Dr. Leistung | Die Redaktion

MüllcontainerFoto: Jilbert Ebrahimi | Unsplash

 

Dr. Leistung

Text: Die Redaktion

Dieser Artikel war eine schwere Kopfgeburt. Ich fühle mich jetzt müde und ausgebrannt. Wie greifbar ist das, was dabei herausgekommen ist? Habe ich Bleibendes geschaffen, so wie ein Bauarbeiter, wenn sein Werk vollbracht ist? In jedem Fall sind geistige Qualifikationen in meine Schreibleistung eingeflossen – aber macht sie das automatisch wertvoller als irgendeine andere Leistung?

Roland Kochs Rücktritt vom Amt des hessischen Ministerpräsidenten im letzten Jahr (2010, Anm. d. Red.) kam für viele völlig unerwartet, galt er doch als Vollblutpolitiker par excellence. Aber die Verblüffung war schnell verpufft, als bekannt wurde, was ihm diesen Entschluss erheblich erleichtert haben dürfte: Der Wechsel zum Baukonzern Bilfinger Berger stellte ein Gehalt in Aussicht, von dem Otto Normalpolitiker nur träumen kann.

Was sagt uns das über den Stellenwert der Politik? Erbringt ein Ministerpräsident (und auch eine Bundeskanzlerin) weniger wertvolle Leistung als ein Vorstandsvorsitzender? Gemäß der Logik unseres Leistungsprinzips lautet die Antwort ganz klar ja, denn Leistung wird heute vor allem danach bemessen, inwiefern sie sich auf dem Markt umsetzen lässt. Somit sind den Verdienstmöglichkeiten in der freien Wirtschaft nach oben hin keinerlei Grenzen gesetzt. Und auch nach unten bleibt, wie Deutschland immer wieder demonstriert, noch viel Spielraum. Wer die daraus resultierende Öffnung der Lohnschere als ein Abbild tatsächlicher Leistungsunterschiede darstellen will, dürfte einige Schwierigkeiten haben – es sei denn, man ist ernsthaft der Überzeugung, Kochs Leistung sei Tausend Mal so viel wert wie die des Bauarbeiters, der die Aufträge von Bilfinger Berger realisiert. Den Führungskräften selbst stellt sich der Vergleich mit den Angestellten schon gar nicht mehr. Stattdessen orientiert man sich lieber an millionenschweren Stars aus Hollywood oder dem Profisport – was nahe liegt, schließlich besteht die Rechtfertigung des horrenden Gehalts hier wie dort in der eigenen Einzigartigkeit.

Dieses Streben nach Einzigartigkeit durchzieht indes die gesamte leistungsgetriebene Gesellschaft: Da ein hohes Gehalt mehr denn je Motivation für Anstrengung darstellt, setzt man alles daran, so einzigartig (mit anderen Worten: so wenig austauschbar) wie möglich zu sein. Während die einen dabei auf ihr außergewöhnliches Talent setzen und hoffen, irgendwann fürs Entertainment entdeckt zu werden, versuchen es die anderen auf dem „ordentlichen“ Weg. Doch auch die Akkumulation von Bildungstiteln und zusätzlichen Qualifikationen trägt dazu bei, das Leistungsprinzip endgültig auszuhöhlen. Wie das?

Die verkopfte Gesellschaft

Mit Blick auf die moderne Arbeitswelt zeichnet sich ein Langzeittrend deutlich ab: die Aufwertung der Arbeit „mit dem Kopf“ gegenüber der Arbeit „mit den Händen“. Veranschaulichen lässt sich dies beispielsweise am positiv besetzten Begriff „Kreativität“ (von lateinisch creare = erschaffen, herstellen), der heute in erster Linie solchen Jobs zugeschrieben wird, die virtuelle statt materielle Dinge hervorbringen. Den Bauarbeiter als kreativ zu bezeichnen, klingt für die meisten jedenfalls ziemlich absurd. In Deutschland hat dieser Trend zur Virtualisierung seit 2000 noch an Fahrt gewonnen. Damals verabschiedete die EU die sogenannte Lissabon-Strategie, in welcher das Hauptziel festgeschrieben wurde, die weltweite Führung als wissensbasierte Wirtschaftsregion zu erlangen.

