„Demokratie ist weit mehr als wählen“ | Interview mit Tamarah Ehs und Janusz Czech

Polling StationFoto: Elliott Stallion | Unsplash

 

„Demokratie ist weit mehr als wählen“

Interview mit Tamara Ehs und Janusz Czech

Zur Bundestagswahl 2021 zeigte der A.K.T; in Pforzheim die Ausstellung (S)ELECTION. Wahlen und Abstimmungen gehören zu den wesentlichen Merkmalen der Demokratie. Das Volk als Souverän entscheidet, indem es die eigenen Repräsentant*innen in einer organisierten Wahl per Abstimmung legitimiert. Die Wählenden übergeben damit zeitlich befristet die Macht an ihre Vertreter*innen. Jede Stimme zählt gleich viel – so das Ideal.

Was auf den ersten Blick einfach scheint, erweist sich in der Realität oft als ein zäher Vorgang, der mal mehr, mal weniger vom Ideal abweicht. Die Ausstellung (S)ELECTION reflektierte den Prozess und die Rahmenbedingungen demokratischer Wahlen in verschiedenen Ländern heutzutage und setzte sich mit den Vorschlägen auseinander, die die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit verringern sollen.

Zur Vernissage am 22. September 2021 fand online eine Gesprächsrunde mit der Demokratiewissenschaftlerin Tamara Ehs (TE) sowie Janusz Czech (JC), dem künstlerischen Leiter des A.K.T; statt. Das Gespräch moderierte Ana Kugli. Der folgende Text ist ein Auszug aus diesem Gespräch.

 

Tamara, du bezeichnest dich als Demokratiearbeiterin. Inwiefern gilt es, an unserer Demokratie zu arbeiten?

TE: Aufgrund meiner Forschung in den letzten Jahren bin ich immer mehr zu der Erkenntnis gekommen, dass eben nicht alle Menschen zur Wahl aufgerufen sind, und selbst wenn sie aufgerufen sind, sie ihr Wahlrecht nicht gleich wahrnehmen. Außerdem ist Demokratie weit mehr als wählen. Das zu vermitteln und sich einbringen zu wollen, teilhaben zu können, ist tatsächlich Arbeit in dem Sinne, dass man es erst lernen muss. Demokratie ist eine Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben, Rechnen. Das ist uns nicht von Natur aus gegeben.

In deiner Einleitung zum Gespräch hast du gesagt, die Menschen in Deutschland seien aufgerufen, an der Bundestagswahl teilzunehmen. Da muss ich gleich einhaken: Nicht alle Menschen sind aufgerufen. Es gibt etwa zehn Millionen Menschen im Wahlalter, die dauerhaft in Deutschland leben und aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt sind. Dann haben wir rund 14 Millionen Minderjährige, also unter 18-Jährige, die ihre Zukunft jetzt noch nicht mitbestimmen dürfen.

Das ist in der Demokratie immer ein Thema: die Teilhabe zu erweitern. In den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten ging es immer schon darum, das Wahlrecht, die Teilhabe auf diejenigen zu erweitern, die sie vorher nicht hatten.

Ein großes Forschungsthema von mir sind auch jene, die eigentlich das Wahlrecht haben, es aber nicht wahrnehmen. Wir haben bei der letzten Bundestagswahl 2017 gesehen, dass rund 15 Millionen Wahlberechtigte nicht an der Wahl teilnehmen. Wenn wir das alles zusammenrechnen, die nicht Wahlberechtigten und die Nichtwähler*innen, dann sind wir bei fast 40 Millionen, die nach dem Wahltag nicht repräsentiert sind, deren Stimme nicht gehört wird.

 

Bundestagswahl – election – ist ein politisches Thema. Was hat dich, Janusz, dazu bewogen, das von einer künstlerischen Perspektive aus zu beleuchten? Und diesen doppeldeutigen Titel zu wählen: selection / election?

JC: Ursprung des Gedankens war, dass man zunehmend das Gefühl hat, es geht immer weniger um Inhalte. Wir erleben immer mehr einen Wahlkampf, in dem man nicht auf Inhalte, sondern auf Personen fokussiert. Demokratie ist ja nicht einfach so gesetzt. Die Gesellschaft entwickelt sich, die technischen Voraussetzungen entwickeln sich, alles entwickelt sich. Daraus ergeben sich immer neue Herausforderungen an die Gesellschaft und auch an die Form, wie wir zusammenleben. Aus meiner Sicht ist es zwingend notwendig, die Möglichkeit zu erhalten, sich über Inhalte auszutauschen, über gewisse Themen nachzudenken, die oft unbewusst eine Rolle spielen – in unserem Verhalten, auch in unserem Wahlverhalten.

