Karriere? Nein, danke! | Constanze Eich

Ein VogelschwarmFoto: Jonny Gios | Unsplash

 

Karriere? Nein, danke!

Text: Constanze Eich

Die geringe Zahl der Frauen in Spitzenpositionen wird nach wie vor reklamiert, insbesondere in den sogenannten Männerdomänen. Viele Unternehmen bemühen sich heute um Gleichberechtigung bei der Beförderung – und treffen dabei auf ein neues Problem: Immer weniger Arbeitende, egal ob männlich oder weiblich, drängt es in Führungspositionen. Der ursprüngliche Traum einer steilen Karriere vermag die junge Generation nicht wirklich zu begeistern. Was ist hier los?

„Karriere zu machen“ ist eine Formulierung, mit der sich die junge Generation scheinbar nicht mehr identifizieren kann. Das klassische Bild der Leiter, die man Zeit seines Lebens hinaufklettern sollte, um sich irgendwann im Chefsessel wiederzufinden, setzt bei vielen keine echte Leistungsbereitschaft mehr frei. Im Gegenteil. Es wirkt abschreckend und steht für moderne Sklaverei oder für verstaubte Hierarchien. Der Ruf nach mehr Sinn, mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit, mehr Freizeit, mehr Flexibilität, aber auch mehr Gemeinschaft und Teamgeist wird immer lauter.

Viele Unternehmen haben den Ernst der Lage erkannt und eine scheinbar brillante Lösung gefunden: Flache Hierarchien sind das Versprechen an die jungen Bewerber, um den Arbeitsplatz attraktiv zu machen und eine Wohlfühlatmosphäre zu suggerieren. Doch werden diese Versprechen wirklich eingelöst oder sitzen wir alle einem großen Karriereirrtum auf? Denn gerade die Unternehmen, die am lautesten das Modell der flachen Hierarchie propagieren, sind oft der Inbegriff patriarchaler beziehungsweise pyramidaler Organisation.

Freiwillige vor …

Eigentlich ist die Idee der flachen Hierarchie ganz hervorragend, denn sie sollte den unkomplizierten Weg in die verantwortlichen Rollen und damit in die Führung ermöglichen, sei es von Projekten, Abteilungen oder Fachgruppen – ohne die klassischen Machtkämpfe und ohne vorgeschriebene Hierarchiestufen erklimmen zu müssen, bevor man Verantwortung übernehmen darf. Jeder darf, wenn er denn will. Und schließlich greift dann doch wieder ein altes Prinzip: Nur wenige wollen. Einige wenige greifen zielstrebig nach den interessanten Rollen und Positionen im Unternehmen.

Sie machen dann doch wieder Karriere. Und das sind oft genau die Menschen, die das sogenannte Alpha-Gen in sich tragen, die ihre Erfüllung in sozialem Status sehen, die nach Fortschritt und Entwicklung streben, die sich irgendwo „oben“ sehen und somit ihr Berufsleben aktiv in die Hand nehmen. Denn Karrieren passieren nicht einfach. Schon gar nicht in der Gruppe. Man muss sie sich holen, die attraktive Position, man muss um sie kämpfen und zwar als Individuum. Das heißt, es gehört ein bisschen Ehrgeiz dazu. Karriere ohne Wettbewerb scheint nicht möglich zu sein. Karriere ohne Chance auf Aufstieg und Abgrenzung nach unten ebenso wenig.

Und die Bereitschaft zur Führung oder der Wunsch nach Verantwortung stellt sich nicht bei jedem gleichermaßen ein. Im Gegenteil, einige Menschen trauen sich die Führungsverantwortung schlichtweg nicht zu, oft unberechtigterweise. An dieser Stelle darf auch eine Auffälligkeit zwischen den Geschlechtern erwähnt werden: Nach wie vor sind Männer eher als Frauen bereit, sich einer herausfordernden Führungsaufgabe zu stellen, und bewerben sich mit einem größeren Selbstbewusstsein. Frauen zögern oft, weil sie glauben, für die bevorstehende Aufgabe noch nicht gut genug ausgebildet zu sein.

