Europa braucht ein Ziel – Interview mit Walter Kohl

Europa braucht ein Ziel

Interview mit Walter Kohl

Herr Kohl, allerorten macht sich Orientierungslosigkeit breit: Wohin mit der EU? Haben wir den Glauben an Leitbilder verloren, die früher Orientierung boten?

Walter Kohl
Walter Kohl ist der älteste Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers, sowie Redner, Autor und Coach.

Das letzte Vierteljahrhundert, also aus deutscher Sicht die Zeit nach der Wiedervereinigung und dem Ende des kalten Krieges, hat eine solche Vielzahl von Veränderungen gebracht, dass es uns heute oft schwerfällt mit dieser neuen Komplexität und den damit verbundenen Herausforderungen umzugehen. Beispielhaft seien hier genannt: die Globalisierung, die digitale Revolution (die sich immer mehr beschleunigt und immer mehr Branchen und Lebensfelder erreicht), ein multipolares Machtsystem aber auch Finanzmärkte, die sich weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt haben und scheinbar haftungsfrei agieren können. Daher geht es meiner Meinung nach nicht so sehr um abstrakte Leitbilder oder gestrige Orientierungen, sondern vielmehr um konkrete Herausforderungen, die (häufig in Vernetzung zueinander)  gelöst werden müssen. Es geht um Realpolitik, um Agieren, um Gestalten.
Wir werden ein starkes, geeintes Europa brauchen – oder wir laufen Gefahr uns in neuen Kriegen zu verzetteln. Wir brauchen eine EU, die wichtige Rahmenbedingungen schafft und weiterentwickelt, z. B. eine europäische Armee, eine europäische Polizei gegen Drogenhandel, Geldwäsche, organisierte Kriminalität etc., gemeinsame europäische Umweltstandards, eine einheitliche Flugüberwachung, etc. nur um einige Beispiel zu nennen. Was wir nicht brauchen, ist ein bürokratischer Wasserkopf, der sich in tausende, lokale Projekte einmischt, der Subventionitis betreibt und der zu einem Bazar des gegenseitigen Schacherns verkommt.
Europa braucht ein Ziel, das gerade junge Menschen in seinen Bann zieht. Neben der Friedens- und Wohlstandssicherung wünsche ich mir, dass Europa auch emotional als ein Zuhause anerkannt wird, dass Menschen sagen können: Ich bin Franzose, Deutscher, Belgier, Slowake oder Pole und ich lebe in Europa.

Wie ist es um klare Leitbilder in einer Zeit, in der erwartet wird, stets konsensfähig und offen zu bleiben, bestellt?

Ich denke, es geht weniger um abstrakte Leitbilder, es geht mehr um konkrete Leitfiguren. Wir brauchen Führung. Gerade die Dekade unter Kanzlerin Merkel zeigt, welche schlimmen Konsequenzen ein Herumwursteln, die grundsätzliche Haltung erst einmal abzuwarten und dann (häufig) heftig zu (über)reagieren hat. Wer nicht führt, der wird von den Umständen geführt, siehe Energiewende, Konflikt in der Ukraine, Flüchtlingsfrage, das schlechte Verhältnis zu den USA, die besorgniserregende Zustände im deutschen Bankensektor. Diese Führungsschwäche, die auch im Widerspruch zum verfassungsmäßigen Auftrag der Richtlinienkompetenz steht, resultiert in gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit und schafft erst die Räume bzw. den Nährboden für Populismus und Politikverdrossenheit.
In der heutigen, komplexen Welt (siehe Frage 1) kann man nicht erwarten, dass alles sofort gelingt. Aber es gilt die Dinge offen anzusprechen, anzupacken und umzusetzen und dabei das Gefühl von Richtung zu vermitteln. Ein früher Kollege brachte das Thema Orientierungslosigkeit treffend auf den Punkt, als er sagte: „Wenn wir schon nicht wissen wo wir hin wollen, dann sollten wir uns wenigstens beeilen.“ Wenn ich die heutige Bundesregierung beobachte, muss ich mich leider immer wieder an diesen Satz denken.

Welches Projekt würden Sie gerne stärker in der Öffentlichkeit vertreten sehen?

Ich denke, dass aus deutscher Sicht das mit Abstand wichtigste Projekt die Wiederbelebung des europäischen Gedankens und die Schaffung eines von einer breiten Mehrheit akzeptierten Europas ist.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kohl.


 

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