Denken in der Krise | Silja Graupe

Der Denker von Auguste RodinFoto: Avery Evans | Unsplash

 

Denken in der Krise

Für ein neues Erkenntnisparadigma und grundlegenden Bildungswandel

Text: Silja Graupe | Gastbeitrag

Wieder einmal eine Krise. Diesmal ist es Covid-19. In den Jahren 2008/2009 waren es faule Kredite und Bankenpleiten. Davor, während und danach waren es ökologische Krisen: Angefangen bei der Vermüllung unseres Planten über die Zerstörung ganzer Lebensräume bis hin zu gravierenden Klimaveränderungen. Und immer sind die Reaktionen ähnlich: Zunächst mangelt es an der Fähigkeit, Veränderungen wahrzunehmen, bevor sie zu Problemen auswachsen. Dann wird die Existenz dieser Probleme geleugnet, bis die Ereignisse nur noch wie Schocks über Gesellschaften hereinbrechen. In der akuten Not verhindert der Gemeinsinn glücklicherweise oft das Schlimmste. Doch dieses kurze Aufflackern wird sogleich erstickt, und wir fallen wieder in die alten (kognitiven) Strukturen zurück. Nach der Krise ist vor der Krise.

Die Herausforderung

Wie kann der in der Krise entdeckte Gemeinsinn zum Fundament des Neuen werden? Wie lassen sich neue kreative Normalitäten schaffen? „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“ Dieses Zitat von Albert Einstein ist weithin bekannt. Das fundamentale Problem allerdings ist, dass wir in unserer Gesellschaft kaum wissen, wie sich die dominanten Denkstrukturen verändern lassen. Denn wir denken zumeist mit ihnen, nicht aber über sie nach. Bewusst werden beim Denken „meist nur die Endprodukte des Denkens, nicht aber die Denkprozesse, die sie hervorbringen“, heißt es bei Wikipedia lapidar.

Richtig ist: Das „Denken des Denkens“ lernt man in Schule und Universität nicht oder kaum. Der Bildungsstreik der Fridays for Future-Bewegung kommt von daher nicht von ungefähr. Ich greife in diesem Essay die ökonomische Bildung als prominentes Beispiel des Bildungsversagens heraus. Denn gerade hier hat sich in den letzten Jahrzehnten weltweit eine Standardisierung vor allem an Hochschulen durchgesetzt. Als einzige Art und Weise des Denkens lehrt die Ökonomie das Denken als eine Form der Berechnung, die zumeist die Existenz von Märkten und nutzenmaximierenden Individuen schon voraussetzt.

Einsteins Zitat meint im Umkehrschluss, dass man Probleme nur mit neuen Denkstrukturen lösen kann. Doch dazu müsste die ökonomische Standardlehre ihre Suchrichtung umkehren. Sie dürfte nicht mehr lehren, mit einer einzigen Denkweise alles in der Welt lösen zu wollen. Vielmehr müsste es darum gehen, diese Weise selbst zu reflektieren und Spielräume zu erforschen, wie sich die Welt umgestalten lässt. Doch davon ist weder in der Volks- noch in der Betriebswirtschaftslehre kaum je die Rede. Stattdessen wird die Nutzenmaximierung auch und gerade unbewusst antrainiert.

Um das „Denken des Denkens“ ist es nicht nur in der Ökonomie, sondern in weiten Bereichen der heutigen Wissenschaft schlecht bestellt. Ich meine, dass es deswegen nicht weniger als einen Wechsel des Erkenntnisparadigmas braucht. Einen Weg hierfür möchte ich im Folgenden entwerfen. Dafür bringe ich im ersten Schritt das alte Paradigma zu Bewusstsein und schlage im zweiten Schritt eine neue erkenntnisleitende Metapher für das Erkennen selbst vor. Am Beispiel der ökonomischen Bildung mache ich dabei durchgehend deutlich, was dies alles konkret bedeuten kann.

