Wohlbefinden kostet Geld | Bernd Villhauer

Straßenschild: Wall StreetFoto: Chris Li | Unsplash

 

Wohlbefinden kostet Geld oder

Was wollen wir eigentlich, wenn wir an der Börse Geld anlegen wollen?

Text: Bernd Villhauer

Es wird Zeit für ein Interview. Mein unbändiger Drang, mit Menschen zu reden und etwas von ihnen zu lernen, hat mich diesmal zu Joachim Goldberg geführt, der – wie ich – die Börsen von der Seite betrachtet und sich mit den Motiven und Dynamiken beschäftigt, die gerne übersehen werden: Psychologische Voraussetzungen des Investments, Verhaltensauffälligkeiten von Geldanlegern und die irrationalen Dimensionen der Börse sind sein Thema. „Behavioral Finance“ kann das auch genannt werden. Ich habe Herrn Goldberg ein paar Fragen zu seinem Wissensgebiet gestellt und wieder einmal festgestellt, wie auch Nebenwege ins Zentrum führen können. Über seine Website www.joachim-goldberg.com lässt sich das schön verfolgen. Goldberg ist ein genauer Beobachter der Börsen und in seinen Analysen wird die Marktstimmung wirklich als Stimmung sichtbar.

Herr Goldberg, was leistet Behavioral Finance eigentlich im Börsenalltag?

Noch viel zu wenig. Zumindest gemessen an den Erkenntnissen, die sich aus dem ursprünglichen Bestreben, Ökonomie und Psychologie zusammenzubringen, ergeben. Leider werden manche Produkte aus dem Börsenalltag mit dem Etikett „Behavioral Finance“ versehen, ohne dass allerdings deutlich wird, inwieweit in dem Produkt tatsächlich auch Behavioral Finance enthalten ist. Die Behavioral Finance bietet immer noch nicht – was ich mir eigentlich gewünscht hätte: Einen ganzheitlichen, praxisorientierten Ansatz, Finanzmärkte zu analysieren.

Was die Selbstdisziplin an den Märkten betrifft, lässt sich beispielsweise feststellen, dass viele Anleger seit einigen Jahren Verluste nicht mehr hemmungslos auflaufen lassen, sondern sich etwa mit einem Stopp-Loss absichern. Bei den Gewinnen lässt sich das leider nicht beobachten – die werden immer noch viel zu schnell mitgenommen.

Außerdem gelingt es den meisten Akteuren immer noch nicht, ihre selektive Wahrnehmung von Informationen abzustellen. Das bedeutet: Sie nehmen vorzugsweise nur die Informationen zur Kenntnis, die zu ihrem Engagement passen und die von ihnen gewählte Strategie bestätigen. Alles, was dem zuwiderläuft, wird hingegen ausgeblendet. Auch wird der Gewöhnungseffekt bei den meisten Menschen, deren Aufmerksamkeit selbst gegenüber schlimmen Nachrichten mit der Zeit abstumpft, regelmäßig unterschätzt. 

Behavioral Finance ist ein Teilbereich der Behaviorial Economics oder Verhaltensökonomie, die Entscheidungsfindungsprozesse in ökonomischen Kontexten untersucht. Grundlegend für den Ansatz ist der Begriff „bounded rationality“ (eingeschränkte Rationalität). Er bezeichnete die Tatsache, dass Entscheidungsprozesse immer nur begrenzt rational getroffen werden. Vollständig rationales Verhalten ist, beispielsweise wegen Zeitmangels, fehlender Informationen oder aus anderen Gründen, nicht möglich.

Der psychologische Ansatz ist also immer noch wichtig, trotz der algorithmengetriebenen Strategien und der wachsenden Bedeutung von ETFs?

Ich sehe eigentlich keinen Widerspruch zwischen der Behavioral Finance und den algorithmengetriebenen Strategien. Sofern diese Strategien die Erkenntnisse der Behavioral Finance auch umsetzen! Das Problem bei den systematischen Handelsansätzen besteht immer noch darin, dass der Mensch versucht, bildlich betrachtet, den Computer vor Verlusten zu schützen. Dabei ist ein Algorithmus eigentlich nichts anderes als die konsequente Umsetzung einer von Menschen entwickelten Strategie. Das Problem ist: Vielen Menschen ist Disziplin zuwider.