Doch wir brauchen Menschen, die Verantwortung übernehmen! Wir brauchen Menschen, die Lust haben, sich sprichwörtlich in den Wind zu stellen. Wir brauchen Menschen, Frauen wie Männer mit Wettbewerbsgeist und Ehrgeiz. Wir brauchen Frauen und Männer in Führung und Verantwortung. Also: Wie können wir dem Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft und weniger Hierarchie bei gleichzeitiger Begeisterung für mehr Verantwortung Rechnung tragen?

Die V-Formation

Die Lösung könnte einem Phänomen der Natur entlehnt werden; um genau zu sein einem Phänomen, das sich am Himmel oder über dem Wasser beobachten lässt: Vogelschwärmen. Viele Vogelarten wie Stare oder Watvögel fliegen in großen, dichten, Tausenden von Individuen umfassenden Schwärmen. Die Schwarmbildung dient der Nahrungssuche, dem Aufsuchen eines Schlafplatzes und vor allem der Sicherheit. Gemeinsam können all diese Aufgaben besser bewältigt und Angreifer effektiv abgewehrt werden. Besonders interessant sind aber die Flugformationen, die sich beim Vogelzug beobachten lassen; insbesondere beim Vogelzug über dem Wasser. Kleine und mittlere Vogelgruppen wie Gänse und Kraniche fliegen meist in V-Formation nah über der Wasseroberfläche. Die Vögel fliegen versetzt hintereinander, um von der Verringerung des Luftwiderstandes zu profitieren. Somit können längere Strecken bewältigt werden. Das Besondere ist, dass in regelmäßigen Abständen der Leitvogel an der Spitze ausgewechselt wird. So wird die physische Beanspruchung des Leitvogels gleichmäßig auf viele bis alle Mitglieder des Schwarms verteilt.

Was, wenn wir unsere Karrieren an diesem Phänomen ausrichten würden? Stellen wir uns vor, wir würden gleich zu Beginn unserer Berufstätigkeit dieses System des Führungswechsels in unseren Teams erleben. In regelmäßigen Abständen würde also ein anderer die Führung im Team übernehmen, vielleicht projektabhängig, vielleicht in einem halbjährlichen Turnus. Der Vorteil bestünde darin, dass jeder, ob er will oder nicht, ob er sich für geeignet hält oder nicht, die gleiche Herausforderung bewältigen muss. Das hätte zur Folge, dass man in der Führungsaufgabe die Chance bekommt, sich zu erproben. Dass man den Umgang mit Verantwortung für Inhalte, vor allem aber für Menschen und Gemeinschaften erlernt und ein Gespür für die tatsächlichen Anforderungen an ein funktionierendes Team entwickelt. Ebenso bestünde die Möglichkeit, mit dieser Aufgabe auch verborgene Talente zu entdecken. Gelingt die Führung, so wird der Leader mit positivem Feedback belohnt und damit in seinem Tun bestärkt. Misslingt die Führung, so ist die Gemeinschaft gefordert, dem Leader Anhaltspunkte zur Verbesserung seiner Führungsleistung zu geben. Jeder ist angehalten, sich mit der Qualität der Führungsleistung auseinanderzusetzen und zwar nicht nur in Form der Beschwerde. Denn in der nächsten Runde muss man ja womöglich selber in den Wind. Ebenso kann sich der aktuelle Leader an der Performance seiner Vorgänger orientieren, die besten Verhaltensweisen kopieren, sich gegebenenfalls Rat bei ihnen holen. Damit würde sich die Qualität der Führung kontinuierlich verbessern.

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Gerüste statt Leitern!