Erfahrungsgemäß waren Künstler*innen immer die ersten, die fliehen mussten, wenn Autokratien oder Diktaturen an der Macht waren. Künstler*innen haben oft eine Sensibilität, sie reagieren auf Veränderungen. Und setzen das dann eben in Kunst um. Oft kommen so Werke zustande, die thematisch der Gesellschaft ein bisschen voraus sind. (…)

 

Tamara, die Demokratie stellen wir uns als gerecht und für alle gleich vor, insbesondere auch bei politischen Wahlen. Inwiefern wählen wir denn gerecht und für alle gleich?

TE: So steht es im Grundgesetz. Meine Kollegin Lea Elsässer hat in ihrer Studie „Wessen Stimme zählt“ gut erforscht, dass die Bevölkerung aber nicht gleich bedient wird seitens der Politik, sondern dass die Einschätzung vieler Menschen, sie fänden in der Politik kein Gehör mehr, tatsächlich eine empirisch belastbare Grundlage hat. Das gilt vor allem für Arbeitslose, Geringverdiener*innen, Arme und Armutsgefährdete. Die sind, wie wir in Studien sehen, in den letzten Jahren und Jahrzehnten weniger vertreten, gehen dadurch auch seltener wählen.

Bei deren Themen orientiert sich die Politik, gerade wenn es um umstrittene Themen geht wie Fragen des Sozialstaats, einer Rentenreform oder Hartz IV, eher an den Meinungen derjenigen Bevölkerungsschichten, die öfter und beständig wählen gehen. Das sind aber die höheren Einkommensschichten, das sind die besser Gebildeten. Das heißt, es werden nicht alle sozioökonomischen Gruppen gleichermaßen bedient. Sie gehen aber auch nicht gleichermaßen wählen. Und gerade in diesem Segment haben wir viele Nicht-Wahlberechtigte. Wir sehen das in den Städten europaweit, in Köln genauso wie in Hamburg, Zürich, Wien und so weiter. Da haben wir tatsächlich manche Bezirke, manche Stadtteile, wo viele Menschen nicht wahlberechtigt sind und dort aber auch viele Nichtwähler*innen leben, weil das Viertel sind, in denen eher Arme, Arbeitslose, sozial benachteiligte, unterprivilegierte Menschen leben. Dort sehen wir übrigens auch ganz wenig Wahlwerbung.

 

Welche Ansätze gibt es, die ins Boot zu holen, die wählen dürfen, rein formal, es aber einfach nicht tun? Gibt es Beispiele aus anderen Ländern, wo das besser funktioniert?

TE: Es gibt auch sehr gute Beispiele aus Deutschland. Es gibt Vereine, die sich um dieses Thema kümmern, die Menschen ermuntern, von denen man weiß, dass sie verfestigte Nichtwähler*innen sind. Und die brauchen eine besondere Ermunterung in dem Sinne, in Staatlichkeit, in politische Repräsentation, in politische Verantwortung wieder Vertrauen zu gewinnen.

In Hamburg gibt es das Projekt „Straßenwahl“, bei dem obdachlose Menschen direkt angesprochen werden. Oder in Bremen und Berlin hat sich das Projekt „Wahlscout“ dezidiert in die Viertel und Bezirke begeben, wo man wusste, dort war 2017 die Wahlbeteiligung besonders niedrig. Dort wollte man von Tür zu Tür gehen und Wahlinformationen bereitstellen: Wie und wo können Sie wählen? Wen können Sie wählen? Leider hat das der Bundesinnenminister verboten, weil er meinte, es käme hier zu einer Verzerrung des Wahlergebnisses, wenn man nur eine Gruppe besonders anspricht. Ich finde das sehr schade und auch juristisch nicht haltbar, denn die Verzerrung des Wahlergebnisses ergibt sich viel mehr aus einer sozialen Ungleichheit. (…)

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In vier Tagen sind wir hier in Deutschland aufgerufen zu wählen, also zur „election“ zu gehen. Ich möchte das Wortspiel aus dem Ausstellungstitel aufgreifen: Haben wir Bürger*innen in Deutschland denn wirklich eine „selection“? Könnte die Wahlmüdigkeit auch damit zusammenhängen, dass man das Gefühl hat, da ähnelt sich viel und man weiß gar nicht so richtig, wohin man das Kreuzchen setzen soll?

