Gemeinwohl bilanzieren | Interview mit Frank Breinlinger

Die Erde in HändenIllustration: DMBO – Studio für Gestaltung

 

Gemeinwohl bilanzieren

„Ein zukunftsfähiges Wirtschaftssystem, bei dem es in erster Linie um die Menschen und die Umwelt geht“, so das Ziel der Gemeinwohlökonomie. Um den Beitrag von Unternehmen und anderen Organisationen für das Gemeinwohl zu messen, wurde die „Gemeinwohl-Bilanz“ entwickelt. Mittels eines Punktesystems soll festgestellt werden, inwieweit die beteiligten Unternehmen die Werte „Menschenwürde“, „Solidarität & Gerechtigkeit“, „ökologische Nachhaltigkeit“ sowie „Transparenz & Mitentscheidung“ berücksichtigt haben. An der Gemeinwohl-Bilanz sollen Kund*innen ihre Konsumentscheidung und staatliche Stellen ihre Förderung ausrichten – so die Vision.

Breinlinger Ingenieure aus Tuttlingen und Stuttgart sind seit 2019 Gemeinwohl-Unternehmen und Teil einer Peer-Group zur Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz. Das Ingenieur-Büro sucht den langfristigen Erfolg, den es darin sieht, dass seine Mitarbeiter*innen Sinn und Erfüllung in ihrer Arbeit finden und diese als Mitgestaltung einer nachhaltigen Welt begreifen. Die Gemeinwohl-Bilanz soll es dem Unternehmen ermöglichen festzustellen, wo es sich auf diesem Weg befindet und was es tun kann, um weiter voranzukommen.

 

WIR HABEN NACHGEFRAGT BEI FRANK BREINLINGER (GESCHÄFTSFÜHRER):

Breinlinger Ingenieure ist im Hoch- und Tiefbau aktiv – was macht das Ingenieur-Büro zu einem „Gemeinwohl-Unternehmen“?

Die Tätigkeit eines Büros oder eines Unternehmens hat zunächst nichts damit zu tun, ob man mit Blick auf das Gemeinwohl aktiv ist oder nicht. Sicher ist, dass je nach Tätigkeit eines Unternehmens ein größerer oder kleinerer Hebel beim „geschäftlichen Tun“ vorhanden ist, der im Sinne des Gemeinwohls eingesetzt werden kann. Grundsätzlich hat aber jedes Unternehmen wie auch jede Privatperson einen Hebel.

In einem Planungsbüro im Bereich des Bauwesens hat der Blick auf die Gesamtzusammenhänge eine große Bedeutung. Nach Schätzungen werden circa acht Prozent der globalen Treibhausgasemissionen bei der Zementherstellung freigesetzt – das sind 2,8 Milliarden Tonnen jährlich.

Somit sind Entscheidungen bei der Planung – welches Material, welches Bauvolumen, später mögliche Umnutzung etc. – überaus relevant. Die Planungsbeteiligten und Bauherren mit Blick auf die genannten Gedanken zu überzeugen und miteinzubeziehen, machen ein Ingenieurbüro wahrscheinlich zu einem wichtigen „Gemeinwohl-Faktor“.

 

Die Gemeinwohl-Ökonomie steht bei neoliberalen Stimmen im Verdacht, die soziale Marktwirtschaft auszuhebeln – der Planwirtschafts-Wolf im Gemeinwohl-Schafspelz. Wie wirkt sich das Gemeinwohl-Konzept auf die Arbeit Ihres Ingenieur-Büros aus?

Inwieweit dieser Verdacht in unserem Fall gerechtfertigt ist oder nicht, können und wollen wir an dieser Stelle nicht beurteilen. Fakt ist aber, dass jeder „Ressourcen-Räuber“, egal ob global oder lokal, auf lange Sicht auch seine eigenen Lebensbedingungen zerstört, das heißt die Umwelt, in der er selbst lebt. Genau deshalb ist es wichtig, bei der eigenen Arbeit – die in unserem Fall ein kreativer Gestaltungsprozess ist – die richtige Balance zu finden. In unserem Fall das Gleichgewicht zwischen verschiedenen baulichen Anliegen: Was wird wirklich gebraucht? Welches Material ist das nachhaltigste? Wie flexibel kann ich in 50 Jahren umnutzen (statt wieder neu zu bauen und dabei neue Ressourcen aufzubrauchen)? Hierbei kann es durchaus auch sein, dass ein massiver Skelettbau, der über 200 Jahre mehrfach flexibel einer anderen Nutzung zugeführt werden kann, ökologisch „richtiger“ ist als ein „unflexibler“ Holzbau mit einer Lebensdauer von 20 Jahren.

