Germany first? Warum der Exportüberschuss den sozialen Zusammenhalt bedroht – Interview mit Herbert Storn

Germany first? Warum der Exportüberschuss den sozialen Zusammenhalt bedroht

Interview mit Herbert Storn

Unter den Schlagworten von Freiheit und Freihandel verfolgt die deutsche Politik vorgeblich die Interessen einer Weltgemeinschaft. Aber es sind die Spielregeln des Freihandels, die Deutschland zum Exportweltmeister küren und alle anderen Nationen in den Schatten stellen. Also doch ‚Germany first‘? Der deutsche Exportüberschuss belastet das Ausland und wird zunehmend kritisiert. Denn mit einer solchen Politik lebt Deutschland auf Kosten anderer Staaten und macht ihnen das Leben schwer. Warum die Strategie ‚Germany first!‘ die Agenda der deutschen Politik bestimmt, mit welcher Verklärung dies erfolgt und welch dramatische Folgen diese Politik auch im Inland hat – bis hin zur Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie – ist Gegenstand des neuen Buchs von Herbert Storn. Wir sprachen mit ihm über den Zustand der Demokratie in Deutschland.

 

Herr Storn, materieller Wohlstand und wirtschaftliche Stärke werden gemeinhin als Grundpfeiler der Demokratie angesehen. Ist es vor diesem Hintergrund nicht begrüßenswert, wenn Deutschland jedes Jahr für sich den Titel des Exportweltmeisters beansprucht?

Zum ersten Satz: Tatsächlich entspricht er vermutlich einer weit verbreiteten Ansicht, was daher rührt, dass politisches Handeln der Volksvertretung in einer Demokratie auf Zustimmung angewiesen ist. Und die ist natürlich leichter zu erlangen bei materiellem Wohlstand der Mehrheit. Andererseits sagen die Begriffe Wohlstand und Stärke nichts darüber aus, wie dieser Wohlstand verteilt ist und ob er zu Lasten anderer oder der Umwelt geht. Mit der wirtschaftlichen Stärke ist es ebenso.

Und beim „Exportweltmeister“ Deutschland geht es ja um den Exportüberschuss, was bedeutet, dass er zu Lasten anderer Länder gehen muss, denn unsere Überschüsse sind die Defizite der anderen, was man auch als „beggar-my-neighbour“ bezeichnet. Und wie das Beispiel Griechenland gezeigt hat, schlagen Defizite sehr schnell in den Ausverkauf der dortigen Wirtschaft um.

Aber die Unterordnung der deutschen Politik unter das Leitprinzip des „Germany first“ geht auch zu Lasten der inländischen Nachfrage und Bedürfnisse und hier insbesondere zur Vernachlässigung der Infrastruktur. Marode Schulbauten, unzureichende Ausstattung mit Lehrmitteln und Personal, Staat und Kommunen, die ihre Aufgaben nicht mehr zureichend erfüllen können, unzureichende soziale Einrichtungen usw. zeigen, dass eine Exportüberschussorientierung auch dazu führt, dass wir im Inland unter unseren Möglichkeiten leben.

Und schließlich bekommt bei der Frage „Alternative Ökologie“ oder „offensive Unterstützung der Exportunternehmen“ meist letzteres den Zuschlag.

Das sind nur angedeutete Beispiele. Tatsächlich hat die einseitige Fokussierung auf unsere Spitzenposition auf dem Weltmarkt noch gravierendere Auswirkungen bis hin zur Gefährdung rechtsstaatlicher Prinzipien (relativ bekannt sind hier die privaten Schiedsgerichte) und des demokratischen Konsenses. Die Forcierung des Konkurrenzprinzips erstickt die dringend notwendige Überwindung der sozialen Spaltung und die Stärkung des Solidarprinzips – sowohl international wie national.

 

Inwieweit sind staatliche Unternehmen demokratiekonformer als private Unternehmen – können doch auch letztere nicht verhindern, dass Fehlinvestitionen getroffen werden (Stichwort Landesbanken in der Finanzkrise) oder dass sie ineffizienter sind als private?

Herbert Storn
Herbert Storn ist Mitglied im Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen.

Staatliche Unternehmen sind nicht automatisch demokratiekonformer oder effizienter als private. Das zeigt schon allein der Tatbestand der Korruption oder korrumpierten Verhaltens (wozu ich auch bestimmte Geschäfte von Landesbanken vor der Finanzkrise rechne).

Aber: Staat und Kommunen können (und sollen!) in ihrer Regie ganz andere Kriterien bei ihrer Tätigkeit anlegen. Die Auseinandersetzungen darüber, welche Arbeitsbedingungen zum Gegenstand von öffentlichen Ausschreibungen gemacht werden, oder die Auseinandersetzungen um PPP („Public-Private-Partnership“) zeigen, dass der Einfluss gewählter Vertreter auf gewünschte Projekte und ihre Transparenz grundsätzlich und rechtlich gegeben sein müssen, damit von demokratischem Einfluss überhaupt gesprochen werden kann. Sobald staatliche Investitionen oder Tätigkeiten privatisiert werden, sind Einwirkungsmöglichkeiten und Transparenz regelmäßig bereits vom Recht her ausgeschlossen.

Allerdings müssen auch Mitsprache und Transparenz beim Staat immer wieder auch durchgesetzt werden.

 

Oft ist die Rede davon, dass wir die großen Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir Entscheidungen gegen die Interessen großer Teile der Bevölkerung durchsetzen (bspw. Plastik verbieten, Flugreisen, Vermögen besteuern). Ist es legitim, die Demokratie durch undemokratische Maßnahmen zu retten?

Viele Widersprüche im sozialen und vor allem ökologischen Bereich sind der Externalisierung von Kosten zugunsten einer möglichst hohen Rendite für private Unternehmen geschuldet. Zwei Beispiele: Wenn es Unternehmen erlaubt wird, zu Lasten der Umwelt Kosten zu sparen, steigt die Rendite, aber anderen werden die Aufräumarbeiten aufgebürdet, die meist teurer sind als sie bei Vermeidung gewesen wären.

Wenn Unternehmen von sozialen Folgekosten der Arbeit entlastet werden, müssen entweder die Betroffenen oder der Staat bzw. die Kommune einspringen. Auch hier gilt, dass Folgekosten in der Regel höher sind als ihre Vermeidung.

Insofern ist die Bandbreite der Möglichkeiten, im Konsens mit der Bevölkerung, also demokratisch Alternativen durchsetzen, beträchtlich. Es ist die Minderheit der zu regulierenden Unternehmen, die mit ihrer übergroßen Lobby die veröffentlichte Meinung prägt und sich mit allen Kräften gegen Regulierung zur Wehr setzt.

 

Was zeichnet für Sie ganz persönlich eine demokratische Gesellschaft aus?

Ganz kurz formuliert: Eine Gesellschaft, in der wichtige Anliegen wie z.B. die Klimakrise, eine gerechte Steuer- und Vermögensverteilung oder Fragen von Krieg und Frieden von Regierungsseite aufgegriffen und einem öffentlichen kritischen Diskurs unterworfen werden. Soziale Ungleichheit, Geld und ökonomische Vormachtstellung dürften sich nicht bevormundend auf den öffentlichen Diskurs auswirken.

Davon sind wir weit entfernt.

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