Auf einsamer Bergspitze: Das rationale Denken

Es ist zwar eine Verkürzung, nicht aber eine Verkehrung: Seit Jahrtausenden suchen Philosophie und Wissenschaft im Abendland nach dem Sicheren, Unwandelbaren, Festen und Vorhersehbaren. Es muss, so meint man, doch irgendetwas „hinter“, „über“ oder „jenseits“ des oftmals chaotischen Alltags geben! Damit wird jedoch eine bestimmte Suchrichtung von vornherein ausgeschlossen: Die Suche nach Gestaltungsformen einer Realität, die sich schlicht als ungewiss, offen und dynamisch erweist. Nicht, dass viele kluge Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen über die Jahrhunderte hinweg nicht befürchtet hätten, dass Ungewissheit am Ende doch die Natur aller Dinge sei. Im Gegenteil: Gerade im 18. und 19. Jahrhundert setzte sich die Einsicht durch, dass die Realität, in der wir leben, keine endgültig sicheren, unveränderlichen Strukturen aufweisen kann.

Doch beendete dies die Suche nach dem Unwandelbaren nicht. Stattdessen suchte man nun nach rein geistigen Strukturen, die in Absehung von sämtlicher Erfahrung rein kognitive Sicherheiten zu gewähren versprachen. Unabhängig von Geschichte, von Kultur, von Herkunft, ja schlicht von allem, was konkrete Realität auszeichnet, sollte nun der Rückzug in ein „reines Denken“ das Problem lösen. „Denke jenseits aller Erfahrungen!“, avancierte zum Schlachtruf – und die Schlacht schien erfolgreich geschlagen zu sein, als das Reich des rein abstrakt-mathematischen Denkens begründet und etabliert war.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wollten die Begründer der neoklassischen Theorie auch die Wirtschaftswissenschaften an diesem Reich teilhaben lassen, das vormals den reinen Naturwissenschaften und der Mathematik vorbehalten war. Dabei verdrängten sie allerdings die alte Politische Ökonomie mitsamt ihrer Motivation, Lebenswirklichkeit gestalten zu wollen. Sie ersetzten sie durch die abstrakten Economics, und die heutige Ökonomik war geboren.

Gleich nun in welcher Wissenschaft: Rationales Denken, im Sinne des berechnenden Denkens, wähnt sich auf der Spitze eines enorm hohen Berges. Weit entrückt von den vermeintlichen Wirren des Alltags, soll es sich im sicheren Elfenbeinturm der Zahlen, Kalküle und Modelle bewegen können. Doch wie all dies zum Handeln in den Niederungen des Alltags befähigen soll, bleibt unklar. Man überlässt den Job lieber – wie in der gegenwärtigen Covid-19 Pandemie – der Politik.

In der Tiefe des Eisbergs: Das irrationale Denken

Allerdings hat bereits das 20. Jahrhundert dem Bild der über allem schwebenden Rationalität einen schweren Schlag versetzt. Dabei wurde, was zuvor wie massiver Fels erschien, in der Nachfolge etwa von Siegmund Freud, lediglich als die Spitze eines Eisbergs enttarnt (vgl. Abbildung 1). Darunter wurde ein gewaltiges Fundament unbewusster Strukturen entdeckt, das selbst niemals vom Licht der berechnenden Vernunft beschienen wird und sich aus deren Perspektive deswegen nur als irrational bezeichnen lässt. Regiert wurde dieses Irrationale von der Macht blinder Gewohnheiten.

Das Denken als EisbergSo umstürzend diese Eisbergmetapher für das rationale Denken ist, so lässt sie das alte Philosophie- und Wissenschaftsparadigma doch weitgehend intakt. Denn das Denken gilt nun zwar nicht mehr als unveränderlich gegenüber aller Erfahrung, wohl aber noch gegenüber jeglicher gegenwärtigen Erfahrung. Es soll sich überwiegend aus Erinnerungen speisen, die Handlungen quasi-automatisch triggern. Letzteres erscheint deswegen auch weiterhin aus sicherer Distanz steuer- und beherrschbar. Im Erkenntnisparadigma des Eisbergs schwindet zwar die Hoffnung auf die bewusste Steuerbarkeit von Individuen, Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft allein auf der Grundlage mathematischer Modelle und Kalküle. Sie alle scheinen aber nun durch die Setzung unbewusst wirkender Anreize grundsätzlich lenkbar.