Klar gibt es auch in den Arbeitsabläufen Dinge, die mit Blick auf das Gemeinwohl optimiert werden können und sollen. Beispielsweise kann umweltverträglicheres Papier verwendet oder durch digitales Arbeiten sogar ganz oder teilweise eingespart werden. Und natürlich ist das eigene Glas oder der eigene Porzellanbecher am Wasserspender oder Kaffeeautomaten besser als der bequeme Einmal-Plastikbecher. Alles beginnt im Kopf – die kleinen Dinge bei sich selbst und in unserem Fall die vielleicht größeren Dinge beim Planen und Überzeugen.

 

Ihr Unternehmen hat sich schon vor 2019 darum bemüht, die Mitarbeiter*innenfreundlichkeit und die Nachhaltigkeit zu verbessern – warum bedarf es dann noch einer Gemeinwohl-Bilanz?

Wir sind alle Menschen. Und im beruflichen wie auch im privaten Alltag versuchen wir, mit möglichst geringem Energieaufwand zurechtzukommen. Unser Gehirn ist so programmiert. Wir alle sehen das auch daran, dass wir vorsichtig werden, wenn uns etwas Schlimmes passiert ist. Meist nur eine gewisse Zeit, dann lässt die Vorsicht wieder mehr und mehr nach. Genau deshalb brauchen wir immer wieder die Erinnerung – und diese ist in unserem Fall eben das jährliche Erstellen einer Gemeinwohl-Bilanz.

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Die soziale Verantwortung eines Unternehmens bestehe darin, den Gewinn zu maximieren – so das berühmte Credo Milton Friedmans, einer der Gründerfiguren des Neoliberalismus. Warum reicht das nicht aus?

Jedes Unternehmen muss auf lange Sicht schwarze Zahlen schreiben, sonst kann es nicht existieren und die beschäftigten Mitarbeiter*innen ebenfalls nicht. Wir haben ja bereits über „räuberische Strategien“ gesprochen: Wenn jeder nur nach der Maximierung des eigenen Nutzens strebt, werden wir als Gesellschaft und als Menschen auf unserem Planeten nicht überleben können – die „Räuber“ aber auch nicht. Als die Erde nur einige 100 Millionen Menschen beherbergte und damit quasi leer war, mag das möglich gewesen sein, denn alles war trotz Ressourcen-Ausbeutung im Überfluss vorhanden. Mit acht Milliarden Erdbewohner*innen gilt dies nicht mehr.

Es geht heute deshalb darum, dass wir gemeinsam die Transformation von einer auf immer mehr Wachstum ausgerichteten Gesellschaft in eine Kreislauf-Gesellschaft schaffen. Eigentlich ist es ganz einfach: Auf einem endlichen Planeten, in einem endlichen System, ist kein immerwährendes Wachstum möglich. Das ist Grundschul-Mathematik.

Vielleicht können wir das Credo aber auch wie folgt etwas umformulieren und unsere Welt mit Blick auf die Energie als ein „gemeinsames“ – das ist entscheidend – Unternehmen betrachten. Dann wären wir einen riesigen Schritt weiter.

Ein Bild für die kommenden (zum Beispiel 20) Jahre könnte wie folgt aussehen: Die Sonne strahlt 10.000-mal mehr Energie auf unsere Erde, als wir im Augenblick weltweit benötigen. Wir haben damit keine Energieknappheit, sondern nur ein Ernte- und Verteilungsproblem – gekoppelt mit einem „politischen Einigungsproblem“, das wir aber lösen können, wenn wir uns als „ein Unternehmen“ begreifen. Wenn wir die Energie in den Wüsten unserer Welt einsammeln und verteilen, hätten wir es geschafft – denn (unbegrenzte) Energie für alle ist der Schlüssel. Wir könnten direkt Strom mit Hochvolt-Gleichspannungsleitungen in die heute reiche Welt transportieren und zudem vor Ort in den heute armen Ländern direkt Wasserstoff (aus Meerwasser) oder auf Wasserstoff basierende Kraftstoffe herstellen. Ganz nebenbei würden wir so für arme Regionen Entwicklungsperspektiven schaffen. Wenn wir auf diese Weise einen Energieüberfluss erreicht haben, brauchen wir beispielsweise für unsere Gebäude auch keine Wärmedämmung mehr, denn die ist energetisch aufwendig und später vielleicht nur noch Sondermüll. Zugegeben, das Bild ist visionär, vor allem politisch, aber so fängt Zukunft immer an.

Herr Breinlinger, vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 4/2021 KAPITAL in der Rubrik LAND IN SICHT erschienen.

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