Wenn ich etwa den Dispositionseffekt aus der Behavioral Finance in der Praxis vermeiden möchte, wonach Verluste laufen gelassen und Gewinne zu früh realisiert werden, müsste ich nach einer entgegengesetzten Systematik konsequent handeln. Also: Verluste vergleichsweise früh realisieren und Gewinne im Verhältnis dazu viel weiter laufen lassen. In der Konsequenz entstehen damit naturgemäß häufiger kleine Verluste und seltener große Gewinne. Und da Menschen Verluste nach den Erkenntnissen der Behavioral Finance stärker gewichten als Gewinne in gleicher Höhe, wird die systematische Umsetzung dieser Erkenntnis den Menschen zwangsläufig nicht gefallen. Weil sie keinen Spaß macht.

Es geht also immer auch um Spaß, nicht nur um das pure Geldverdienen. Welche Fehler machen Anleger dabei am häufigsten?

Abgesehen vom Dispositionseffekt, gibt es noch zahlreiche Fallen bei der Geldanlage. Aber drei Dinge fallen mir ganz besonders auf:

Zum einen leben wir in einer Welt der Fake News und Halbwahrheiten. Privatanleger wie institutionelle Investoren bevorzugen die einfachen, leicht verfügbaren und auffallenden Nachrichten gegenüber komplexen und nur mit Zeitaufwand zu verarbeitenden Informationen. Dies führt in der Tendenz zwar zu schnellen, aber nicht immer ganz korrekten Wissensgrundlagen für die darauf basierenden Entscheidungen.

Zweitens hat uns gerade die Corona-Pandemie gezeigt, dass es oft nicht reicht, sich allein auf ökonomische Daten bei der Beurteilung von Investments zu verlassen. Vielmehr werden die großen Kapitalströme unterschätzt, die durch die geldpolitischen Lockerungen der Zentralbanken, aber auch durch fiskalpolitische Hilfsprogramme entstanden sind und mancherorts zu starken Verwerfungen geführt haben. Das war gravierender als die Corona-Sorgen, die im vergangenen Jahr an den Aktienmärkten gerade einmal für einen einmonatigen Einbruch der Kurse gesorgt haben.

Das dritte Phänomen ist das oftmals zu starke Vertrauen der Anleger in die eigenen Fähigkeiten. Gerade wenn man an den Finanzmärkten einige Transaktionen in Folge mit einem Gewinn abgeschlossen hat, bildet man sich gerne ein, die Märkte im Griff zu haben. Man wird mutiger, setzt höhere Beträge ein, und am Ende steht oft ein dicker Verlust. Ich denke, die Menschen unterschätzen häufig, dass der Faktor Zufall bzw. Glück an den Finanzmärkten eine ganz große Rolle spielt.

Und doch glauben viele, den Markt bezwingen zu können und lassen sich in die Trading- bzw. Daytrading-Szene hineinziehen, wo mit Kursen und Büchern (aber selten mit Anlagen) Geld verdient wird. Was halten Sie von Daytrading? Warum ist es meist so erfolglos?

Ich selbst kenne nur eine Person, die durch Daytrading wohlhabend geworden ist. Dieser Mensch ist außergewöhnlich diszipliniert gewesen und – das scheint das wahre Geheimnis zu sein – hat seine Gewinne mit gleichbleibenden vergleichsweise geringen Positionen erwirtschaftet. Andere Daytrader wiederum unterschätzen, welchen Einfluss die Positionsgrößen auf den Handelserfolg haben. Und der ist meist am Anfang deswegen groß, weil man Positionsgrößen fährt, die im Vergleich zum Gesamtvermögen des Traders sehr gering sind. D. h., man kann es sich leisten, Gewinne immer schnell mitzunehmen und Verluste gegebenenfalls auch einmal auszusitzen. Viele Daytrader scheiden aber bereits in dieser Phase ihrer Karriere aus, weil sie keinen Erfolg haben. Von denen hören wir auch nichts mehr. Aber die anderen, die vor allen Dingen in der Anfangsphase erfolgreich sind, erhöhen dann ihre Engagements und damit auch ihr Commitment. Oftmals sind es dann schon Einsätze, die bei einem größeren Verlust ein Loch in das Vermögen reißen würden.

