Eine gesunde Portion Panik | Carlo Ströning

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Eine gesunde Portion Panik

Der institutionelle Wandel und seine Triebfedern

Text: Carlo Ströning

Wer die aktuelle Spiegel-Bestsellerliste in der Sachbuchkategorie durchstöbert, findet neben den für die moderne Gesellschaft symptomatischen Ratgebern zu Gesundheit und Stressbewältigung eine ganze Reihe utopisch anmutender Zukunftsentwürfe. Robert Habeck plädiert in Von hier an anders für eine neue, nachhaltigere Politik, die Politökonomin Maja Göpel wirft in Unsere Welt neu denken einen kritischen Blick auf die heutige Ökonomie und ihre zerstörerischen Externalitäten, und der Soziologe Harald Welzer ruft mit Alles könnte anders sein die Leser*innen zum sozialen Träumen auf: „Die vielbeschworene ‚Alternativlosigkeit‘“, so Welzer, „ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit“. Gemein haben diese Titel, dass Utopie nicht nur bedeutet mit grünem Strom zu heizen, elektrisch zur Arbeit zu fahren und zweimal pro Woche im Homeoffice arbeiten zu dürfen – es geht um weitreichende Veränderungen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise.

Aber wo sind die neuen Welten, die verheißungsvoll-anderen Zukünfte, die von Achtsamkeit und Miteinander geprägten Wirtschaftssysteme? Wird eine Transformation nur verfasst, publiziert, gelesen oder auch schon gelebt?

Buchen und Eichen dürfen leider nicht zur Wahl

Die Transformationsforschung befasst sich mit der Veränderung von Gesellschaften durch den Wandel ihrer Teilsystemen. Diese Teilsysteme schließen politische und rechtliche Institutionen, Unternehmen und ihre Produktion sowie die Individuen und ihre Verhaltensmuster ein. Und die Praxis bestätigt: Es gibt viele Menschen, die mit dem eigenen Lebensstil den ersten Schritt gehen, sich anders ernähren, sich anders fortbewegen und anders einkaufen. Dabei bleiben viele von ihnen nicht stehen, denn diese Menschen engagieren sich in lokalen Gemeinschaften oder demonstrieren in ihrem Umfeld für Veränderung. Manche gründen sogar demokratische und gemeinwohlorientierte Unternehmen. Damit greifen diese Individuen auch in die Teilsysteme Wirtschaft und Politik ein. Optimist*innen mögen sich auf die soziologische Diffusionstheorie nach Everett Rogers berufen: Aus individuellen Lebensumstellungen und dem Engagement Einzelner sowie aus zersplitterten Graswurzelbewegungen können Massenbewegungen werden, die bestehende Institutionen und Organisationen umwälzen. Der Absatz von Fleischersatzprodukten nahm 2020 um 126 Prozent zu, das Wort „Flugscham“ findet sich mittlerweile im Duden und die EU verschärfte kürzlich die Klimaziele für 2030. Amazon will bis 2040 klimaneutral werden, das Schlagwort „Work-Life-Balance“ findet sich in fast jeder Stellenausschreibung, Unverpackt-Läden sprießen aus dem Boden und die Grünen sind an der Regierung beteiligt – sind wir also auf einem guten Weg?

So einfach ist es leider nicht, denn die Diffusionstheorie funktioniert auch in die entgegengesetzte Richtung. Oder anders gesagt: Bali, Benz und Ballermann zählen heute zur Lebensqualität wie vor 70 Jahren der innerdeutsche Urlaub im Allgäu oder an der Ostsee. Und auch eine grüne Regierungsbeteiligung garantiert keine „grüne Politik“. Das Bundesland Hessen hat seit Januar 2019 einen grünen Minister für Wirtschaft, Energie und Verkehr, der die Abholzung des Dannenröder Forsts verantwortet – Buchen und Eichen dürfen leider nicht zur Wahl. Beispielhaft ist auch die CO2-Steuer: Bis zu welcher Höhe ist der Wohlstandsverlust durch die Umweltabgabe den Wähler*innen noch zumutbar? 2021 sind es scheinbar 25 Euro und damit deutlich weniger als die 180 Euro, die laut Umweltbundesamt die tatsächlich verursachten Umweltschäden abbilden würden. Ähnliche Widersprüche spiegeln sich auch im privatwirtschaftlichen Sektor: „Corporate Social Responsibility“ und Nachhaltigkeit werden so lange begrüßt, wie sie ins Geschäftsmodell passen.

Institution Change, not Climate Change!

Der Wandel von Gesellschaft, Politik und Unternehmen wird mitbedingt durch den Wandel unseres Verhaltens und unserer Vorstellungen, ein Wandel von Normen, Wertvorstellungen und Gewohnheiten. Doch wie kommt es zum Wandel dieser sogenannten informellen Institutionen?