In der Volkswirtschaftslehre wurde im letzten Jahrhundert diese Lenkungsidee insbesondere vom Neoliberalismus im Rahmen der Beeinflussung und Manipulation der öffentlichen Meinung in Richtung der Verstärkung und Ausnutzung marktförmiger Gewohnheiten aufgegriffen und verstärkt. Für das Change Management, das Verhalten anderer Menschen „aufzutauen“, zu „bewegen“ und in gewünschten Strukturen wieder „einzufrieren“ sucht, gilt in der BWL seit ca. den 1940er Jahren Ähnliches. Ganze Heerscharen angehender Manager*innen, Chefvolkswirt*innen und Politiker*innen werden heute nach wie vor auf solche Formen der Lenkung getrimmt. Dabei spielt heute auch das sogenannte „Nudging“, wie es die Verhaltensökonomik entwirft, eine große Rolle. Es meint das „Anstupsen“ richtigen Verhaltens unterhalb der Wahrnehmungsschwelle von Akteur*innen.

Die Dynamik des blauen Planeten: Eine neue erkenntnisleitende Metapher

Ich plädiere nun nicht dafür, Rationalität und Gewohnheiten auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu befördern. Selbstverständlich formen sie wichtige Aspekte der Gesamtheit aller möglichen Denkstrukturen aus. Doch erweist sich deren Verabsolutierung als hochgradig problematisch. Gerade junge Menschen müssen endlich lernen dürfen, grundsätzlich anders zu denken!

Dafür sollte auch ein wirklich veränderbares, also ‚flüssiges‘ Denken vorstellbar werden. Dies meint, unmittelbar in Erfahrung zu denken und das eigene Denken und Handeln inmitten von Unsicherheit und Wandelbarkeit gestalten zu lernen. Es kommt darauf an, die „radikale Alltäglichkeit“ (Kitarō Nishida) mit all ihrer Ungewissheit verstehen zu lernen und als Gestaltungsaufgabe zu begreifen. Das geht aber nur, wenn das Denken nicht mehr getrennt vom konkreten leiblichen und damit stets erfahrungsgebundenen Handeln gesehen wird. Vielmehr müssen beide Pole – Denken und Handeln – im Erkennen zusammenkommen. Auf den Wandel von Erkenntnisstrukturen in diesem Sinne kommt es an!

Hierfür schlage ich eine neue erkenntnisleitende Metapher vor: Wir sollten uns das Denken nicht mehr nach dem Modell des starren, kalten Eisbergs vorstellen. Stattdessen sollten wir uns von der Gestalt unseres Planeten und speziell seines inneren geologischen Aufbaus inspirieren lassen. Um dies zu ermöglichen, entwerfe ich eine neue „Geologie des Erkennens“, die sich von der Geologie unseres Planeten inspirieren lässt (vgl. Abbildung 2).

Ein neues Modell: Die Geologie des ErkennensWas das Erdinnere vor allem von Eisbergen unterscheidet, ist ihr flüssiger Kern, der von innen heraus dynamisch die gesamte Struktur unseres Planeten prägt: Selbst die vermeintlich harten und stabilen Strukturen an ihrer Oberfläche erweisen sich hier als bloß vorübergehende Erstarrungsstrukturen. Sie haben sich einst aus dem flüssigen Magma im Erdkern gebildet und müssen dorthin auch wieder zurückkehren, sonst drohen zu große Spannungen alles zu zerstören. Für diese Bewegungen verfügt die Erde über gewaltige tektonische Kräfte. Weit davon entfernt, durch äußere Zufuhr von Energie umgeschmolzen werden zu können wie ein Eisberg, sind es die inneren, flüssigeren Erdschichten, die die oberen verhärteten Schichten in sich aufnehmen, verflüssigen und sodann in neuer Gestalt entstehen lassen. Dynamik und Statik, Werden und Vergehen gehören hier zusammen. Daraus lässt sich eine Geologie des Erkennens ableiten: Auf das Zusammenspiel von Struktur und Dynamik, von „flüssig“ und „fest“, kommt es an!

Wie Abbildung 2 zeigt, stelle ich mir das menschliche Erkennen in Ähnlichkeit zur Erde als Erkenntniskörper vor, der nun nicht mehr nur aus zwei (wie im Eisberg-Modell), sondern aus mindestens vier Schichten aufgebaut ist: Aus einer fest erstarrten Erkenntniskruste, einem nahezu erstarrten oberen Erkenntnismantel, einem beweglichen unteren Erkenntnismantel sowie dem flüssigen Erkenntniskern. Dabei ordne ich die beiden „starren“ Schichten des Eisbergmodells oben auf diesem Körper an und bezeichne sie als „rationales Erkennen“ und als „gewöhnliches Erkennen“. Das ermöglicht unmittelbar eine gänzlich neue Perspektive auf die in der Ökonomie vorherrschenden Denkprozesse: Rationales und gewöhnliches Erkennen werden nun als lediglich vorübergehend verfestigte Strukturen einer ursprünglicheren Dynamik erkennbar.