Wenn es gilt, den Wissenschaftsstandort weiter auszubauen und attraktiver zu machen, wird man hierzulande nicht müde, auf die Bedeutung von Bildung und Qualifizierung hinzuweisen. Was darin unbewusst immer mitschwingt, ist die Verdrängung alles Körperlichen – und damit: Existenziellen, Vergänglichen – an den Rand des öffentlichen Bewusstseins. In diesem Sinne werden Tätigkeiten, die sich um physischen Verfall, um Müll, Schmutz und Fäkalien drehen, ganz besonders geringschätzig behandelt. Zwar mag die Gesellschaft existenziell auf deren Ausübung angewiesen sein, mitbekommen möchte man davon aber nach Möglichkeit nichts. Die Personen hinter diesen Tätigkeiten müssen gleich in mehrfacher Hinsicht zurückstecken. Nicht nur, dass sie sich um die unbeliebte Drecksarbeit kümmern müssen, sondern ihnen bleibt auch gesellschaftliches Ansehen und eine hohe Entlohnung vorenthalten. Grundsätzlich gilt, dass diese beiden Faktoren in unserem monetären System eine Symbiose bilden, das heißt Jobs, die ein hohes Ansehen genießen, werden auch tendenziell höher entlohnt und Vielverdiener genießen tendenziell auch ein höheres Ansehen. (Ausnahmen bilden hier soziale Berufe und Pflegeberufe, die zwar allgemein angesehen, aber meist unterbezahlt sind, sowie Manager aus der Finanzbranche, deren Ansehen nicht zuletzt wegen ihres hohen Gehalts schrumpft.) Daraus folgt eine grundlegende Ungleichverteilung: auf der einen Seite die doppelt honorierte Leistung, die zumeist mit nichtkörperlicher, hochqualifizierter Arbeit verbunden ist, auf der anderen Seite die doppelt benachteiligte Leistung mit starker Tendenz zu Körperlichkeit und kürzeren Ausbildungswegen.

Wer nun die Wahl hat, wird eher versuchen, sich auf die Seite der doppelten Absahner zu schlagen, auch wenn das bedeutet, sich auf einen harten Konkurrenzkampf einzulassen. Fachliche Kompetenzen sind für eine erfolgreiche Karriere längst nicht mehr ausreichend; darüber hinaus wird dem Einzelnen ein hohes Maß an Hingabe, Selbstverantwortung, Eigenmotivation und Initiativgeist abverlangt – allesamt Eigenschaften, die man auch als Mechanismen der Selbstausbeutung bezeichnen kann. Nicht selten greifen sie bereits im Kleinkindalter (man denke etwa an das breite Angebot von Vorschulkursen, die eine optimale Vorbereitung auf das Arbeitsleben versprechen), in jedem Fall aber hat man beständig an ihnen zu arbeiten.

Neben diesem gesteigerten äußeren wie inneren Erwartungsdruck bringt die virtualisierte Arbeitswelt noch eine weitere Schwierigkeit mit sich: Wenn das eigene Tun selten etwas Greifbares hervorbringt und es keine andere Beständigkeit gibt als die, alle psychischen Ressourcen anzuzapfen, kann einen irgendwann das Gefühl der Sinnlosigkeit und Erschöpfung überwältigen. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang vom Zustand des „Ausgebrannt-Seins“ (engl.: „burned out“). Mittlerweile ist das Burn-out-Syndrom als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt und befindet sich auf bestem Wege, zur Leitkrankheit des 21. Jahrhunderts zu werden – eben weil es wie keine andere Krankheit unseren verzerrten Leistungsfetischismus widerspiegelt. So finden sich unter den Betroffenen vor allem die Leistungsorientierten, Personen also, die es mit der Selbstausbeutung zu weit getrieben haben.

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Kosmopolitische Fachidioten

Ohne Zweifel könnte jeder von uns zig Beispiele aufzählen, die belegen, dass nicht unbedingt derjenige eine bestimmte berufliche Position innehat, der sich auch tatsächlich am besten dafür eignet. Dieser Umstand ist nur logisch, denn es widerspräche dem vorherrschenden „Leistungs“-prinzip, würde man bei jedem Bewerber individuelle Eignungstests durchführen und dann allein nach Kompetenz auf dem entsprechenden Sachgebiet entscheiden. (Davon abgesehen erscheint der Aufwand zu groß.) Nein, damit sich Fleiß und Anstrengung – wortwörtlich – auszahlen, kann nur ein sauberer Lebenslauf als verlässlicher Maßstab berücksichtigt werden. Dabei kommt zum einen der Automatismus zum Tragen, wonach ein höherer Qualifikationsgrad eine höhere Entlohnung bedeutet; zum anderen gilt das „Knappheitsprinzip“: Wer es schafft, sich selbst (sein Humankapital) dermaßen einzigartig zu machen, dass er/sie nicht so einfach austauschbar ist, hat später die besten Chancen, auf dem Arbeitsmarkt einen guten Preis zu erzielen. Dementsprechend strebt man im Studium eine möglichst strenge Spezialisierung in einem bestimmten Fachgebiet an, ist gleichzeitig aber auch fleißig bemüht, sich möglichst viele verschiedene individuelle Zusatzqualifikationen (wie Auslandspraktika, exotische Hobbys, soziales Engagement etc.) zu verschaffen. Was am Ende dabei herauskommt, ist idealerweise ein kosmopolitischer Fachidiot, der die Messlatte für alle Nachahmer sehr hoch legt.

