Der Zombie und sein Meister | Christoph Fleischmann

FlughafenFoto: Markus Spiske | unsplash

 

Der Zombie und sein Meister

Text: Christoph Fleischmann

Die Corona-Krise zeigt, dass der Staat stärker ist als gedacht. Erst verhängt er den wirtschaftlichen Shutdown und dann kann nur er der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen. Die Zukunft wird davon abhängen, auf welche Weise er die Wirtschaft gestaltet.

Zombies und Gespenster leben von der Angst der anderen. Die Angst nährt sie, macht sie mächtig und furchterregend. Das kann man in Zombiefilmen beobachten: Die schreckensweiten Augen der potenziellen Opfer sind das Pendant zu den ausdruckslosen Augenhöhlen der Untoten. Ein Effekt, der sich auf die Zuschauer überträgt: Auch ihr Grusel lässt die Untoten im Film mächtig und real und den Film damit gut werden. Ein Zombiefilm, bei dem sich keiner gruselt, funktioniert höchstens als Parodie auf das Genre.

Ein kleines Virus wirft nun die Frage auf, ob nicht auch „der Kapitalismus“ solch ein Zombie ist, der von der Angst derer lebt, die ihn fürchten. Haben die, die im Kapitalismus den Grund aller oder mindestens vieler Übel sehen, am Ende einen Untoten genährt und mit der Angst versorgt, die er zum Weiterexistieren braucht? Diese Frage stellt sich angesichts der Tatsache, dass ein Virus und die Angst vor ihm etwas geschafft haben, was kaum jemand vorausgesehen hat: die kapitalistische Wirtschaft mit ihrem immanenten Wachstumszwang zum Stillstand zu bringen. Dem Zombie war mit einem Mal die Blutzufuhr entzogen; seine übergroße Macht erwies sich als Phantasma; es gab einen, der stärker war als er selbst: der Staat. Wer hätte das nur wenige Wochen, bevor der Lockdown verkündet wurde, geahnt? Zu tief saß der Glaube, dass „der Kapitalismus“ alles beherrscht, oder zumindest doch „die Politik“ und die Staaten dieser Welt. Demzufolge hätte das wahrscheinlichere Szenario doch sein müssen, dass angesichts der Pandemie der Moloch Kapital mit Unterstützung neoliberaler Ideologen noch mehr Menschenopfer fordert, damit die Kapitalvermehrung nicht unterbrochen wird – wie das wohl ursprünglich im Mutterland des Kapitalismus, in Großbritannien, geplant war. Aber selbst der britische Premier Boris Johnson, der ein „paar geliebte Menschen vor der Zeit“ sterben lassen wollte, musste angesichts der Ausbreitung des Virus und der Angst und Proteste der Bürger*innen umschwenken.

Die Rückkehr des starken Staates

Im Ergebnis haben wir nun eine weltweite Wirtschaftskrise, die nicht, wie wir das im Kapitalismus kennen, durch Bewegungen innerhalb der Wirtschaft ausgelöst worden ist, sondern die der Wirtschaft tatsächlich „von außen“ durch staatliche Regierungen auferlegt wurde. Damit haben sich diese als durchaus handlungsmächtiger und durchsetzungsfähiger erwiesen, als viele Kapitalismuskritiker*innen sich das hätten träumen lassen. Die Staaten sind als die wesentlichen Player zurück auf der Bühne des „Weltsystems“: politisch mit der Durchsetzung eines (partiellen) ökonomischen Stillstandes und ökonomisch durch ihre außergewöhnliche Verschuldungsmöglichkeit, die sie nun zur entscheidenden Instanz jeder wirtschaftlichen Genesung macht.