Fehlt diesen beiden Schichten jegliche Möglichkeit, sich irgendwie an die Dynamik gegenwärtiger Erfahrung und aktuellen Lebens anzupassen, so kann dies nur in die Katastrophe in Gestalt fundamentaler Erschütterungen und heftiger Eruptionen führen. Dies ist für mich das Sinnbild einer krisengeschüttelten Ökonomie, ja einer ökonomisierten Gesellschaft insgesamt, in der Menschen keinerlei seismographisches Instrumentarium zum Umgang mit gesellschaftlichen und ökologischen Dynamiken verfügen, obwohl diese sich direkt unter ihren Füßen abspielen. Alte Denkstrukturen bleiben in Geltung, bis die Krise eingetreten ist und sie aufbricht. Diese Strukturen können in diesem Paradigma nur irgendwann zerstört, nicht aber rechtzeitig und problemorientiert umgestaltet werden.

Doch die vorgeschlagene Geologie des Erkennens vermag nun nicht nur die Kritik am Herkömmlichen zu stärken und zu präzisieren. Auch zeigt sie neue Wege und Gestaltungsbereiche auf. Dabei kommt es mir insbesondere darauf an, die Metapher des unteren Mantels stark zu machen, der in Ähnlichkeiten zum Planeten Erde dafür sorgen soll, die Dynamik des inneren Kerns mit den verkrusteten oberflächlicheren Strukturen zu vermitteln. Aus Sicht der oberen beiden Schichten kann dieser Mantel zunächst nur terra incognita sein: unbekanntes, unerforschliches Gelände. Doch wie der obere Erdmantel den unteren Erdmantel braucht, um seine Gestalt dynamisch anpassen zu können, so muss es im Erkennen Bereiche geben, in denen Menschen ihre tiefsitzenden Gewohnheiten gestalten und verändern können – und dies sowohl im individuellen als auch im sozialen Sinne. Genau dies fordert ja etwa die Fridays for Future-Bewegung: Wir müssen lernen, neue kreative Normalitäten zu schaffen, statt wie blind zwischen erstarrten Routinen auf der einen und krisenhaftem Aktionismus auf der anderen Seite zu schwanken. Es gilt, alte Muster zu brechen und neue Muster zu gestalten. Doch in der alten Struktur des „Denkens über das Denken“ taucht dies noch nicht einmal als Möglichkeit auf.

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Dynamisches Erkennen: Sinnstiftung, Spontanität und Gemeinsinn

Die Metapher des Erkenntniskörpers gewährt hierfür hingegen nun Raum. Wie Abbildung 2 zeigt, lagere ich in den unteren Erdmantel zwei Erkenntnisformen ein: das sinnstiftende Erkennen und das spontane Erkennen, wobei beide Erkenntnisformen nun in unmittelbarer Verbindung zur gegenwärtigen Erfahrung und damit den (noch nicht erkannten) Herausforderungen der Gegenwart stehen. Zunächst zum sinnstiftenden Erkennen. Es besteht aus einem dynamischen Zusammenspiel von praktischer Urteilskraft, Imaginationsfähigkeit und Gemeinsinn. Bei der praktischen Urteilskraft (oder auch Lebensklugheit, phronesis im Altgriechischen) handelt sich dabei um die Fähigkeit, in konkreten Situationen beurteilen zu können, ob tradierte Gewohnheiten noch zeitgemäß sind und ob sie gegebenenfalls verändert werden müssen. Dabei geht es insbesondere um ein Erkennen des – auch in ethischer Hinsicht – Guten und Angemessen und dessen, was hier und jetzt zu tun ist.