Für Douglass North ist die Frage des institutionellen Wandels fundamental eine Frage von Sicherheit und Unsicherheit. Institutionen zielen darauf ab, Sicherheit zu ermöglichen. Sie strukturieren das gesellschaftliche Zusammenleben und bieten Ordnung und Stabilität. Ein Beispiel ist die selbstverständliche Bildung von Warteschlangen vor dem Eintritt in öffentliche Verkehrsmittel, oder aber ein Handschlag zur Begrüßung.

Die Corona-Pandemie belegt, dass in Form des zuletzt genannten rituellen Handschlags auch jahrhundertealte Institutionen mit bewährten sozialen Vorteilen (beim Handschlag: die Signalisierung von Höflichkeit und geteilten Normen) verändert werden können. Was es dazu brauchte, war die gesellschaftliche Überzeugung: Dieses Verhalten erzeugt Unsicherheit. Hier ist es Unsicherheit in der Form unsichtbarer und gesundheitsschädigender Viren. Ein weiteres Beispiel ist die Einstellung der Gesellschaft zum Rauchen. Früher waren von Rauchschwaden durchzogene Bars und Büros gang und gäbe. Heute würde keiner Mutter und keinem Vater in den Sinn kommen, sich im Auto in Gegenwart des Kindes eine Zigarette anzustecken.

Warum aber funktioniert dieses Bewusstsein für die Unsicherheit eigenen Verhaltens im Bereich der Corona- und Zigarettenetikette, nicht aber beim um- und mitweltschädigenden Konsumverhalten?

Ein Teil der Antwort ist die zeitliche und räumliche Dissonanz zwischen dem eigenen Verhalten und dem Aufkeimen von Unsicherheiten. Konkret: Je zeitlich verzögerter und räumlich entfernter der Schaden eintritt, desto weniger ist er einem bewusst. Als Raucher*in spürt man die Abnahme körperlicher Leistungsfähigkeit beim Joggen, den finanziellen Schaden im Portemonnaie und muss vielleicht sogar einen strengen Blick von der Ärztin ertragen. Aber wer sich eine Fernflugreise nach Bali kauft oder ein in Kinderarbeit gefertigtes Kleidungsstück, der wird die Konsequenzen seines Verhaltens möglicherweise nie am eigenen Leib erfahren. Klimawandelbedingte Dürresommer führen dazu, dass Ernten und Einkommen ausbleiben. Kinderarbeit im globalen Süden erzeugt Unsicherheiten, indem sie etwa der Bildung und Entwicklung – also der Zukunft – der betroffenen Kinder im Weg steht. Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder den Weg zum H&M in der nächstgelegenen Shopping-Meile schaffen und dort protestieren, ist gering. Zeitlich entpuppt sich ein ähnliches Problem: Die Leidtragenden der gegenwärtigen institutionellen Praktiken und Lebensstile werden die zukünftigen Generationen sein, nicht die heutigen.

How do we make them panic?

Wer Gesellschaften dazu bewegen möchte, ihr Verhalten kollektiv neu auszurichten und eine gesellschaftliche Transformation einzuleiten, steht vor der herausfordernden Aufgabe, diese zeitlichen und räumlichen Distanzen zu überwinden.

Ähnlich wie auf einer Zigarettenschachtel in Form eines „Schockbildes“ eine kranke Lunge prangt, die Raucher*innen daran erinnern soll, was sie ihren Körpern antun, so müssen ähnlich kreative Lösungen auch für andere Bereiche individuellen Handelns gefunden werden. Aber würde es die Konsument*innen immer noch verunsichern, wenn es sich bei der abgebildeten Lunge eben nicht um ihre eigenen, sondern die eines noch nicht geborenen oder weit entfernt lebenden Menschen handelt?

Ob diese Hürde genommen werden kann, nämlich die Ausweitung des Verantwortungsbewusstseins der Menschen auf die Weltgemeinschaft, Natur und zukünftige Generationen, ist eine der drängendsten Fragen unserer Zeit. Man kann politisch, privat und unternehmerisch versuchen, diese Unsicherheiten in die Lebensrealität der „Verursacher*innen“ zu rücken. Man denke nur an Fridays-For-Future – engagierte Schüler*innen, die die Älteren auf ihren Wunsch nach einer lebenswerten Zukunft aufmerksam machen. Oder die Bemühungen, die regionalen Auswirkungen des Klimawandels in den Fokus zu rücken: sinkende Grundwasserspiegel, verödende Böden, sterbende Wälder.

Auch wenn die Bestseller For Future ihre utopischen Skizzen mit einer gesunden Portion Panik versehen, fehlt es an Ideen, Instrumenten und Wegen, diese Panik den Menschen in unseren Breiten nahezubringen. Ich würde ein mit solchen Ideen gespicktes Buch kaufen – vielleicht findet es sich ja auf der nächsten Spiegel-Bestsellerliste. ■

Eine frühere Version des Textes ist auf makronom.de erschienen.
Carlo Ströning
Carlo Ströning studiert im Master Plurale Ökonomik an der Universität Siegen. Zuvor arbeitete er in der Windindustrie. Er interessiert sich für nachhaltiges Wirtschaften und dafür, wie sich ökologische und soziale Entwicklungsziele vereinbaren und erreichen lassen.

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