Mit Sicherheit wird es bei einem solchen rotierenden System immer mehr und weniger gut geeignete Führungspersönlichkeiten geben. Doch im Ergebnis bringen wir die Menschen in Verantwortung, brennen sie aber nicht aus. Wir kommen dem Wunsch nach Aufstieg nach, machen aber den Abstieg wieder salonfähig. Wir bilden Fähigkeiten aus, die der Führungsfertigkeit, aber auch dem Gemeinsinn dienen. Wir fördern Persönlichkeiten und lassen nicht zu, dass immer die gleichen das Ruder übernehmen – zum Beispiel vorzugsweise Männer oder diejenigen, die pfeilschnell nach der Macht greifen, auch wenn sie nicht die richtigen Fähigkeiten dafür mitbringen. Gleichzeitig schaffen wir gute Rahmenbedingungen für Auszeiten, Elternzeiten und Ruhephasen. Eben genau wie in der V-Formation der Zugvögel. Jeder steht mal im Wind, aber eben nicht immer. Und jeder könnte durch diese Erfahrung Rückenwind für neue Aufgaben und Herausforderungen bekommen.

Natürlich kann dieses Prinzip nicht für alle Führungsrollen gelten. Ein permanenter Wechsel an der Unternehmensspitze beispielsweise würde mit Sicherheit für viel Unruhe und Diskontinuität sorgen. Doch was spricht dagegen, in den unteren und mittleren Führungsebenen der Unternehmen oder auch nur in einzelnen Teams dieses Prinzip zu etablieren? Agile Unternehmen machen das in gewisser Weise bereits vor, insbesondere wenn es um Entscheidungsprozesse und das Teilen von Verantwortung geht. Es geht darum, Mitarbeiter zur Selbstständigkeit zu befähigen.

Würden wir nun auch gezielt an der Führungsfähigkeit arbeiten, zum Beispiel durch eine Führungsrotation, würden sich ganz neue Chancen für zukünftige Verantwortungsträger ergeben. Denn wer frühzeitig das Führen gelernt hat, wer keine Angst mehr vor der Verantwortung oder im besten Fall sogar Freude an der Verantwortung gefunden und wer Ermutigung und Coaching durch sein Team erfahren hat, der wird auch den Begriff der Karriere neu denken.

Natürlich würde das für die Unternehmen auch bedeuten, ihre Teams für diese Führungswechsel auszubilden, sie quasi für den Prozess zu befähigen. Doch der Nutzen liegt auf der Hand: mehr potenzielle Verantwortungsträger, höhere Kompetenz in Bezug auf gute Führung, mehr Feedback und Coaching die Führungsaufgabe betreffend. Vielleicht werden dadurch ganz andere Persönlichkeiten in die Unternehmensführung gelangen, Frauen und Männer, die andere Kriterien und andere Systeme befürworten; Frauen und Männer, die aneinander und miteinander gewachsen sind und die schließlich an der Spitze der Unternehmen ein großes Vertrauen genießen, weil man sie gemeinschaftlich dorthin begleitet hat und sie deshalb auch als geeignet für diese Position betrachtet.

Sicherlich werden wir immer noch die Tendenz haben, dass es bestimmte Persönlichkeitstypen, vielleicht sogar immer noch eher männliche als weibliche, in diese Rollen drängt. Doch eines wäre geschafft: Die Karriereleiter wäre durch ein Karriere-Klettergerüst ersetzt worden, das sowohl dem Wunsch nach Gemeinschaft und individueller Entwicklung als auch der Notwendigkeit von Führung und der Übernahme von Verantwortung Rechnung trägt. Ein Klettergerüst, das Lust auf Chancen macht, das bestimmte Fähigkeiten herausformt, das individuelle Lebensphasen und Bedürfnisse berücksichtigt sowie auch den Rücktritt oder gar ein Scheitern inkludiert; das aber im nächsten Schritt zulässt, sich wieder kraftvoll an die Spitze zu stellen, um anderen ein gemeinschaftliches Fliegen im Windschatten zu ermöglichen. ■

Dieser Beitrag ist in Ausgabe 2/2020 FRAUEN*, MÄNNER*, KARRIEREN erschienen.
Constanze Eich
Constanze Eich studierte Allgemeine Rhetorik, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Paris. Sie ist Beraterin für angewandte Rhetorik und strategische Kommunikation, Autorin und Rednerin sowie Gründerin der Unternehmensberatung eich-communications.
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