Wie schätzen Sie die Entwicklung zum „Finanzpopulismus“ ein (Stichworte: Gamestop und die Chatgruppe „Wallstreet Bets“…)?

Für mich wurde nie ganz klar, was die sogenannten Reddit-Massen tatsächlich antrieb, was ihr Motiv war. Ist es Klassenkampf, der Wunsch nach mehr Moral in den Märkten, oder doch nur die Gier, schnell reich zu werden? Anfangs sprach man von einem Aufstand der Flashmob-Trader, der vielerorts Sympathien geweckt hat, weil es um den Aufstand der Underdogs gegen das Establishment (etwa die Hedgefonds) ging. Manche verglichen dieses Ereignis sogar mit dem Beginn der Französischen Revolution. Eine Revolution, die paradoxerweise von einem der reichsten Menschen der Welt, Elon Musk, durch entsprechende Tweets unterstützt wurde. Das ist genauso verrückt, als wenn beim Aufstand 1789 König Ludwig XVI. die Revoltierenden auf der Straße beim Sturm auf die Bastille angefeuert hätte.

Ähnlich verhält es sich doch mit den Reddit-Tradern. Ökonomische Konsequenzen – seien sie nun gut oder schlecht – spielten dabei anfangs offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Kann man tatsächlich als Kleinanleger mit Hilfe von Schwarmintelligenz durch die Käufe von GameStop-Aktien & Co. im großen Stile Geld verdienen? Viel spricht für ein Schneeballsystem, bei dem nur die ersten, die Initiatoren, richtig profitieren. 

WallStreetBets ist ein Forum auf der Onlineforenplattform Reddit, in dem sich Hobbyanleger*innen über Aktien und Anlagestrategien austauschen.

Wie tricksen Sie sich selbst aus bei Anlageentscheidungen? Müssen Sie das überhaupt?

Ich habe es mir grundsätzlich zum Prinzip gemacht, keine Investments in Bereichen zu tätigen, in denen ich beratend unterwegs bin. Eigene Engagements sorgen für ein entsprechendes Commitment und führen bei Beratern möglicherweise zu starker Befangenheit, weil wir unter dem Einfluss des Engagements das, was zu diesem passt, stark vergrößern und das, was nicht dazu passt – etwa Verluste und deren Ursachen – verkleinern oder gar völlig verdrängen.

Aber die Erkenntnisse der Behavioral Finance, oder weiter gefasst der Behavioral Economics, haben natürlich andere Bereiche meines Lebens stark beeinflusst. Oftmals handelt es sich nur um kleine Veränderungen, die aber bei entsprechender Disziplin große Wirkung zeigen. Allerdings ist ein reines Leben nach den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik anstrengend und macht manchmal auch keinen Spaß. Auch wenn dadurch der Grad der Selbsterkenntnis gesteigert wird, läuft es am Ende auf die Frage hinaus, was man mehr möchte: Wohlbefinden oder Geld? Je wohler wir uns in den Finanzmärkten fühlen, desto weniger verdienen die meisten vermutlich. Und umgekehrt. Wohlbefinden kostet auf jeden Fall Geld.

Herr Goldberg, vielen Dank für das Gespräch!

 

Das sagt uns ein Mensch, der das Auf und Ab der Finanzmärkte seit vielen Jahrzehnten beobachtet! Wie die Liebe in den Zeiten der Cholera bleibt das menschliche Glück im Zeitalter der Finanzialisierungen ein prekäres Gut. Mich hat Herr Goldberg jedenfalls neugierig gemacht, dem weiter nachzugehen. Daher die heroische Entscheidung bei „Finanz & Eleganz“: Keine Sommerpause, sondern bald der ultimative Blogbeitrag zum Finanzpopulismus!

Geschrieben bei einer Tasse Tee am 8.8.21 von Bernd Villhauer
Finanz & Eleganz
Bern Villhauer
Dr. Bernd Villhauer ist Geschäftsführer des Weltethos Instituts Tübingen.
In der Kolumne „Finanz & Eleganz“ geht Bernd Villhauer den Zusammenhängen von eleganten Lösungen, Inszenierungen, Symbolen und Behauptungen einerseits sowie dem Finanzmarkt andererseits nach. Grundsätzliche Überlegungen zu der Kolumne finden Sie in der Einführung.

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