Nun kann man sagen, dass es schon vor der Krise ein Zeichen schlechter Analyse war, wenn Kapitalismuskritiker*innen ihre Kritik in den zweipoligen Gegensatz von „Markt“ gegen „Staat“ gefasst haben, wobei der eine eher negativ und der andere positiv konnotiert war. Vielmehr konnte man schon lange vor der Krise von Colin Crouch lernen, dass Markt und Staat um eine dritte Größe, nämlich große (marktbeherrschende) Konzerne, zu erweitern seien und dass die Staaten in diesem Dreieck sehr unterschiedliche Positionen, aber jeweils durchaus ökonomisch potente Funktionen wahrnehmen können. Das heißt, „dass der real existierende Neoliberalismus bei weitem nicht so sehr auf freie Marktwirtschaft setzt, wie es seine Theorie behauptet“ (Colin Crouch) – und wie es seine Kritiker*innen geglaubt haben. Der neoliberale Kapitalismus war für seine Durchsetzung schon immer auf „starke“ politische Entscheidungen angewiesen, genauso wie es seine Begrenzung während der Corona-Krise war.

Die Möglichkeiten des Staates

Das zeigt: Zwar ist dem Gespenst des Kapitalismus nun sichtbar Macht entzogen und der Staat als mächtiger Player unübersehbar geworden, aber das heißt noch keineswegs, dass diejenigen, die dem Kapitalismus ans Leder wollen, frohlocken können. Denn für das staatliche Handeln sind unterschiedliche Szenarien nicht nur denkbar, sondern bereits sichtbar. Die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise weisen in unterschiedliche Richtungen.

Positiv zu verbuchen ist sicher, dass nun staatliche Eingriffe und Lenkungen der Wirtschaftstätigkeit, wie sie unter dem neoliberalen Dogma bisher nicht denkbar waren, möglich geworden sind. Nachdem der Staat zum Gesundheitsschutz der Menschen und unter dem Wohlwollen der Meisten die Wirtschaftstätigkeit massiv eingeschränkt hat, warum sollte er nicht weiterhin dort eingreifen, wo der freie Markt nicht den „Wohlstand für alle“ schafft? Auf einmal geht es schnell, wenn Werkverträge und die damit verbundene organisierte Verantwortungslosigkeit in der Fleischindustrie verboten werden sollen. Manche Staaten geben nur jenen Konzernen Corona-Hilfen, die ihren Gewinn nicht in Steueroasen verbuchen, und bringen damit eine neue Dynamik in die Frage nach einer gerechten Besteuerung. Und auf EU-Ebene zeichnet sich immerhin die Möglichkeit einer gemeinsamen Verschuldung zum Wohle der besonders von der Pandemie und von Schulden geplagten Südländer ab. Generell hat die Not jede Austeritätspolitik über den Haufen geworfen, und selbst aus dem deutschen Finanzminister wird im Herbst seiner Karriere ein Big Spender mit viel „Wumms“.

Hier öffnet sich gerade ein Fenster der Gelegenheit: Warum nun nicht auch beherzt der Wirtschaft Vorgaben gegen den Klimawandel machen? Warum nicht auch für bessere Gesundheitssysteme sorgen, die in vielen Ländern nach jahrelangem Spardruck und Privatisierungen der Pandemie nicht standhalten konnten?

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Herr und Knecht

Allerdings ist die nun ausgeweitete Staatsverschuldung hochambivalent, weil damit der Staat – und das lässt den neuen Master of Pupptes selber als Abhängigen erscheinen – auf der Droge Wachstum hängenbleibt. Er muss offensichtlich dem Zombie geben, was er braucht: mehr Geld, mehr Wachstum – und damit mehr Lasten und Risiken für die kommenden Generationen. Progressiv würde das erst werden, wenn man Schulden streichen würde und so die Zukunftslasten reduzierte und gegenwärtige Kapitalbesitzer*innen für diese Entschuldung bezahlen ließe. Ökonomisch wäre das in maßvollem Umfang sicherlich sinnvoll und auch aus Gerechtigkeitsüberlegungen wäre es angemessen, würde man damit doch der in den letzten Jahrzehnten stark aufgegangenen Vermögensschere entgegenwirken. Ob es soweit kommt? Immerhin haben die G20-Länder Mitte April ein Aussetzen des Schuldendienstes für 77 Entwicklungsländer beschlossen. Auf diesem Weg müsste man weitergehen in die Richtung, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, gewiesen hat: Aufgrund der Corona-Pandemie sei endlich die Schaffung eines umfassenden Staateninsolvenzverfahrens vonnöten.