JC: Ich denke, wir haben auf jeden Fall eine „selection“. Es gibt insgesamt 47 Parteien, die zur Bundestagswahl zugelassen sind. Es gibt also durchaus Möglichkeiten und auch viele interessante Kleinparteien. Nur glaube ich, dass alles wahnsinnig fokussiert ist auf die großen Parteien. Ich habe mich das schon oft gefragt, warum es so schwierig ist, als eine kleinere Partei überhaupt Öffentlichkeit zu bekommen und die Möglichkeit, das eigene Programm, die eigene Thematik zu diskutieren. Und so gesehen ist das ein ambivalentes Bild: weil wir natürlich die Wahl haben. Aber das setzt voraus, dass die Bevölkerung sich damit auch beschäftigt. Das wiederum ist sehr aufwendig und anstrengend. (…)

 

Tamara, inwiefern hängt die Politikverdrossenheit vieler Wahlberechtigten auch daran, dass da Berufspolitiker*innen am Werk sind?

TE: Nun, wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Das heißt, nicht jede*r von uns kann und will sich ständig und jeden Tag mit Politik beschäftigen. Darum gibt es Wahltage, alle vier Jahre, dazwischen vielleicht auch themenspezifische Abstimmungen oder Regional- und Kommunalwahlen. Und dann wählen wir unsere Vertreter*innen, die uns dann eben für die nächsten vier Jahre vertreten. Das heißt, dieses Thema Berufspolitik hat auch zu tun mit Erfahrung: Wie schließe ich Kompromisse? Was sind die Themen und wie setze ich sie um?

Das Problem ist aus meiner Sicht nicht, dass es Berufspolitiker*innen gibt, sondern dass keine deskriptive Repräsentation gegeben ist. Mit deskriptiv meine ich, dass sich das deutsche Volk tatsächlich spiegelbildlich im Bundestag wiederfindet. Auch im nächsten Bundestag werden wieder überproportional viele Jurist*innen und Politolog*innen vertreten sein, außerdem sehr viele Selbständige und Angestellte aus dem höheren Management. Also Akademiker*innen. Nach wie vor unterrepräsentiert sind noch immer Frauen. Aber auch die Jugend. Und wir haben gerade auch in der Jugend eine geringere Wahlbeteiligung. Wenn wir die Jugendlichen und jungen Erwachsenen fragen, warum sie denn nicht wählen gehen, sofern sie überhaupt wahlberechtigt sind, dann sagen sie, dass sie da niemanden sehen, der so ist wie sie. Es fehlt die Vorbildfunktion. Und wir sehen auch, dass es kaum Arbeiter*innen im Bundestag gibt. So eine Karriere wie Norbert Blüm, vom Opel-Werkzeugmacher zum Bundesminister: Das sehen wir immer seltener.

Es geht eben auch um diese symbolische Bedeutung im Bundestag. Das Gefühl, da sitzen tatsächlich Menschen wie ich, die kennen meine Lebensrealität, der oder die ist jemand wie ich und deshalb empfinde ich das auch als meinem Bundestag und möchte mitwählen. (…)

 

Wie kann es gelingen, Demokratie für alle greifbarer und interessanter zu machen?

TE: Wir könnten Demokratie interessanter machen, indem wir sie von den Wahltagen entkoppeln und mehr politische Bildung und mehr partizipative Angebote wie zum Beispiel Bürgerräte etablieren. Bürgerräte werden gerade europaweit ausprobiert. Auch in Deutschland gab es neben den selbstorganisierten Bürgerräten mittlerweile auch einen institutionell beim Bundestag verankerten Bürgerrat, wo es darum geht, dass eben mal nicht die üblichen Berufspolitiker*innen miteinander sprechen mit ihren Parteiprogrammen im Hintergrund, sondern ausgeloste Bürger*innen.