Diese Form der Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit lässt sich durch Kalküle des oberen Erkenntnismantels weder erkennen noch lenken. Stattdessen speist sich die praktische Urteilskraft aus Kräften, die tiefer im Inneren des Erkenntniskörpers liegen. Wichtig ist hier die Imagination, die auch als Einbildungskraft und Phantasie bezeichnet wird. Diese markiert den weiten Spielraum kreativer Vorstellungsfähigkeiten, die in sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen, und aus dem sich immer wieder neue „imaginierte Zukünfte“ (Jens Beckert) bilden können. Wo wollen wir hin? Welches gute Leben stellen wir uns vor? Ihrerseits basiert die Imagination auf dem Gemeinsinn (sensus communis im Lateinischen). Dieser vermag unmittelbar aus sinnlicher Erfahrung neue Wahrnehmungsbilder zu schaffen (darauf gehe ich gleich näher ein).

Durch das Zusammenspiel von praktischer Urteilskraft, Imagination und Gemeinsinn vermag das sinnstiftende Erkennen sowohl wirkliche Exnovation (die Aufgabe von Altem) als auch Innovation (die Etablierung von Neuem) zu betreiben. Um es zu lehren, braucht es weit mehr, als altes Wissen in junge Köpfe zu füllen. Stattdessen bedarf es in der Bildung Freiräume für ein reflektiertes, transdisziplinäres Tun in konkreten Gestaltungsbezügen. Dieses sollte sich dabei mit einem breiten Verständnis des geschichtlich Gewordenen (etwa im Rahmen der Geistes- und Ideengeschichte), der Förderung pluraler Gegenwartsanalysen (in trans- und interdisziplinären Ansätzen) und der Anregung von Vorstellungsfähigkeiten des Möglichen (etwa durch philosophisch-ästhetische Übungen) verbinden.

Zudem braucht das sinnstiftende Erkennen gleichsam einen direkten Zugang zur in beständiger Veränderung befindlichen Wirklichkeit. Der Philosoph Cornelius Castoriadis bezeichnet diese Wirklichkeit treffend als „gesellschaftliches Magma“. Er meint damit die „unerschöpfliche Quelle von Neuem in der Geschichte und nie erlahmende Triebkraft der Selbstveränderung der Gesellschaft“. In meiner neuen Geologie des Erkennens erschließt das spontane Erkennen diese Quelle.

In meinem Ansatz sind dabei die Aktivitäten des bereits erwähnten Gemeinsinns entscheidend. Erkenntnisphilosophisch gesprochen umfasst dieser Sinn zunächst alle genuin kreativen Fähigkeiten, alte Vorstellungsbilder im Angesicht konkreter Herausforderungen fallenlassen und so deren handlungslenkende Wirkung aussetzen zu können. Der Gemeinsinn erlaubt es damit, Lebenswelten wahrzunehmen, bevor mentale Stereotype oder berechnende Kalküle sie im Licht bloß vergangener Erfahrungen oder abstrakter Berechnungen bewerten – und oft genug abwerten und disqualifizieren. Dafür löst der Gemeinsinn alte Gewohnheiten des Erkennens auf und lässt sie gleichsam ins gesellschaftliche Magma einsinken. Darüber hinaus spürt der Gemeinsinn – weit unterhalb des gewöhnlichen Verstandes und der rationalen Vernunft, aber dennoch keineswegs unbewusst, sondern nur andersbewusst – neue potenziell sinnhafte Strukturen auf und stabilisiert sie anfänglich in improvisierendem Handeln. Auf diesem Handeln können dann Imagination und praktische Urteilskraft im sinnstiftenden Erkennen aufbauen, um neue „kreative Routinen“ (Ikujiro Nonaka) zu bilden und in Form neuer Gewohnheiten zu stabilisieren.

Wichtig ist, dass sich der Gemeinsinn und mit ihm das spontane Erkennen jeder operationalisierenden Form der Bildung entziehen. Sie bedürfen allein einer „negativen Bildung“. Darunter ist ein Vorgang der Befreiung von alten Denkstrukturen zu verstehen: Gemeint ist die ausdrückliche Negation aller Bildungsprozesse, die dem Menschen bloß feste Erkenntnisstrukturen vermitteln wollen. Statt weiterer Modelle, einer Vermehrung des Wissens und der Kompetenzen, die letztlich doch in den alten Denkstrukturen verbleiben, brauchen wir mehr Freiräume, um in konkreten Erfahrungssituationen tätig werden zu dürfen. Gemeint ist dabei ein Lernen etwa in der Care-Arbeit, in der akuten Krisenhilfe, beim Entstehen von radikalen Innovationen oder an allen anderen Orten, in denen die Dynamik des gesellschaftlichen Magmas am unmittelbarsten, d.h. jenseits von festgefügten Konventionen erfahrbar wird.