Angesichts zunehmender Beschäftigungsunsicherheit und globaler Konkurrenz verwundert es wenig, dass allgemein die Überzeugung wächst, ohne Abitur sei man heutzutage so gut wie nichts mehr wert. Die Konsequenz: Immer mehr Kinder und Jugendliche zwängen sich in die gymnasiale Laufbahn, obwohl dies gar nicht ihren Neigungen entspricht und/oder sie hoffnungslos überfordert sind. Dieses Verhaltensmuster setzt sich auch im akademischen Bereich fort, wie die Plagiatsaffäre um prominente Politiker zuletzt eindrucksvoll bewiesen hat. Die gefälschten Dissertationen von Guttenberg und Co. sind aber nicht nur deswegen von Interesse, weil sie die Unverfrorenheit einzelner öffentlicher Personen entlarvt oder den Ruf der Wissenschaft beschädigt haben. Vielmehr kommt in ihnen all das zum Ausdruck, was unser Leistungsprinzip ausmacht, nämlich unbedingtes Aufstiegsstreben, der Zwang, sich selbst und anderen etwas zu beweisen, Opportunismus und überspielter Dilettantismus. War der Doktortitel ursprünglich als Honorierung einer außergewöhnlichen, gesellschaftlich relevanten Leistung gedacht, so wird er heute mehr und mehr als Mittel zum Zweck der individuellen Karriereförderung missbraucht. Ein besonderes Interesse an einem bestimmten Thema, gar der Anspruch, der Wissenschaft neue Impulse zu liefern? – Offenbar entbehrlich, wenn es darum geht, an die prestigeträchtigen zwei Buchstaben zu kommen; die Einhaltung formaler Anforderungen und (systemkonformer) Fleiß reichen dafür völlig aus. Bedenkt man zusätzlich die absurde Regel, dass Betreuer und Bewerter der Doktorarbeit ein- und dieselbe Person darstellen (Stichwort: Objektivität), sind ernsthafte Zweifel am Sinn des Titels angebracht. In seiner derzeitigen Form sorgt das Promotionssystem dafür, dass Personen, die eben nicht zwangsläufig zu den Fähigsten und Engagiertesten gehören, sondern eher zu jenen, die sich am engagiertesten anpassen, eine fragwürdige Vorbildfunktion erfüllen. Somit steht es grundsätzlich zur Disposition.

Trapez statt Pyramide!

Es wäre vielleicht angebracht, die deutsche Gesellschaft einmal für eine Weile im eigenen Dreck versinken zu lassen, damit deutlich wird, dass die sogenannten Leistungsträger nicht zwangsläufig mit Anzugträgern gleichzusetzen sind. Leider ist das Szenario, in welchem alle Müllbeseitiger, Putzkräfte und Kanalarbeiter geschlossen die Arbeit niederlegen, ziemlich unrealistisch, schließlich steht dank des Konkurrenzprinzips immer genug Reserve bereit, die den Job übernehmen würde. Das Wissen um die eigene Austauschbarkeit behindert die Solidarität.

Doch auch ohne Generalstreik liegt eines auf der Hand: Es gibt nur einen einzigen Leistungsträger, und das ist die Gesellschaft. Sie trägt die Gesamtheit aller Einzelleistungen. Anstatt also weiterhin zuzulassen, dass sich einige Fachidioten zur schwindelerregenden Spitze einer Leistungspyramide emporarbeiten, während die breite Masse um ihre Existenz fürchten muss, sollten wir beginnen, über eine Angleichung der Leistungsbewertung nachzudenken. Man stelle sich in diesem Zusammenhang eine einfache, wenn auch zugespitzte Frage: Angenommen, eine Person hat die akademischen Ressourcen bis hin zur Promotion in Anspruch genommen, um dann einen Job auszuüben, der ihr Selbstverwirklichung und Ansehen garantiert – warum sollte diese Person zusätzlich einen überproportional höheren Lohn beziehen als jemand, der im gleichen Zeitraum seinen Körper durch harte, womöglich eintönige Arbeit abgenutzt hat?

Auf kurze Sicht geht es zunächst um die Verringerung von Lohndisparitäten, die nur durch einen starken öffentlichen Sektor zu erreichen ist. Konkrete Maßnahmen bestehen unter anderem in Gehaltsobergrenzen und Mindestlöhnen sowie Arbeitszeitverkürzung und -verteilung. Wer diese Maßnahmen unter ökonomischen Gesichtspunkten für problematisch hält, sei hier lediglich auf die hohen sozialen Kosten hingewiesen, die sich aus burn-out-bedingten Dienstausfällen und Therapien sowie der Nichtförderung sozial benachteiligter Kinder ergeben.

Auf lange Sicht wird kein Weg an einem gesamtgesellschaftlichen Wertewandel vorbeiführen.

Dieser Text ist zuerst in Ausgabe 6/2011 von agora42 erschienen.

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