Europa … verzweifelt gesucht – Interview mit Richard David Precht

Europa … verzweifelt gesucht

Interview mit Richard David Precht

Im Jahr 2014 führten wir ein Interview mit Richard David Precht für unsere Ausgabe zum Thema Europa. Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament am kommenden Sonntag, möchten wir Ihnen gerne Auszüge aus diesem Interview präsentieren.

Herr Precht, von geografischen Definitionen abgesehen: Was bedeutet Ihnen Europa?

Ich habe kein starkes emotionales Verhältnis zu Europa. Ich halte es auch für zwecklos, Europa über einen besonderen Wesenszug definieren zu wollen. Ohne Zweifel wurde Europa durch die Aufklärung geprägt. Aber dieses Erbe ist für mich kein Grund, in Begeisterung auszubrechen, denn es ist genauso wunderbar wie fürchterlich. Europa hat so viel Unheil über sich selbst und die Welt gebracht, dass ich jeder Form von romantischer Verklärung skeptisch gegenüberstehe. Für mich ist Europa, ein geeintes Europa, ein sehr nützliches Werkzeug, um gewaltige Zukunftsprobleme zu lösen. Das ist mein Verhältnis zu Europa.

Oft wird gerade die Tatsache kritisiert, dass bei der EU wirtschaftliche Faktoren im Vordergrund stehen und nicht kulturelle. Hat Europa überhaupt eine kulturelle Identität?

Es gibt sicherlich so etwas wie eine christlich-abendländische Kultur, die in der Tradition des Christentums und der klassischen griechischen Philosophie steht; eine Kultur, welche so unterschiedliche Dinge wie die Demokratie und den Kapitalismus hervorbrachte, deren frühe Wurzeln beide im Athen des 6. Jahrhunderts v. Chr. liegen. Schließlich war es vor allem die Einführung des Münzgeldes und die neue Macht der Händler, die die alte aristokratische Herrschaftsform im alten Griechenland unterspülte und dabei zeitweise zur attischen Demokratie führte – und sei es auch nur als ein temporärer Unfall der Geschichte. Dieselben Turbulenzen von Markt und Moral, privaten Wirtschaftsinteressen (oikos) und Staatsinteressen (polis) motivierten auch die konservativen Philosophien von Platon und Aristoteles, die bis heute unserem geistigen Hausschatz in Europa die Begriffe lieferten. Man kann also sicherlich einiges finden, was die Länder Europas eint. Aber selbst wenn es gelänge, einen gemeinsamen Vorratsschatz zu identifizieren, den Europa der Welt voraushat, wäre ich skeptisch, ob uns das dabei hilft, Lösungen für die heutigen Probleme zu finden. Ich glaube ohnehin, dass Geschichte völlig überschätzt wird. Sie spielt im Alltagsdenken der meisten Menschen keine Rolle. Sie spielt auch dann kaum eine Rolle, wenn über den aktuellen Zustand der EU diskutiert wird.

Interessanterweise soll der französische Unternehmer Jean Monnet, der das Zusammenwachsen der Wirtschaftsunion vorangetrieben hat, einmal gesagt haben: „Wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen.“ Aber selbst, wenn dies Konsens werden würde, wie soll man sich so etwas praktisch vorstellen? Und wie lange würde das dauern? Wie viele Hundert französische Theaterstücke und Filme müsste man in Deutschland anschauen, wie viele Musikgruppen müssten auf Tournee nach Deutschland kommen, wie viele Schulklassen müssten das jeweils andere Land besuchen? Und wir reden bis jetzt nur über Deutschland und Frankreich. Wir reden noch nicht von allen sechs Gründungsländern, geschweige denn von all den Ländern, die heute zur EU gehören. Über Kultur hätte man diese Einigung nicht hinbekommen und das wusste man damals auch.

Und doch nähern sich die Lebensstile in Europa immer mehr an.

Ja, aber das hat nichts mit einem gemeinsamen kulturellen europäischen Erbe zu tun, sondern vielmehr mit der Globalisierung, die sich nicht um die europäischen Kulturen schert. Wenn heute die Italiener zu 95 Prozent dieselbe Musik wie die Deutschen, die Dänen, Niederländer oder die Slowenen hören, dann liegt das daran, dass die großen Musiklabels den globalen Markt beherrschen. Auch die Mode ist so einheitlich wie noch nie zuvor. Aber das ist kein Verdienst einer europäischen Kultur, sondern das Resultat der Konsumgüter-Globalisierung.

