 2019 war. Momentan ist Lauer parteilos. Moritz von Uslar nannte ihn 2016 in der Wochenzeitung Die Zeit den „begnadetsten Politiker seiner Generation“. 2018 beendete er sein Studium der Kultur und Technik mit einer Arbeit über Wernher von Braun. Seit April 2018 macht er seinen Master in Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Berlin. Daneben betätigt sich Lauer publizistisch sowie freiberuflich als Berater und Redner und Internet-Experte.
Dieses Interview ist in Ausgabe 1/2020 zum Thema INNOVATION erschienen.
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2 Gedanken zu „„Wir sind komplett wirtschaftsverwahrlost“ | Interview mit Christopher Lauer

  1. […] Interview mit Christopher Lauer„Wir sind komplett wirtschaftsverwahrlost“ Herr Lauer, angesichts einer sich am Alten festklammernden Gesellschaft haben Sie kritisch angemerkt: „Das 20. Jahrhundert ist endgültig vorbei.“ Und: „Die Weltordnung, wie sie mal nach dem Zweiten Weltkrieg entstand (…), die ist jetzt wirklich weg.“ Das hört sich nach Schiller an: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit.“ Ist das Neue schon zu sehen – oder sehen wir gerade nur das Alte zerbröseln?agora42.de […]

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