Generell werden die Folgen der Pandemie die internationale Verflechtung der Wirtschaft berühren: Man muss nicht so weit gehen, wie die neue Chefökonomin der Weltbank, Carmen Reinhart, und die Corona-Pandemie als „Sargnagel der Globalisierung“ bezeichnen, aber sicher wird die Krise – wie wir das schon bei der Bekämpfung des Virus gesehen haben – nationale Alleingänge provozieren. Das Wort „Protektionismus“ wird einen neu- en Klang bekommen. Eine gewisse „De- Globalisierung“ kann für manche Länder von Vorteil sein, weil es den Spielraum für eigene wirtschaftspolitische Maßnahmen vergrößert.

Konzerne entmachten!

Insgesamt aber sollte man eines sehr klar sehen: Die großen Konzerne stecken eine Krise leichter weg als die vielen kleinen Unternehmen und Selbstständigen. Fernand Braudel schrieb am Ende seiner großen Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts: „Welche Rolle Krisen im vorindustriellen Europa gewöhnlich spielten, haben wir zur Genüge kennengelernt: nämlich durch Ausschaltung der (nach kapitalistischen Maßstäben) Kleinen, der in Zeiten wirtschaftlicher Euphorie gegründeten, anfälligen Unternehmen bzw. auch überalterter Unternehmen die Konkurrenz zu mildern statt zu verschärfen und die wesentlichen Wirtschaftsaktivitäten in wenigen Händen zu konzentrieren. In dieser Hinsicht hat sich bis heute nichts geändert.“ Daran ändert auch das Konjunkturpaket der deutschen Bundesregierung nichts, das einige Maßnahmen durchaus dem Erhalt kleiner und mittlerer Unternehmen widmet. Denn es ist nicht nur so, dass große Akteure aus eigener Kraft Krisen besser meistern, sie haben auch gegenüber dem Staat immer die besseren Karten und können die „Spenden der Staatsmaschinerie“ (Braudel) traditionell viel besser einwerben als die Kleinen. Auch dafür gibt es bereits erste Beispiele wie die „Rettung“ der deutschen Lufthansa. Es kommt darauf an, den Staat nicht wieder einmal den großen Konzernen als Beute zu überlassen.

Ein baldiges Absterben des Zombie Kapitalismus ist – aus Mangel an mehrheitsfähigen Alternativen – derzeit nicht zu erwarten, aber man sollte seine Abhängigkeit von den Staaten dieser Welt nicht verkennen: Sie können sehr unterschiedliche Kapitalismen schaffen. Die Spielräume dafür sind in dieser Krise vielleicht etwas größer als zuvor. ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 CORONA & DIE ZOMBIEWIRTSCHAFT erschienen.
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann ist studierter Theologe und Redakteur bei der Zeitschrift Publik-Forum. Zuletzt von ihm erschienen: Nehmen ist seliger als geben. Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte (Rotpunkt, 2018).
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Fernand Braudel: Die Dynamik des Kapitalismus (Klett-Cotta Verlag, 1986).
Das kleine Büchlein bündelt den theoretischen Ertrag der dreibändigen Sozialgeschichte: Kapitalismus als „Privileg von wenigen“, die durch ihre mächtige Position ungleiche Tauschprozesse zu ihren Gunsten durchsetzen können.
ROMAN
Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst (S. Fischer Verlag, 2017).
Ein Schelmenroman: Schulze führt seinen Helden vom gläubigen Kommunisten in der DDR zum gläubigen Kapitalisten nach der Wende – und zeigt, wie schwer es ist, wenn man einmal viel Geld gewonnen hat, es wieder zu verlieren.
FILM
Wer rettet wen? Die Krise als Geschäftsmodell (2015). Ein Dokumentarfilm von Leslie Franke und Herdolor Lorenz.
Nach der Finanzkrise wurde nicht Griechenland gerettet, sondern die Banken, die griechische Staatsanleihen hielten.

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