Oft hat man das Gefühl, dass die Menschen nichts gegen die EU haben, aber die Sympathien für sie doch stark unter den zahlreichen Regulierungen leiden. Täuscht der Eindruck, dass sich die europäischen Behörden vor allem mit Nebensächlichem beschäftigen?

Richard David Precht, geboren 1964 in Solingen, studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Köln und promovierte 1994 in Germanistik. 2007 erschien sein bisher erfolgreichstes Sachbuch Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?, das bisher über 1,5 Millionen Mal verkauft und in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde. Heute ist er gefragter Redner, Bestsellerautor zahlreicher Bücher. Außerdem moderiert er seit September 2012 die Philosophiesendung Precht im ZDF und begleitet die agora42 seit Anfang 2012 als Mitherausgeber und Beirat.

Es ist in der Tat so, dass viele an die Normierung von Gurken oder Zuckertüten denken, wenn sie das Wort EU hören. Und da ist auch etwas dran. Man hat den Eindruck, dass das Projekt EU eine Gesamtstrategie vermissen lässt. So wurde beispielsweise auf der einen Seite der Euro eingeführt und eine vollständige Liberalisierung des EU-Binnenmarktes geschaffen, auf der anderen Seite hat man aber nicht für Mindeststandards auf den Arbeitsmärkten gesorgt oder an eine Harmonisierung der Finanzsteuersätze gedacht. So ist das Kapital immer in die Länder gegangen, wo man die geringsten Löhne und Steuern bezahlen muss. Diese Situation führte sofort zu einem Unterbietungswettbewerb der Länder beziehungsweise dazu, dass die großen Firmen die Regierungen erpressen konnten. Beides hätte nicht passieren dürfen.

Hätte man mit der Einführung des Euros auch die Finanztransaktionssteuer eingeführt und die Kapitalertragssteuern, die Körperschaftssteuern und die Vermögenssteuern auf europäischer Ebene homogenisiert, wäre es nicht zu einer Krise dieses Ausmaßes gekommen. Aber dafür hätte es zunächst eine klare politische Strategie gebraucht. Stattdessen hat man das gemacht, was das Kapital wollte. In den 90er-Jahren dachte man ja auch, dass erfolgreiche Wirtschaftspolitik automatisch eine gute Politik ist. Dass alles, was der Wirtschaft nutzt, am Ende jedem Menschen nutzt. Das war die politische Dummheit von Siegern nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus im Osten.

Die Politik, von der die Bürger direkt betroffen sind, findet in den Kommunen statt. In den skandinavischen Ländern haben die Kommunen eine viel wichtigere Rolle als in Deutschland. Es zeigt sich, dass die Bürger sich dort politisch stärker einbringen. Muss die Rolle der Kommunen gestärkt werden?

Auf jeden Fall. Im Prinzip müsste man in vielen Bereichen sagen: weniger EU, weniger Bund, weniger Länder, mehr Kommunen. Wenn das nicht passiert, verkommt unsere Gesellschaft zu einer repräsentativen Bürokratie.

Nun gehört Bürokratieabbau nicht zu den Aufgaben, die leicht zu lösen sind. Da durch die EU eine neue Ebene hinzugekommen ist, wäre es doch nur konsequent, dass man eine andere Ebene streicht. Würden sich da nicht die Bundesländer anbieten?

Ich mag die Vorstellung, dass man den Bundesrat auflöst und durch einen Städtetag ersetzt, dass also der Bund seine Entscheidungen mit den Oberbürgermeistern und Landräten abstimmen muss, die diese am Ende größtenteils umzusetzen haben. Das bedeutet aber nicht, dass man deswegen auch die Länder auflösen muss. Meinetwegen kann man die Länder als folkloristische Einheiten bestehen lassen. Von mir aus können sie sich nach wie vor um die Polizei oder die Kirchen kümmern. Aber im Grunde genommen sollten die Abgeordneten des Bundestages sowie der Landtage für alles, was sie machen, die Zustimmung der Kommunen gewinnen müssen.

Wir erleben in den letzten Jahren eine dramatische Zunahme von Anforderungen an ein System, das für eine Welt weit geringerer Komplexität entworfen wurde. Diese Anforderungen sind beispielsweise aus der Globalisierung, ökologischen Entwicklungen und dem höheren Tempo der medialen Berichterstattung erwachsen. Und die Komplexität wird weiter steigen. In einer Zeit, in der sich Situationen so schnell ändern wie heute, in der nur noch Politikertypen wie Angela Merkel Erfolg haben können, die nirgendwo anecken, aber auch keinen echten Standpunkt beziehen, keine Haltung mehr haben, kann es nur einen Ausweg aus dieser Situation geben: Wir müssen auf der einen Seite Europas Exekutive stärken und auf der anderen Seite so viel wie möglich an die Kommunen auslagern. All das wird aber sinnlos sein, wenn es uns nicht gelingt, ganz viele junge Leute miteinzubeziehen, die mit guten Ideen und viel Idealismus daran arbeiten.

Mit anderen Worten: Politik muss attraktiv werden. Der coolste Job überhaupt müsste derjenige des Kommunalpolitikers sein.

Im Augenblick ist das schwer vorstellbar. Im Prinzip aber: ja.

Man hat doch auch aus Cowboys Helden gemacht, was nicht selbstverständlich ist bei Typen, die Kühen hinterherreiten.

Der Bürgermeister einer Kleinstadt als der neue Marlboro-Mann? Warum nicht? Aber um das zu werden, braucht er mehr Weite, mehr Prärie, weniger Zäune. Mit anderen Worten: mehr Gestaltungsspielraum.

Das Gegenteil ist doch aber zu beobachten: Man steckt von früh bis spät im Hamsterrad …

Wie oft hat man Adenauer im Fernsehen gesehen? Wie viele Interviews hat er im Monat so gegeben? Da muss man nicht lange zählen. Transparenz? Bei Adenauer war es dunkel. Was da hinter den Kulissen alles ausgehandelt wurde, das wusste keiner. Aus unserer heutigen Perspektive war das vordemokratisch. Aber mit dem Vorteil, dass die Politiker nicht diesem enormen medialen Druck ausgesetzt waren, dass man tatsächlich noch hochbetagt Bundeskanzler sein konnte. Tatsächlich verbringt ein Politiker 95 Prozent seiner Zeit damit, Ideen zu vermarkten und nicht damit, Ideen zu generieren und diese gegeneinander abzuwägen. Eigentlich bräuchte man nicht einen Kanzler, sondern fünf oder sechs. Die Politiker bräuchten viel mehr Muße, viel mehr Zeit zum Nachdenken – übrigens eine zentrale Forderung schon von Platon und Aristoteles.

Ein Europa der Muße scheint heute aber weniger realistisch denn je. Insofern scheint auch keine realistische Chance auf einen Wandel zu bestehen, der die Grundlage dafür schaffen würde, Europas drängende Probleme in den Griff zu bekommen. Muss man sich also an Che Guevaras Worte halten: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“?

Wenn Verhältnisse, die wir aus guten Gründen in unserer Gesellschaft für „gut“ halten – unsere Demokratie, die Gewaltenteilung, die verfassungsrechtlich garantierte Chancengleichheit, die soziale Absicherung, das Selbstbestimmungsrecht etc. –, die gleichen bleiben sollen, müssen sie sich in ihrem Zuschnitt ändern. Weil nämlich die Welt sich drumherum ändert. Das ist etwas, was viele Menschen nicht verstehen, deshalb haben sie Angst vor großen Veränderungen. Menschen, denen es recht gut geht, befürchten immer, dass Veränderungen die Dinge schlechter machen. Sie suchen deshalb keine Ziele, sondern Gründe gegen Veränderungen. Darin sind wir Weltmeister. Am Ende gibt es dann doch große Veränderungen, die aber nicht wir beschlossen haben, sondern die vor allem der technische Fortschritt schaft. Und dann stehen wir hilfos davor: entfesselte Geheimdienste, unkontrollierter Hochfrequenzhandel an den Börsen, digitale Supermächte ohne Kontrolle. Und wir fragen uns: Warum hat das keiner kommen sehen? Warum gibt es keine vorausschauenden Debatten? Warum kontrolliert das keiner? Der Spruch von Che Guevara könnte heute der Slogan von Google sein. Das darf nicht sein. Wir müssen das „Unmögliche“ wieder in die Politik holen!

Herr Precht, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

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