Bürgerräte sind gerade das Werkzeug, das europaweit ausprobiert wird, um die Demokratie und auch die Repräsentation zu stärken. Denn hier wird ja tatsächlich ausgewählt nach einem Abbild der Gesellschaft. Also wenn wir in der Gesellschaft 51 Prozent Frauen haben und 49 Prozent Männer, dann sitzt auch genau diese prozentuale Verteilung im Bürgerrat. Und so versucht man, Probleme oder Herausforderungen zu diskutieren, die Alltagsexpertise der Bürger*innen einzubeziehen. Was kommt da an Ideen zum Beispiel für die Bewältigung der Klimakrise, wenn ich keine Parteiinteressen im Hinterkopf habe, wenn ich ohne Koalitionsbedingung sprechen kann?

 

Bürgerräte funktionieren aber immer thematisch gebunden, immer zu einem bestimmten Thema?

TE: In Deutschland oder auch in Österreich funktioniert das so, auch in Frankreich, wo wir aktuell vor allem Klimabürgerräte verwirklicht sehen. Andere Staaten sind aber schon einen Schritt weiter: In Ostbelgien hat die deutschsprachige Gemeinschaft einen Bürgerrat als zweite Parlamentskammer begründet. Man hat das alte Einkammerparlament um eine zweite Kammer mit gelosten Bürger*innen erweitert, die tatsächlich Politiker*innen auf Zeit sind. Sie können für 18 Monate selbst Themen setzen, die politische Agenda beeinflussen. Mittlerweile läuft das seit 2019. Aktuell richtet auch die Stadt Paris einen ständigen Bürgerrat ein.

JC: Bürgerräte sind ein sehr interessanter Ansatz, denn das hat auch einen Nebeneffekt: Wenn man per Losverfahren Menschen dazu bewegt, sie politisch zu engagieren, müssen sie sich wirklich mit den Problemen und Themen beschäftigen. Und sie müssen auch Entscheidungen treffen. Wenn man die Erfahrung macht, Entscheidungen treffen zu müssen, dann versteht man vielleicht auch besser, warum welche Entscheidungen manchmal getroffen werden.

Vielleicht braucht die Gesellschaft so einen Prozess, eine andere Diskussionskultur, in der man sich über Inhalte austauscht, um dann eben auch zu verstehen, dass es verschiedene Meinungen gibt. Und dass auch Fehler passieren. Und auch passieren dürfen, dass man nicht für jeden Fehler, den man gemacht hat, sofort ans Kreuz genagelt wird. Die Gesellschaft braucht mehr Mut und mehr Kreativität, um neue Wege zu gehen, denn die Zukunft verlangt von uns Veränderungen. Die Arbeitsanforderungen ändern sich, alte Berufe sterben aus, es kommen neue. Die Gesellschaften sind noch multikultureller. Da gibt es so viele Aspekte, und eigentlich bedarf es einer permanenten Reflexion und einer permanenten Änderung. ■

Hier geht es zum A.K.T;: akate.de
Ein virtueller Rundgang durch die Ausstellung (S)ELECTION ist verfügbar unter: akate.de/ausstellungen/selection/
Tamara Ehs hat Politik-, Rechts- und Kommunikationswissenschaften studiert. Als Demokratieberaterin unterstützt sie Kommunen beim Ausbau partizipativer Demokratie und ist Beiratsmitglied der Europäischen Demokratiehauptstadt. Sie forscht an der Sigmund-Freud-Universität und lehrt am Department für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien.
Zum Thema von der Autorin erschienen: Krisendemokratie. Sieben Lektionen aus der Coronakrise (Mandelbaum, 2020), (mit Martina Zandonella) Different Class Citizens: Understanding the Relationship between Socio-economic Inequality and Voting Abstention (Politics in Central Europe 17(3), 2021).
Janusz Czech studierte Malerei, Grafik und konzeptuelle Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe sowie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Er ist Redaktionsmitglied bei agora42 und seit 2019 Künstlerischer Leiter am A.K.T;. Aktuell ist er Stipendiat an der Cité Internationale des Arts Paris sowie der Stiftung Kunstfonds.
Ana Kugli ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und seit 2004 unter dem Label Wortkultur (www.wortkultur-online.de) als Texterin, Autorin und Moderatorin tätig. 2020 begründete sie mit dem Fotografen Sebastian Seibel außerdem ton-bild-schau.de und produziert seither eigene und fremde Podcasts, Audioguides und Videoclips, so auch den Audioguide zur Ausstellung (S)ELECTION im A.K.T;

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