Doch von diesen Freiräumen ist gerade die ökonomische Bildung so weit entfernt wie die Erdkruste vom Erdinneren. Stattdessen zwingt sie junge Menschen ohne deren Wissen bloß auf der Erkenntniskruste zu verharren und überzieht sie mit immer mehr rationalen Strukturen. Allenfalls eine dünne Schicht von Gewohnheiten, allen voran jene des marktförmigen Tauschs, vermag die ökonomische Bildung unbewusst zu etablieren, in dem sie Anreize setzt. So aber können weder eine Pluralität von Gewohnheiten sinnstiftend geschaffen und gepflegt, geschweige denn das spontane Erkennen aktiviert werden. Beide werden zwar benötigt, sonst würde das gesellschaftliche Magma veränderter Wirklichkeiten die Kruste vorhandener Vorstellungen sprengen. Aber sie werden vollständig verschwiegen. Bestenfalls werden alternative Lebensentwürfe und spontane Sinnstiftung milde belächelt („in der Jugend waren wir auch so, das vergeht schon noch!“) und schlimmstenfalls aktiv bekämpft („lernt erst unsere Sprache, bevor ihr mitredet!“).

Die tektonischen Kräfte des Wandels stärken

Doch wie beim Planeten Erde auch, entsteht wahrer Wandel nicht von oben, d.h. von den bereits erstarrten Strukturen her. Er kommt von innen und unten! Abbildung 3 zeigt, was ich damit meine. Die Stärkung des Gemeinsinns führt zu Werte- und Sinnwandel in konkreten Erfahrungsbezügen. Das haben wir in den letzten Wochen der Corona-Krise immer wieder gemerkt: Es entstanden jenseits festgefahrener Konventionen Freiräume, um unmittelbar zu erfahren, was wirklich wichtig ist. Nun gilt es, den Gemeinsinn mit Imagination und praktischer Urteilskraft zu verbinden, um systematisch mit alten Vorstellungsbilder und überkommenen Ideen des Guten zu brechen (soziale Exnovation) und Platz für neue zu machen (soziale Innovation). Dies wiederum ermöglicht, mit alten Gewohnheitsstrukturen endgültig zu brechen und neue zu etablieren. Dabei lässt sich auch und gerade freiheitlich entscheiden, inwieweit man an marktförmigen Gewohnheiten festhalten, was man also weiterhin durch Preissignale koordinieren oder sozial anders organisieren möchte (etwa durch Nachbarschaftshilfe). Möchte man weiterhin rechnen, so können dann auf dieser Basis wenigstens neue Kalküle und berechenbare Marktwerte geschaffen werden (so etwa eine gerechtere Bezahlung für Pflegekräfte).

Tektonik des Erkennens

Vom Bildungsstreik zu fundamentalem Bildungswandel

It’s getting hot in here!” heißt es auf einem der Plakate der Fridays for Future-Bewegung. Auch der Eisberg des herkömmlichen Erkenntnisparadigmas droht gänzlich zu schmelzen. Doch können wir das menschliche Erkennen wie unseren blauen Planeten imaginieren und beide gemeinsam so auf eine lebenswerte Zukunft hin gestalten lernen. Es gilt von der passiven Verhaltenssteuerung durch Nudging und Anreizsysteme überzugehen zur Eröffnung von Spielräumen aktiver Selbstreflexion und gegenwartsbezogener Gesellschaftsgestaltung. „Change is coming!“ Lasst uns diesen Wandel als inhärentes Phänomen unserer vielfältigen Welt begreifen und aktiv formen!

Mit einem fundamentalen Bildungswandel, der am Gemeinsinn ansetzt, können wir dies gemeinsam erreichen. Lasst uns also die Hochschulen und Schulen transformieren! Damit nach der Krise nicht mehr vor der Krise ist. ■

Silja Graupe
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie sowie Vizepräsidentin und Mitgründerin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.
Weitereführende Ausfürhungen der Autorin zu ihrem konzeptuellen Vorschlag finden sich hier:
Mehr dazu: